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2. Kapitel
ОглавлениеWas ist denn das?
Schräg vor ihm, am rechten Straßenrand blinkten zwei Lichter. Ramon war noch keine Meile weit gekommen, als er den Dodge am Straßenrand entdeckte. Auf der verlassenen Landstraße wirkte das Pulsieren der Warnblinkleuchten fast gespenstisch. Mit angestrengtem Blick suchte er die Umgebung ab, konnte aber niemanden ausmachen. Der Wagen erschien ihm wie ein herrenloses, gestrandetes Schiff.
Ramon lächelte in sich hinein, als er auf die Bremse trat und rechts ranfuhr.
Das Glück meint es gut mit dir, es schenkt dir die erste Gelegenheit, deinen Mitbürgern zu zeigen, dass du ein guter Kumpel bist.
Er würde nicht einfach vorbei fahren, als gingen ihn die Probleme anderer nichts an. Nein, er würde dem armen Kerl mitten in der Nacht ein Taxi spendieren und ihn nach Hause bringen.
Ramon hielt, stellte den Motor ab und stieg aus.
»Hallo. Ist da jemand? Sind Sie in Ordnung?«
Keine Antwort.
Langsam näherte sich Ramon dem Dodge.
»Hallo?«
Nur mehr wenige Schritte entfernt, öffnete sich die Tür des Wagens und die Innenbeleuchtung erweckte die Umrisse einer jungen Frau zum Leben. Sie stieg aus und winkte ihm freudestrahlend zu.
Angestrahlt von den Scheinwerfern seines Wagens erkannte er die Frau.
Vor ihm stand Rita Cruz, Ortegas Enkelin.
Das Glück ist heute scheinbar doch noch auf meiner Seite, dachte Ramon. Soeben bot sich genau die Chance, die er brauchte.
»Hallo, Miss Cruz«, begrüßte er sie respektvoll. »Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen.« Noch ein Quantum Glück, und sie würde ihrem Großvater von seiner Hilfsbereitschaft erzählen. Natürlich kam das keinem großen Akt gleich, aber es war der erste Schritt, um die Gunst des alten Mannes zu gewinnen. »Hat Sie wohl im Stich gelassen, der gute Dodge?« Das letzte Wort war kaum über seine Lippen gekommen, da zuckte er innerlich zusammen. Er hätte sich die unsinnigen Worte lieber erspart.
»Hi, Mister Sanchez«, sagte Rita und lächelte dabei. Dem erleichterten Klang ihrer Stimme war anzuhören, sie war offenbar froh, ihn zu sehen. Seine überflüssige Äußerung schien ihr entgangen zu sein. »Ja, die alte Kiste bockt mal wieder.«
Ramon verlieh seiner Stimme eine väterlich fürsorgliche Note. »Ich kann gerne mal einen Blick auf den Motor werfen. Vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen ...«
»Nur zu«, lächelte Rita.
»Ich fürchte nur, es wird nicht viel bringen«, seufzte Ramon.
»Wieso?«
»Ehrlich gesagt, ich kann die Lichtmaschine nicht vom Turbo unterscheiden. Was halten Sie davon, wenn ich Sie in die Stadt mitnehme?«
Rita kicherte kurz und nickte. »Gerne.«
Ramon ging zur Beifahrerseite seines Pick-up zurück und öffnete die Tür. »Bitte.«
Geschmeidig und elegant zugleich ließ sich die junge Frau auf den Ledersitz gleiten. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin ... Ich hatte mich schon mit einem nächtlichen Spaziergang in die Stadt abgefunden.«
»Na, dann freut es mich umso mehr, dass ich vorbeigekommen bin und Ihnen diesen langen Marsch ersparen kann.«
»Sie sagen es«, schmunzelte sie, während sie sich auf dem Beifahrersitz bequem einrichtete.
Eine geraume Zeit, Ramon kam es wie eine Ewigkeit vor, fuhren sie Richtung Stadt, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Ramon überlegte seine nächsten Schritte. Seine Gedanken spielten mehrere Möglichkeiten durch, wie er diesen kleinen Akt der Hilfeleistung zu seinem Vorteil ins Licht rücken konnte. Rita starrte durch das Seitenfenster in den Nachthimmel hinaus. Sie schien mit ihren Gedanken irgendwo in weiter Ferne zu sein. Plötzlich wandte sie sich Ramon zu.
»Verzeihung, Mister Sanchez, aber könnten Sie bitte kurz anhalten?«
»Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Ramon beunruhigt. »Fahre ich Ihnen zu schnell?«
»Da!« Sie zeigte auf den Straßenrand. »Bitte halten Sie genau hier!«
Verwirrt setzte Ramon den Blinker, fuhr an den Straßenrand und stoppte. Der Lichtkeil der Scheinwerfer hob eine Formation riesiger Felsbrocken aus der Dunkelheit. Die bizarren Steinblöcke überragten den Pick-up um mehrere Meter. Sie befanden sich in einem schmalen Ausläufer eines hohen Gebirgsstreifens, des Sangre de Caristo Renge. Die Felsformationen durchzogen das weite Gelände und trennten die Stadt vom Umland.
Warum will sie, dass ich hier anhalte?
»Was ist denn, Miss Cruz?«
»In dieser Schlucht mit ihren verwinkelten Felsnischen gibt es etwas, das ich Ihnen unbedingt zeigen muss«, funkelte sie ihn mit einem bezaubernden Lächeln an. Sie rückte ein Stück näher an ihn heran und blickte ihm tief in die Augen. »Sie werden nicht enttäuscht sein«, säuselte sie.
Ramon spürte, wie ihm langsam heiß wurde.
Was um alles in der Welt führt sie da im Schilde?
Ramon betrachtete Rita eingehender. Noch nie hatte er das Alter von Frauen gut schätzen können. Aber älter als fünfundzwanzig war sie auf keinen Fall. Ihr lockiges blondes Haar fiel ihr sanft über die Schultern, und ihr Gesicht war glatt und rein wie das einer Puppe. Rita war eine attraktive junge Frau, verführerisch und beinahe unwiderstehlich. Vielleicht, falls er ihr nicht zu alt wäre ... oder ungebunden ...
Gloria!
Verdammt, was hast du da für Gedanken? Sind wir wirklich schon so weit voneinander entfernt, dass ich die Nähe einer anderen Frau brauche?
Er fühlte die Last von Zwiespalt und Druck auf seiner Brust, als er den Kopf schüttelte. »Miss Cruz«, brachte er stockend hervor. »Ich ... Ich liebe meine Frau.«
Rita Cruz wich ein Stück zurück und sah ihn verstört an. Dann senkte sich ein so trauriger Blick über ihr Gesicht, dass er beinahe Mitleid mit ihr verspürte. Augenblicke später gewann sie ihre Fassung jedoch zurück und lächelte ihn erneut an. »Ganz gewiss tun Sie das«, flüsterte sie. »Ich bitte Sie, Mister Sanchez, Sie schätzen mich vollkommen falsch ein. Was dachten Sie denn, was ich von Ihnen wollte?«
»Ich ...«, begann Ramon, doch seine Kehle war trocken wie Wüstensand, und seine Worte waren nicht mehr, als ein Krächzen. »Ich wollte nicht, dass Sie glauben ...«
Rita ersparte ihm die peinlichen Worte. »Nun denken Sie bitte bloß nicht daran!« Sie legte ihm ihre weiche Hand sanft auf die Schulter. »Ihre Frau ist zu beneiden, Mister Sanchez. Wirklich, das ist sie wahrhaftig. Aber ich dachte an etwas ganz anderes.«
»Was?«
»Es gibt da etwas in diesen bewaldeten Felsschluchten, das müssen Sie unbedingt sehen.«
Ramon bemühte sich erneut, um klare Worte hervorzubringen, doch irgendetwas schien ihm regelrecht die Sprache zu verschlagen. Seine Stimmbänder fühlten sich wie gelähmt an ... Noch nie hatte er ein Gefühl solch völliger Hilflosigkeit ertragen müssen - nein, es war das Gefühl von Hoffnungslosigkeit.
Wieder ein Anfall.
Ramon war machtlos. Seine an Bewegungslosigkeit grenzende Verwirrtheit zwang ihn zum Zusehen. Hilflos hockte er hinter dem Lenkrad und sah, wie Rita die Beifahrertür öffnete und ausstieg.
»Kommen Sie!«, spornte sie ihn an und lief in die Nacht hinein.
Auf keinen Fall jetzt! Das ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt für einen Anfall!
Doch Ramon gab sich keiner Illusion hin. Er wusste nur zu gut, was jetzt geschehen würde. Und keinen Atemzug später krampfte sich sein Körper unter höllischen Schmerzen zusammen. Ein glühend heißer Hitzestoß durchlief ihn von Kopf bis Fuß, als hätte ihm jemand kochendes Wasser eingeflößt. Er schrie auf, doch alles, was sich seiner Kehle entrang, war nicht mehr als ein röchelnder, erstickter Laut. Sein Gesicht verzerrte sich, kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Die Schockwelle zuckte wie ein elektrischer Schlag durch seine Muskeln und Eingeweide. Dann übermannte ihn die Angst, die Todesangst, die schlimmer war als alle Schmerzen.
Ich will nicht sterben! Auch dieses Mal nicht. Bitte! O Gott, lass mich am Leben! Bitte ...
Ramon biss sich auf die Unterlippe. Er konzentrierte sich, raffte all seine Kraft zusammen, sofern ihm dies noch möglich war, und fingerte mit zittriger Hand eine Pillendose aus seiner Jackentasche. Unter großer Anstrengung gelang es ihm, eine der roten Kapseln einzuwerfen und zu schlucken.
Sekunden verstrichen.
Langsam ließen die Schmerzen nach, seine Muskeln entkrampften sich ein wenig. Doch Ramon wusste, der Anfall war noch keinesfalls abgeklungen. Fahrig fischte er zwei weitere bittere Tabletten aus der Kunststoffdose, kippte sie mit zittriger Hand in seinen Mund und zerkaute sie.
Wenn du so weitermachst, Ramon, solltest du bald eine fette Lebensversicherung abschließen, die du deiner Frau hinterlassen kannst.
Ramon hörte Doktor Delaneys Worte so deutlich, als säße der Hausarzt direkt neben ihm. Victor Delaney hatte ihm das Medikament verschrieben, da er der Meinung war, Stress würde die Anfälle auslösen. Ja, Stress konnte Symptome hervorrufen, die einem Herzinfarkt glichen. Aber derart stark und immer häufiger?
Ramon spürte, wie ihn allmählich wohlige Wärme durchströmte. Sein Körper entkrampfte sich, die Atmung wurde regelmäßiger. Der Anfall ließ nach. Ramon entfernte den Sicherheitsgurt, öffnete die Wagentür und stieg aus. Draußen atmete er tief durch, sog die frische Nachtluft in seine Lungen. Angestrengt blickte er in Richtung der Felsformationen, wo Rita Cruz verschwunden war. Doch außer Bäumen, Felsen und der pechschwarzen Nacht konnte er nichts erkennen.
»Rita!«, rief er heiser.
Keine Antwort.