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Vorwort

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Die politische Geographie des Erdballs ist komplett. Kein Flecken Land, der nicht unter die Souveränität eines der 196 Staaten fiele, die es im Jahr 2013 gibt und die sich sämtlich eingerichtet haben, als müssten sie bis in alle Ewigkeit dauern. Nur ungern lassen sie sich daran erinnern, dass es nichts Fragileres gibt als Grenzen. Alle Grenzen, die älter sind als die ihrigen und andere Rechtsgebilde einschlossen als sie selbst, sind ihnen darum nicht einfach nur vergangen; sie sind hinabgedrückt und überdeckt worden, wie die Grundmauern römischer Villen, über die jahrhundertelang der Pflug gegangen ist, als gäbe es sie nicht, und die sich nur dem Blick aus luftiger Höhe verraten. Geht man nur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, nicht weiter also als bis zu einer Zeit, in der die letzten weißen Flecken der Weltkarte verschwinden und Rohstoffmärkte, Eisenbahnen und Telegrafen für den modernen innigen Zusammenhang aller Weltteile sorgen, so zeigt sich doch, dass seither weit mehr Länder untergegangen sind als sich haben erhalten können – dreimal, vielleicht sogar fünfmal so viel.

Große Reiche sind darunter, wie die Sowjetunion und das Reich der Osmanen, winzige Splitter wie Tanger und Batum; altehrwürdige, die schließlich zu Grabe getragen werden, wie Österreich-Ungarn, und Eintagsfliegen wie die Republik Hatay; historische Landschaften, die für kurze Zeit ins Licht der Eigenständigkeit treten wie Ingermanland oder die Inseln unter dem Winde, und kurzlebige Kunstgebilde wie das Kaiserreich Mexiko oder das Kaiserreich Mandschukuo (überhaupt pflegen Kaiserreiche die unsichersten Konstruktionen zu sein); wohlbekannte wie die Tschechoslowakei und solche, von denen Sie höchstwahrscheinlich noch nie etwas gehört haben, wie Occussi Ambeno oder Elobey, Annobón und Corisco; vernichtete Staaten, befreite Kolonien, Besatzungsgebiete, abtrünnige Provinzen, Schwindelprojekte, heikle Zwischenzonen und Kompromissbildungen jeder Art.

Eines aber haben alle diese Länder gemeinsam: Sie beglaubigen sich durch ihre Briefmarken. Ihre Armeen zerstoben, ihre Politiker versauerten im Exil, für eine eigene Architektur haben oftmals Zeit und Mittel nicht gelangt. Immer aber haben sie, und wenn sie nur drei Tage währten und drei ratlose Funktionäre zu ihrer Verfügung hatten, den Weg an einen Druckstock gefunden, der ihnen die kleinen gezähnten Zettel auswarf.

Diese kleinen gezähnten Zettel! Beweglicher sind sie als ein Gesandter, luftiger als eine Fahne, einprägsamer als eine Hymne, beredter als ein Kanonenboot. Und dauerhafter als all diese miteinander. Ermöglichung des Briefverkehrs ist ihr Vorwand, wie Tanz der Vorwand der Liebe. Wie kleine Flaggen prangen sie, Abzeichen der Hoheit – denn nur staatliche Hoheit darf sich unterstehen, Briefmarken zu edieren (und wo eine nicht hoheitliche Stelle sich dessen untersteht, da rümpft der »Michel-Katalog«, die Bibel der Sammler, die Nase und spricht von »privater Mache«). Doch sie verraten mehr als Flaggen. Flaggen sind im Grunde langweilig, sie tragen einen Anspruch, aber keinen Ausdruck vor sich her; sie sind Zeichen, aber kein Gesicht.

Briefmarken hingegen, obwohl viel heraldischer Geist in ihren Entwurf eingeht, machen sich los von dieser Starrheit. Und seien sie noch so unbedeutend in ihren Abmessungen, und mag der Londoner Stahlstich sie noch so auf die steife Oberlippe verpflichten, der finster-schwammige Offsetdruck des Stalinismus aufs Kollektiv und die Unzulänglichkeit der heimischen Printtechnik aufs unüberwindlich Lokale: Sie bleiben leibhaftige Bilder. In ihnen gibt ein Land ahnungslos seine Physiognomie preis, sie sind Plappermäuler der Souveränität, die mehr erzählen, als ihrem Auftraggeber lieb ist.

Mit beileibe nicht allen dieser untergegangenen Gebiete hat es ein gutes Ende genommen. Keines wurde ganz freiwillig aufgegeben, und in den Briefmarken mancher von ihnen tritt, kaum verhüllt, der Schrecken der Geschichte hervor. Aber er ist ausgestanden, es ist vorbei mit ihnen. O würde sich nur alles, was die Geschichte hinterlassen hat, so in Wohlgefallen auflösen wie diese kleinen Bilder, die nun verlassen herumliegen wie die Karten eines Spiels, an dessen Regeln sich keiner mehr erinnert!

Die »Verschollenen Länder« verdanken ihre Existenz zwei Serien von Zeitungskolumnen, die in der »Berliner Zeitung« und in der »Süddeutschen Zeitung« abgedruckt worden sind. Ein Vorläufer dieses Buchs ist mit dem gleichen Titel vor 15 Jahren schon einmal erschienen. Unter den 60 Einträgen der vorliegenden Ausgabe wurden 20 aus dem früheren Buch übernommen, 40 aber sind ganz neu, sodass auch, wer noch das alte kennt, hoffentlich genügend Neues findet.

Ich möchte an dieser Stelle allen jenen danken, die mir geholfen haben. Zwei große Philatelisten, Niels Petersen in Chemnitz und mein Bruder Uli, haben mich an ihren so eigenwilligen wie universalen Sammlungen teilhaben lassen; sie haben mir das Wichtigste geschenkt, die Bilder der Briefmarken selbst. Eske Bockelmann hat sie für mich eingescannt. Und meine Lektorin Anne Hamilton hat, wie schon so manches frühere Buch, auch dieses mit geduldiger Ermunterung, Urteilskraft und Humor auf den Weg gebracht. Auch an meinen Großvater denke ich zurück, der meinen Geschwistern und mir vor fast einem halben Jahrhundert, als wir noch Kinder waren, für diese bunten Schätze die Augen geöffnet hat.

Verschollene Länder

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