Читать книгу Verschollene Länder - Burkhard Müller - Страница 13
ОглавлениеEs ist schon spät in der Nacht. Sandokan, der malaiische Piratenkönig, sitzt inmitten seiner Schätze in Gesellschaft seines Freundes Yanez und brütet dumpf vor sich hin.
»›Gibt es einen Gedanken, der dich quält?‹, begann Yanez von Neuem. ›Bald könnte man glauben, du grämst dich, weil dich die Engländer so hassen.‹
Wieder schwieg der Pirat.
Der Portugiese stand auf, zündete sich eine Zigarette an, ging zu einer Tür hinüber, die von der Wandverkleidung verdeckt wurde, und sagte:
›Gute Nacht, mein Bruder.‹
Bei diesen Worten fuhr Sandokan auf. Er hielt den Portugiesen zurück und sagte:
›Auf ein Wort, Yanez.‹
›Sprich nur.‹
›Weißt du, dass ich nach Labuan segeln will?‹
›Du! … Nach Labuan!‹«
Das ist Irrsinn, wie sie alle beide wissen. Denn auf Labuan, wenige Kilometer vor der Küste von Nordborneo gelegen, unterhalten die Briten eine starke Garnison. Schon seit 1846 sitzen sie hier; in diesem Jahr hatten sie den Sultan von Brunei besiegt und ihn gezwungen, die bislang unbesiedelte Insel abzutreten. Sie schien ihnen der ideale Posten, um von dort aus die Seeräuberei im Südchinesischen Meer zu bekämpfen. Sich dorthin aufzumachen, heißt für Sandokan, sich in die Höhle des Löwen zu wagen.
Aber hier lebt die wunderschöne blonde Marianna, genannt »die Perle von Labuan«. Ein einziges Mal nur hat Sandokan sie erblicken dürfen; doch so, dass es sich ihm eingebrannt hat für immer. Ein böser Onkel hält sie in der Festung wie eine Gefangene; und es ist klar, da wird der Pirat sie herausholen, koste es, was es wolle!
»Sandokan war vorgesprungen, mit wutverzerrten Lippen, wild funkelnden Augen, die Hände krampfhaft geschlossen, so als hielten sie eine Waffe umklammert. Es war jedoch nur ein kurzes Aufblitzen. Er setzte sich an den Tisch, leerte in einem einzigen Zug ein noch gefülltes Glas und sagte mit vollkommen ruhiger Stimme:
›Du hast recht, Yanez. Und dennoch werde ich nach Labuan gehen. Eine unwiderstehliche Macht treibt mich an diese Gestade und eine Stimme flüstert mir zu, dass ich dieses Mädchen mit dem goldenen Haar sehen muss, dass ich … ‹
›Sandokan! … ‹
›Still, mein Bruder. Lass uns schlafen gehen.‹«
Der »Tiger von Mompracem«, wie sich Sandokan auch nennen lässt (und wie auch der Titel des Romans lautet, während die deutsche Fernsehverfilmung, mit Lex Barker und Senta Berger, es bei »Sandokan« bewenden ließ), wird schließlich alle Hindernisse überwinden und mit Marianna entfliehen; aber es wird ihn und seine britischen Todfeinde Hunderte von Toten kosten – nicht zu viel für eine gute Oper, wie der Autor Emilio Salgari, Italiens Gegenstück zum deutschen Karl May, sich wohl gesagt hat.
Labuan war zunächst eine eigenständige Kronkolonie und wurde seit 1890 von der British North Borneo Chartered Company verwaltet. (Man achte beim abgebildeten Exemplar darauf, dass es, ungewöhnlich für das Zeitalter des Kolonialismus, auch chinesisch und arabisch beschriftet ist.) Es gehört heute zu Malaysia und genießt seit 1984 den Status eines Bundesterritoriums.
Labuan hat heute 100.000 Einwohner und ist ein bedeutendes internationales Finanzzentrum geworden, spezialisiert auf schariaverträgliche islamische Finanzstrukturen und wealth management. Ungefähr gleich weit von Singapur, Manila und Hongkong entfernt, zieht es den Luxustourismus an und empfiehlt sich für Hochseefischen, Wracktauchen und Golf. Mit Sandokans Dschungelparadies dürfte es nicht mehr viel Ähnlichkeit haben.