Читать книгу Verschollene Länder - Burkhard Müller - Страница 16

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Preisfrage: Für wen ist es nützlich, wenn ein Volk das Lesen und Schreiben lernt? Für das Volk? Wir sehen es links: Der Vater, die einfache Hacke des afrikanischen Bauern geschultert, legt zögernd den Finger an die Nase; bereitwilliger scheint die Mutter, die zwar ihre nackte Brust noch unbefangen wie in alten Zeiten dem Lehrer darbietet, aber bereits nicht mehr dem Betrachter der Briefmarke; und gar nicht zu bremsen ist das kleine Kind, das nach Tafel und Kreide geradezu giert – nach seiner Zukunft scheint es zu greifen.

Oder für den Lehrer? Ihm hat es schon etwas eingebracht, europäische Kleidung jedenfalls, und das heißt wohl auch: ein bisschen Wohlstand.

Auf alle Fälle aber dem Staat, der diese Briefmarke zum Welttag der Alphabetisierung herausgibt, eine stolz selbst entworfene und nicht einen der üblichen in Paris gedruckten Stahlstiche. Mehr als die anderen Staaten, die Frankreich 1960 in Scharen aus der Kolonialherrschaft in die Unabhängigkeit entlassen hatte, musste Obervolta, das rückständigste, weil einzig küstenlose Land Westafrikas, darum ringen, ein Staat erst überhaupt zu werden. Stämme funktionieren auch, wenn keiner in ihnen lesen kann; Staaten nicht. Und in Obervolta konnten sehr wenige Leute lesen – noch in den 1970er Jahren besuchten nur zehn Prozent der Kinder eine Schule. 95 Prozent der arbeitenden Bevölkerung waren in der Landwirtschaft beschäftigt, und es gab im ganzen Land exakt 68 Ärzte, einen auf 74.000 Einwohner: niederschmetternde Strukturdaten.

Wenn man eine Geschichte Westafrikas liest, so erscheint Obervolta darin so gut wie überhaupt nicht, es nimmt weniger Platz ein als selbst das winzige Gambia und das verschlafene Portugiesisch-Guinea. Irgendwann in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gerät es, wie das ganze Umland eben auch, in die Hände der Franzosen. Die Schlachten gegen die einheimischen muslimischen Reichsgründer, der koloniale Wettlauf der europäischen Mächte um die Rohstoffe, die große imperialistische Ausbeutung finden woanders statt. Selbst der Name scheint wie eine einfallslose Fußnote: Obervolta. Er leitet sich ab von den drei wichtigsten Flüssen des Landes, dem Schwarzen, dem Weißen und dem Roten Volta, die weiter im Süden, in der Goldküste, zu einem einzigen zusammenfließen, ein Stromsystem von der Größe etwa des Rheins. Aber diese Flüsse sind keine Lebensadern: Nicht schiffbar, von Hochwasser, Schlafkrankheit und Flussblindheit bedroht, bleiben ihre Täler auf eine Breite von fünf bis zehn Kilometern unbesiedelt. Es knüpft sich keine Hoffnung daran.

So bedeutete es einen forcierten Akt des Willens zur Nation, als sich das Land im Jahr 1980, nach dem Putsch des ehrgeizigen jungen Offiziers Thomas Sankara, in Burkina Faso umbenannte, was mit »Land der Unbestechlichen« wiedergegeben wird. Das mag vage und hochgestochen klingen; aber es äußert sich darin unverkennbar, anstatt einer bloßen geografischen Bezeichnung, eine politische Absicht. Die Frage bleibt: Was haben die drei links im Bilde davon? Bis heute nicht viel; Burkina Faso zählt nach wie vor zu den ärmsten Staaten der Erde.

Verschollene Länder

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