Читать книгу Verschollene Länder - Burkhard Müller - Страница 10
ОглавлениеAls die Bewohner der südlichen Niederlande, die mit den nördlichen durch den Wiener Kongress zwangsvereint worden waren, sich 1830 gegen ihre Regierung erhoben, da wollten sie nur eines: die Holländer los sein. Was sie sonst noch wollten, blieb höchst unklar; selbst um auch bloß einen Namen für den neuen abgespaltenen Staat zu finden, der nicht an die niederländische Gemeinschaft erinnerte, musste man einen tiefen Griff in die Geschichte tun: Belgien sollte er heißen, nach der römischen Provinz Belgica 1800 Jahre zuvor.
Belgien schloss zwei ganz verschiedene Völkerschaften ein. Die Flamen im Norden, die Niederländisch sprachen, fühlten sich den französischsprachigen Wallonen im Süden gegenüber benachteiligt. Der Norden war landwirtschaftlich orientiert, konservativ, ärmer, und bis zum Ende des Jahrhunderts war Flämisch nicht einmal offizielle Landessprache.
Das gedachte die deutsche Besatzungsmacht auszunutzen, die zweimal, in beiden Weltkriegen, das neutrale Belgien überrannte. Im Ersten Weltkrieg sorgte sie für die Gründung einer flämischen Universität, im Zweiten appellierte sie an die rassische Solidarität der Germanen, zu denen die Flamen schließlich auch gehörten.
Eine »Freiwillige Legion Flandern« wurde aufgestellt, die man jedoch sicherheitshalber nur im Osten kämpfen ließ, wo die Versuchung, zum Feind überzulaufen, geringer schien. Die Briefmarke der Feldpost »voor onze jongens an het oost front« ist ein propagandistisches Juwel. Es kämpft das Gute schlechthin gegen das Böse schlechthin. Die bildliche Tradition ist die des Engelsturzes, nur dass der Erzengel Michael vor dem Wolkenhimmel um seine Flügel und den Schild mit der Aufschrift »Wer ist wie Gott« verkürzt wurde; umso wuchtiger kann er das Schwert mit beiden Händen schwingen und den Satan vor die Brust treten. Dieser lässt sich, im Gegensatz zum zeitlosen Minikleid der germanischen Lichtgestalt, an seinem zeitgenössischen Kostüm, besonders der spitzen Mütze, ohne weiteres als Angehöriger der Roten Armee identifizieren. Mit einer Hand scheint er um Gnade zu flehen; aber mit der anderen hält er noch die Waffe gefasst (unklar, was für eine: Wäre es ein Schwert, käme ein lächerlicher Kontrast zur Uniform heraus; wäre es aber ein Gewehr, wie hat er diesen Kampf verlieren können?). Pardon braucht ihm also nicht gewährt zu werden.
Aneinander gerieten Flamen und Wallonen erst, als der Krieg vorüber war. Nun standen sich nämlich die Regierung, die ins englische Exil gegangen, und König Leopold, der in der Hand der Deutschen geblieben und von ihnen bei ihrem Abzug mit nach Österreich genommen worden war, feindlich gegenüber. Die Flamen ergriffen überwiegend Partei für den König, die sozialistisch und liberal gesinnten Wallonen aber wollten ihn nicht mehr haben. Ein Bürgerkrieg wurde nur vermieden, indem Leopold weise zurücktrat und Platz für seinen Sohn Baudouin machte – den einzigen wirklichen Belgier, wie er anerkennend genannt wurde, denn von ihm allein ließ sich unmöglich sagen, ob er Wallone oder Flame war. Er hat Belgien lange vor der Spaltung bewahrt, die ihm heute möglicherweise bevorsteht.