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1. Kapitel

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Die Nacht mit ihrer einsamen Dunkelheit, mit ihrer leblosen Stille, ist eine wahrhaft unergründliche Welt. Es ist das Wesen der Dunkelheit, das die Nacht für uns so merkwürdig macht.

Gelegentlich empfinden Menschen die Dunkelheit als beschützend. Etwa die Dunkelheit unter der kuscheligen Bettdecke, unter die man sich als Kind verkrochen hat, um sich vor Dämonen und bösen Geistern zu verstecken - all jenen diabolischen Mächten, von denen man annahm, sie lauerten in den mondfahlen Schatten des Zimmers.

Manchmal flößt sie uns Angst ein. Wie die Dunkelheit in einem endlosen Wald, in dem man sich verlaufen hat und umherirrt. Oder die Dunkelheit, die einen gefangen nimmt, wenn die moderne Technik versagt, der Strom ausfällt und einen das Gefühl beschleicht, man sei plötzlich nicht allein im Haus.

Andernorts überfällt uns die Dunkelheit mit ihrer Einsamkeit, mit ihrem nicht wahrzunehmenden Puls, dessen Nullfrequenz der Ewigkeit gehört, dem Tod. Diese einsame, trübselige Dunkelheit lauert einem oftmals auf den öden Straßen draußen auf dem Lande auf. Man sitzt in einem geparkten Wagen, blickt auf die bleiche Sichel des Mondes hinauf und fragt sich, wie es nur passieren konnte, dass das Leben so gewaltig aus dem Ruder läuft.

Ramon Sanchez hockte in seinem Pick-up, der auf einem Parkplatz nahe Santa Fe, an einer verlassenen Straße in New Mexico stand. Die rabenschwarze Nacht mit ihrer leblosen Stille war die perfekte Kulisse für seine trostlosen Gedanken und Gefühle, mit denen er sein Leben an sich vorbei ziehen ließ.

Was verdammt noch mal ist passiert, dass es so weit kommen konnte?

Er war ein achtbarer Mann, ehrenvoll und verlässlich. Und sein Leben lang, knapp sechsundvierzig Jahre, hatte er auch ein achtbares Leben geführt.

Doch ohne Zweifel würden sie ihn jetzt feuern, ihn ohne mit der Wimper zu zucken auf die Straße setzen. Das spürte Ramon mit jedem Gedanken. In seinem Job konnte ihm niemand etwas vormachen, er war ein profunder Sachkenner. Seine Qualifikation als staatlicher Lebensmittelinspektor auf Zuchtfarmen war über die Landesgrenzen hinaus anerkannt. Egal, ob Rind, Schwein oder Geflügel - Ramon galt als die Kompetenz in Person. Leider war die Qualitätskontrolle eine undankbare Aufgabe, die einem eine Menge Feinde einbrachte. Vorausgesetzt, jemand nahm seinen Job so ernst wie Ramon.

Die Angestellten und Firmenchefs, deren Leistung er prüfte, nahmen ihm seinen beurteilenden Blick, seine kritischen Bewertungen, übel. Ramon gestand sich ein, dass er dafür volles Verständnis hatte. Diese Leute erbrachten nur ihre Arbeit, gaben ihr Bestes, um ihre Existenz nicht zu verlieren. Nichts anderes tat er.

Zum Henker noch mal, warum sehen die nicht ein, dass ich auch nur meine Arbeit mache!

Viel schwerer wog jedoch, dass Frank Ortega, Eigentümer der Ortega Rinderzuchtranch samt Schlachthof ihn ebenfalls loswerden wollte. Das spürte Ramon, sobald er mit dem alten Mann ein Wort wechselte oder ihm auch nur gegenüberstand. Der hagere schwarzhaarige Mann pflegte ihn dann mit erhobenem Kopf zu mustern, vom Scheitel bis zur Sohle, ohne dabei auch nur ein Wort zu sagen. Ramon wusste in diesen Augenblicken jedes Mal, dass er jetzt einer gnadenlosen Qualitätskontrolle unterzogen wurde. Und Frank Ortega stellte an seinem Gegenüber genügend Mängel fest, daran bestand nicht der geringste Zweifel.

Und heute setzten ihm auch noch seine Bosse vom Gesundheitsministerium das Messer an den Hals. Dabei wäre doch Lob angebracht. Immerhin schützte er eine Menge Konsumenten vor Gammelfleisch und Lebensmittelvergiftungen, die nicht selten den Tod nach sich zogen - alles streng geheim natürlich und unter vorgehaltener Hand. Er leistete hervorragende Arbeit. Aber das zählte nicht. Sie würden ihn eiskalt in den Innendienst versetzen, zum Aktenträger degradieren oder eben gleich feuern. An diesem Umstand zweifelte Ramon keine Sekunde. Er wusste, wie solche Dinge abliefen: Ein Gespräch zwischen Ortega und dem Bereichsleiter im Ministerium, eine Vereinbarung, eine beachtliche Summe wechselt den Besitzer - streng diskret natürlich - und alles ist wieder im Lot. Bestimmt war er in Santa Fe schon Stadtgespräch ...

Santa Fe hatte ihn nie als einen der ihren aufgenommen. Seit er mit seiner Frau Gloria vor einem Jahr das kleine Haus für die Dauer seines beruflichen Aufenthalts gemietet hatte und eingezogen war, hatten ihn die Einheimischen misstrauisch angesehen, beobachtet und hinter seinem Rücken über ihn geredet. Ramon wusste, dass es genau so lief, obwohl er nicht wirklich sagen konnte, was die feindseligen Blicke seiner Nachbarn tatsächlich bedeuteten. Er war schon mehrmals für kurze Zeit umgezogen. In manchen Städten hatte man ihn freundlich aufgenommen, ihn akzeptiert, anderswo war man ihm kühl gegenübergetreten. Aber so etwas wie in Santa Fe hatte er noch nie erlebt. Hier war er ein Niemand, ein Ungewollter und ein Außenseiter - und das ließen sie ihn bei jeder Gelegenheit deutlich spüren.

Merkwürdigerweise kannte Gloria derartige Probleme nicht. Sie hatte sich vom ersten Tag an eingelebt und heimisch gefühlt. Ihm kam es vor ... ja, ihm kam es vor, als wäre Gloria ein Teil dieser Stadt. Unheimlich. Geradezu, als lebte sie seit ihrer Geburt hier.

Gloria. Die wunderbarste Frau auf Erden.

Ramon fokussierte seine Gedanken auf Gloria. Vom ersten Moment an, als er sie das erste Mal sah, damals vor Jahren am Strand von Miami, war ihm klar gewesen, sie ist die Frau seines Lebens. Das Leben meinte es gut mit ihnen, es fehlte an nichts. Doch in den vergangenen Monaten hatten sie sich auseinandergelebt. Saßen sie sich beim Frühstück gegenüber, senkte Gloria den Blick, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen und wenn er sie berühren wollte, wandte sie sich von ihm ab und er fühlte, dass ihr seine Nähe unangenehm war. Ramon dachte nach, seit wann ihre Gefühle füreinander schon so abgekühlt waren und wie es überhaupt dazu gekommen war.

Plötzlich nahm er die Feuchtigkeit in seinen Augenwinkeln wahr, schmeckte das Salz auf seinen Lippen. Er zwinkerte voller Verwunderung. Seine Gedanken hatten ihn so ergriffen, er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er geweint hatte. Ein Gefühl, eine Gewissheit jedoch, schmerzte ihn schlimmer als alle übrigen Gedanken: Bis vor wenigen Minuten war ihm nicht wirklich bewusst gewesen, wie sehr er Gloria liebte. Sie erfüllte sein Leben mit Sinn, sie war alles - alles.

Verdammter Idiot! Wenn überhaupt, wird es dir nur schwer gelingen, ihre Liebe zurückzugewinnen und sie glücklich zu machen.

Die Klarsicht verlieh ihm unerwartete Energie. Er durfte seinen Job unter keinen Umständen verlieren. Und er musste dafür sorgen, unter den Bürgern von Santa Fe Ansehen zu genießen. Wenn er auf die Menschen in der Stadt positiv zuging, ihnen gegenüber offen und tolerant auftrat, dann würden sie ihn früher oder später akzeptieren und als einen von ihnen ansehen. Davon war er überzeugt.

Ramon blickte in den Nachthimmel und starrte die funkelnden Sterne an. Seit Ewigkeit standen sie da oben, unerschütterlich, jeder ein winziger Teil der universellen Ordnung. Auch er war ein Teil dieser Ordnung. Es lag an ihm selbst, die Dinge zu ändern. Noch war es nicht zu spät. Noch konnte er das Ruder herumreißen.

Die Gedanken beruhigten ihn innerlich, spendeten ihm Hoffnung und Kraft. Ramon lächelte zufrieden, stieg in seinen Pick-up und startete. Röhrend erwachte der Motor zum Leben - und er selbst ebenso. Er schaltete die Scheinwerfer an, die Straße und Bankett vor ihm in kaltes Xenonlicht tauchten. Ein Schlager aus der Floridazeit kam ihm in den Sinn, während er anfuhr: Es gibt, Millionen von Sternen ... Er summte den Text vor sich hin, schwenkte auf die Straße ein und fuhr nach Santa Fe zurück. Zurück zu Gloria.

Zurück in sein Leben.

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