Читать книгу Verschollene Länder - Burkhard Müller - Страница 17
ОглавлениеEins, zwei, drei, ich zähl’ herum –/Der Louis ist Napolium!« So spielen die grausamen Kinder bei Wilhelm Busch. Natürlich will keiner Napolium sein, denn der war im Preußisch-Französischen Krieg entsetzlich vermöbelt worden und wird es folglich auch hier.
Am 2. September 1870 war es den preußischen Truppen gelungen, Napoleon III., Kaiser von Frankreich, in der Schlacht von Sedan gefangen zu nehmen; nur zwei Tage später endete sein Reich. Der Sedanstag blieb, bei meist herrlichem Wetter, der Nationalfeiertag des Zweiten Deutschen Kaiserreichs, das sich dank dieses Krieges gegründet hatte. Dass es darüber das Zweite Französische Kaiserreich zugrunde richtete, schien ihm nicht von übler Vorbedeutung für sein eigenes Schicksal.
Die Franzosen ehren ihren Staat durch Revolutionen. Sie zählen ihre Republiken so respektvoll durch wie ihre Monarchen; die Erste, Zweite, Dritte, Vierte, Fünfte Republik gilt ihnen so viel wie Ludwig der XIII., XIV., XV., VI. und VIII. Bei Kaiserreichen brachten sie es indes nur auf zwei. Wie kam es aber dann, dass auf Napoleon I., den Herrscher Europas, Napoleon III. folgte? Ach, es war eine dynastische Schmach wie die Lücke zwischen dem 16. und dem 18. Ludwig. Ein Ungekrönter, Misshandelter lag hier vor und schrie nach postumer Genugtuung. Erst Napoleon III. vermochte das Werk seines Ahnen (genau genommen bloß seines Onkels) fortzuführen.
Louis-Napoleon Bonaparte war im Herzen ein Abenteurer. Auch sein Onkel war natürlich einer gewesen; aber der kam ruhmvoll früh ans Ziel und musste nicht bis ins fortgeschrittene Alter so viele schmähliche Aufschübe ertragen. Seine Jugend verbrachte er in verschiedenen Orten des Exils, unter anderem in Augsburg, wo er Deutsch so gut lernte, dass ihm die Franzosen später nicht mehr abnahmen, er sei ganz einer der Ihren. Auch in Italien, in den Verschwörerkreisen der schlapphuttragenden Carbonari, war er zugange. Im Jahr 1836 gedachte er es dem Onkel nachzumachen, der anno 1815 siegreich (wenn auch kurz) aus dem Exil zurückgekehrt war, überquerte die deutsche Grenze und unternahm in Straßburg einen Putsch. Er wurde verhaftet; entfloh ins Schweizer Exil; ein Krieg zwischen der Schweiz und Frankreich wurde knapp vermieden. Von England aus, wo er am längsten blieb, versuchte er es noch einmal. Mit 50 Getreuen landete er in Boulogne in der Absicht, Frankreich zu bezwingen. Diesmal wurde er zu ewiger Festungshaft verurteilt.
Von der saß er, ungewöhnlich für sein quecksilbriges Temperament, wirklich sechs Jahre ab. Dann brach er, weil er Morgenluft witterte, aus dem Gefängnis aus, indem er seine Kleider mit einem Bauarbeiter tauschte, und entkam. In Frankreich begann gerade die Revolution von 1848; er wurde ins neue Parlament entsandt. Bei der anstehenden Präsidentenwahl gewann er, weil den vielen sonst ungebildeten Bauern der Provinz der Name »Napoleon Bonaparte« noch etwas sagte. So wurde er zum Oberhaupt der Zweiten Republik, einer der kurzlebigeren.
Das Ende bereitete er ihr selbst. Da er nicht verfassungsgemäß wiedergewählt werden konnte, zog er es vor, einen Staatsstreich zu begehen, und rief sich ein Jahr später, 1852, zum neuen Kaiser aus. Auf den Briefmarken ließ er sich abbilden wie ein römischer Imperator auf seinen Münzen. Der kombinierte Schnurr- und Kinnbart ist seine höchstpersönliche Zutat, sein Markenzeichen. Er war, soweit man überhaupt Kaiser gelten lässt, kein schlechter. Um König zu werden, reicht die Geburt; Kaiser müssen immer etwas beweisen. Unter Napoleon III. gewann Frankreich seine alte Stellung in Europa zurück, er brachte die industrielle Revolution in Gang und verschaffte Frankreich den Rang der zweitgrößten Ökonomie der Welt (nach Großbritannien), er half die Einheit Italiens herbeizuführen. Andere Ausgriffe missrieten. Belgien kriegte er nicht, dafür sorgte Bismarck. In Mexiko wurde sein Kandidat für das wieder errichtete mexikanische Kaiserreich, Erzherzog Maximilian, standrechtlich erschossen. Zweite Kaiserreiche bringen einander kein Glück.