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Aus der Strandperspektive

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Faszinierend wie das Meer ist auch seine Küste.

Rachel Carson (1907 bis 1964)

Viele Menschen begeistern sich für die Berge und verbringen ihren Jahresurlaub in den höheren Mittelgebirgen oder den alpinen Landschaften – gewiss keine schlechte Wahl, denn zugegebenermaßen hat die Natur der Bergwelt ihre unstrittig erlebniswerten Besonderheiten. Festländisches Relief in allen Dimensionen von der kleinen Bodenwelle über moderate Hügel bis hin zu den schroffen Hochgebirgsgipfeln, die bis in die Höhenstufen des ständigen Schnees aufragen, ist aber zumindest zeitweilig Alltagserfahrung und insofern vielleicht doch nicht etwas so ganz Außergewöhnliches. Die Grenzsäume des Meeres – obwohl aus der Festlandperspektive ebenfalls terrestrisch – sind dagegen eine ganz andere und vielleicht sogar grundsätzlich verschiedene Welt. Nur an einem abgrundtiefen Kliff und selbst am seichten Sandstrand erfährt man als landverhaftetes Wesen eine bedenklich stimmende physische Grenze, die ohne beträchtliche technische Mittel nicht so einfach zu überschreiten ist. Das Weltmeer, die Gesamtheit der Ozeane und ihrer Rand- bzw. Nebenmeere, stellen immerhin den weitaus größten Flächenanteil der Erdkugel. Als genuines Landlebewesen, als Dörfler oder Städter, nimmt man diese beeindruckende marine Majorität in der Geosphäre jedoch gewöhnlich kaum wahr.

Diese Grenzerfahrung birgt etwas Elementares und auf jeden Fall Endgültiges. Fließende Übergänge – im wahrsten Sinne des Wortes – gibt es nur an den Mündungen der Flüsse in das Meer, an den Ästuaren. Vermutlich ist die scharfe Grenze ein integraler Bestandteil der besonderen Faszination, die gerade von Küsten und Stränden ausgeht und die Gefühlswelt ihrer Besucher zuverlässig vereinnahmt. Diese besondere Befindlichkeit lässt sich beim Beliebtheitsvergleich der gängigen Urlaubsregionen sogar in vergleichsweise banal anmutende Zahlen fassen: Weitaus mehr Ferien- und Urlaubsreisende wählen als Zielgebiete die Küstenregionen Europas und eben nicht die Gebirgslandschaften – selbst wenn man die notorisch überfüllten und von ihrem Naturerlebniswert eher nachrangigen mediterranen Gestade Italiens und Spaniens gar nicht berücksichtigt.


1.1 Strände findet man gewöhnlich dann am schönsten, wenn man sie ganz alleine erleben kann.

Glaubt man also den Statistiken der Touristikbranche, verbringen die weitaus meisten Menschen ihre Ferien irgendwo am Meer – im Sommer zunehmend an den heimischen, in den kälteren Monaten an den außereuropäischen Küsten. Der Platz am Sandstrand in direkter Sicht- und Hörweite des Meeres hat eben etwas ungemein Beruhigendes und Erholsames – mit seinen unperiodischen Wechseln zwischen Fitnessphasen in den Wellen und kontemplativem Dösen im Strandkorb, auf dem weichen Seesand oder auf der Strandliege.


1.2 Der Rand vom Land und das weite Meer versprechen geradezu elementare Begegnungen und Erlebnisinhalte.

Möglicherweise schleicht sich aber angesichts der etwaigen gleichförmigen Tagesabläufe nach ein paar Tagen doch eine gewisse Monotonie ein und lässt den Wunsch nach etwas mehr Abwechslung aufkeimen. Zudem ist nach Tagen intensivster Betrachtung der Blick vom Strandliegeplatz, vielleicht mit Ausnahme der eventuell recht hübschen Platznachbarin, auch nicht mehr unbedingt so prickelnd wie am ersten Ferientag. Das Ambiente zeigt ansonsten überwiegend nur lineare Strukturen: Der Horizont verläuft erbarmungslos schnurgerade, die hoffentlich nur wenigen Wolkenbänder darüber ruhen ebenfalls in der Waagerechten, und selbst die munter plätschernde Wasserlinie passt sich der allgemeinen Querstreifung äußerst harmonisch an. Also wirklich eine gewisse Monotonie – aber deswegen auch Eintönigkeit oder gar zunehmend unerträgliche Langeweile?

Das Eingangszitat oben lieferte die bedeutende und heute leider etwas in Vergessenheit geratene amerikanische Biologin Rachel Carson (1907 bis 1964), nachzulesen in ihrem schon vor über 50 Jahren geschriebenen und bemerkenswert erfolgreichen Buch The Edge of the Sea, das in viele Sprachen übersetzt wurde. Dieser zunächst vielleicht recht schlicht klingenden Feststellung ist tatsächlich nichts hinzuzufügen. Denn: Der Grenzsaum des Festlandes gegen das Weltmeer, von dem sich gerade oder demnächst ein kleiner (wenn nicht sogar nur minimaler) Ausschnitt direkt vor Ihnen ausbreitet, ist zweifellos einer der aufregendsten, interessantesten und spannendsten Erlebnisräume überhaupt. Weil man diese grandiose wässrige Welt nicht täglich vor Augen hat, erscheint hier vieles außergewöhnlich und großartig. Allerdings bedürfen die hervorhebenswerten Besonderheiten eines Küstenambientes durchaus der aktiven Wahrnehmung. „Man sieht nur, was man weiß“, betonte bereits vor über 200 Jahren der für damalige Verhältnisse ungewöhnlich reiseerfahrene Johann Wolfgang von Goethe. Mit dieser einsichtigen Behauptung hat er zweifellos Recht. Aus heutiger Sicht wäre hinzuzufügen, dass nicht nur relativ abgedrehte Ferienaktivitäten wie Kitesurfen, Parasailing oder Wasserski (mit ihrem intrinsischen Potenzial für fast irreparable Bänderrisse …) eine besondere Herausforderung versprechen, die das Adrenalin in den Adern gleich milligrammweise kreisen lässt, sondern zweifellos auch solche, die zur Erkundung des neuen Umfeldes in seinen besonderen naturkundlichen Facetten verführen.


1.3 Nicht selten überrascht der Spülsaum auch mit seltsamen Fundstücken: Kolonie des Zypressen-Moostierchens.


1.4 Für manche der angespülten Objekte braucht man tatsächlich eine gute Lupe: Tentakelkränze einer Kolonie des Blätter-Moostierchens.


1.5 Herzmuscheln gehören in den Spülsäumen von Nord- und Ostsee zu den häufigsten Leerschalenfunden.


1.6 Auch auf der Landseite eines Sandstrandes zeigen sich – wenn auch selten – betrachtenswerte Arten wie die überaus aparte Schöne Winde (Calystegia pulchra).

Selbstverständlich kann man am Strand einen ultimativen Thriller lesen, im neuesten Beziehungskrisenroman schmökern, ein Nachrichtenmagazin durchblättern (um sich von den meist eher unguten Entwicklungen in Politik und Wirtschaft kräftig die Laune vermiesen zu lassen) oder aber als bedenkenswerte Alternative den Fragen nachgehen, die das unmittelbare Ambiente sozusagen aufdrängt:

► Warum ist das Meerwasser so salzig?

► Was ist der Unterschied zwischen Ebbe und Niedrigwasser?

► Wie entstehen Rippelmarken?

► Was treibt eigentlich die Wellen an?

► Warum ist nasser Sand trittfester als trockener?

► Rauscht das Meer zu Hause im Schneckenhaus immer noch?

Gerade das Kontrasterlebnis des Feriengebiets Meeresküste überrascht schon allein aus der Strandkorb- bzw. Strandliegenperspektive bei genauerem Hinsehen mit mancherlei Unverstandenem und Unerklärtem. Während aller Urlaubstage versorgt Sie die Küstennatur unentwegt mit weiteren neuen Botschaften, Fragen und Überdenkenswertem. Die Revue des Rätselhaften beginnt bereits damit, dass sich Ihre Zehen beim nächsten Strandspaziergang leicht knirschend in den weichen Sand bohren, weil hier unvermutet eine durchaus faszinierende Physik stattfindet. Da wäre auch an das ein wenig gespenstisch erscheinende Meeresleuchten zu denken, das kleine (und manchmal auch größere) Organismen verursachen. Kritische Fragen lösen gewiss auch die Schaumflocken am Strand aus, und seltsam unerklärlich erscheinen möglicherweise sogar die vielen Löcher in den Muschelschalen.


1.7 Zu den wesentlichen Erlebnisinhalten am Strand gehören natürlich die auf diesen Lebensraum spezialisierten Vogelarten wie der Seeregenpfeifer.

Strand und Küste versprechen somit in jedem Fall eine Menge Infotainment. Langeweile kann und sollte sich demnach gar nicht einstellen. Natürlich muss man für die vielen kleinen und zunächst einmal nicht so ganz vordergründigen Impulse aus dem unmittelbaren Umfeld empfänglich sein. Mit diesem Buch in der Hand werden Sie dafür aber garantiert nachhaltig sensibilisiert. Schon nach dem ersten Durchblättern und erst recht nach wenigen Leseproben werden Sie über die ungewöhnlich facettenreiche Natur der marinen Umwelt nur noch staunen. Die weitere Lektüre informiert Sie dann über Fakten und Phänomene aus der belebten und unbelebten maritimen Umwelt so gründlich, dass Sie ab sofort sogar im Kreise anderer See- und Sehleute überaus kompetent mitreden und selbst manche angebotene Wette gewinnen können.


1.8 Auch ohne heftig geräteunterstützte Animation verspricht der Strand eine Menge Infotainment.

Alle Küsten bieten zwischen Düne, Kliff, Strand und Watt absolut faszinierende Natur pur – eine klare und zugegebenermaßen verführerische Einladung zum Entdecken, Erfahren und Erleben. Mit diesem Buch kann man die atlantischen Küstenlandschaften Europas genauer kennenlernen und – was die üblichen Reiseführer meist verschweigen – auch viel Spannendes über die hier beheimatete und sehr besondere Pflanzen- und Tierwelt erfahren.

Und noch etwas: Dieses Buch ist natürlich nicht nur strand- bzw. urlaubstauglich. Es eignet sich auch als Lektüre auf einer einsamen Insel. Selbstverständlich können Sie es auch ganz woanders lesen, beispielsweise in Bus oder Bahn. Aber verpassen Sie bitte nicht Ihre angepeilte Zielhaltestelle, wenn Sie eventuell davon träumen, an einem lauwarmen Sommerabend in tiefer Dunkelheit über einen spiegelglatten Strand zu laufen, um dem geheimnisvollen Meeresleuchten in den schäumenden Wellenkämmen der auflaufenden Brandung zuzusehen.

Die Küste

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