Читать книгу Greifswalder Gespenster - Burkhard Wetekam - Страница 10

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Eine Gruppe Spaziergänger, drei Jugendliche mit Fahrrädern, eine Mutter und zwei Kinder im Grundschulalter – sie alle standen am hoheitlichen Flatterband und starrten einen Hang hinunter auf die von Bäumen bestandene Niederung. Zwischen den Büschen hindurch waren im Dämmerlicht des beginnenden Abends die Umrisse eines Körpers zu erkennen, ein korpulenter Mann im durchnässten Mantel, auf dem Bauch liegend. Einen halben Meter neben dem Toten plätscherte der Bach, als wäre nichts geschehen. Oder als wäre das, was geschehen war, im Lauf der Dinge nicht von Bedeutung.

»Seid ihr denn bescheuert!?«, rief Sylke den beiden Beamten zu, die zuerst am Fundort angekommen waren und sich um die Absperrung gekümmert hatten. »Sollen die Kinder wirklich direkt auf den Toten starren?«

Die beiden Uniformierten beeilten sich, die Schaulustigen wegzuscheuchen, und versetzten die Absperrung zwanzig Meter hangaufwärts. Sylke wusste, dass ihr Auftreten mitunter als barsch empfunden wurde, aber sie hatte kein Problem damit. Es war ihr wichtig, gleich im ersten Moment zu zeigen, dass sie von allen die volle Leistung erwartete. Philipp und Lisa, die beiden jungen Kriminalbeamten, sahen sich schuldbewusst an. Die Sache mit der Absperrung hätte ihnen ja auch auffallen können. Gemeinsam stiegen die beiden die feuchte Wiese hinab und beugten sich für eine erste Sichtung über den Toten. Lisa deutete auf eine Stelle am Hinterkopf, während Philipp vorsichtig den Mantelkragen anhob, um das Gesicht erkennen zu können.

Mit Unbehagen sah Sylke den beiden von etwas weiter oberhalb zu. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich in einer miserablen Stimmung war. Der erste kleine Fehler – und schon traute sie den beiden nicht zu, diesen Fall zu lösen. Oder war sie nur enttäuscht, dass sie selbst morgen wieder abreisen würde, um ihren Dienst in Stralsund aufzunehmen?

Vom nächsten Dorf näherte sich ein betagtes Feuerwehrauto. Es wurde höchste Zeit, sie brauchten Licht, bevor es ganz dunkel wurde. Wenigstens das klappte.

Sie atmete tief ein. Die Luft war klar und frisch, gar nicht so nebelschwer wie in Greifswald. Als sie gerade den Hang hinabsteigen wollte, um sich ebenfalls ein Bild von der Situation zu machen, bemerkte sie etwas weiter bachaufwärts eine Bewegung. Sie suchte nach einem Durchlass im dichten Gebüsch, rutschte dabei aus und glitt auf dem Hosenboden zwei Meter abwärts. Fluchend schlug sie sich durch einen widerspenstigen Strauch und stand vor einem Mann, der sich an einem Stapel aus Ästen zu schaffen machte.

»Hey, was machen Sie denn hier!?«

Der Mann drehte sich um. Er war etwa fünfzig Jahre alt, untersetzt und steckte in einem olivgrünen Parka, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er hatte ein rundliches Gesicht mit hängenden Wangen und kleinen, munteren Augen. An seiner Stirn klebten Strähnen seines dünnen Haars. Besonders intelligent sah er nicht aus.

»Ich repariere den Damm.«

»Hier ist möglicherweise ein Verbrechen passiert. Sie werden hier auf der Stelle verschwinden!«

Wieder dieser grobe Tonfall. Dieses Riesenbaby machte sie wirklich sprachlos. Hatte der denn gar nichts mitbekommen?

»Ich bin hier Naturschutzwart. Es ist mein Recht, den Biberdamm zu reparieren.«

»Sie haben im Augenblick überhaupt kein Recht. Zu gar nichts.«

Der Dicke sah sie erstaunt an. »Verdächtigen Sie etwa die Biber?«

Sylke war nicht klar, ob der Mann begriffsstutzig war oder über einen besonders merkwürdigen Humor verfügte. »Im Augenblick verdächtigen wir jeden. Absolut jeden. Von mir aus auch die Biber.« Der Dicke schien eine Spur blasser geworden zu sein. Er zog sich von dem Aststapel zurück. Sylke bemerkte jetzt, dass sich der Stapel tatsächlich fortsetzte und quer über den gesamten Bachlauf erstreckte. Es war ein nach allen Regeln der Kunst errichteter Damm: getragen von einem Gerüst aus Hölzern, das mit Lehm abgedichtet worden war. Solide Ingenieurskunst, ausgeführt von scheinbar tollpatschigen Nagetieren, die vermutlich nicht einmal ein halbes Semester Statik studiert hatten. Etwa zwei Meter vom Ufer entfernt hatte jemand eine Kerbe in den Staudamm geschlagen.

Einer beiden Streifenpolizisten brach geräuschvoll durchs Unterholz. Er hatte wohl von oben die lautstarke Diskussion mitbekommen.

»Das ist … äh … Herr Pölzner, unten aus dem Dorf. Er hat die Leiche gefunden.«

Sylke sah den Kollegen entgeistert an. Wieso hatte der nicht gleich bei ihrem Eintreffen … Ihre Missstimmung bekam neue Nahrung. »Das wird jetzt aber höchste Zeit, dass Sie das mal erwähnen!« Sie wandte sich Pölzner zu. »Kommen Sie doch bitte mal mit mir an die Seite.«

Der Dicke trennte sich nur ungern vom beschädigten Biberdamm. Gerade, als sie den Abhang hinaufstiegen, knallte ihnen gleißendes Licht in die Augen. Zwei Strahler auf Teleskopstangen verwandelten die gesamte Szenerie in eine Bühne, auf der ein Dutzend Personen ihre Rolle spielte, scheinbar routiniert, auf jeden Fall gefasst und mit Konzentration. Auch die Matschflecken auf Sylkes Hose waren nun gut zu erkennen. Ein Dornenzweig hatte zudem einen Riss am Oberschenkel erzeugt. Sie versuchte, ihren Ärger abzuschütteln, aber sie hatte das Gefühl, dass es nicht mehr lange gut gehen würde.

Oberhalb der Fundstelle trafen sie auf Philipp. Sylke erklärte ihm kurz, wer Pölzner war. Sie kaperten einen gerade eintreffenden Polizeibus für eine erste Befragung. Sylke wies Pölzner an einzusteigen und schloss die Tür, sodass der Zeuge nicht hören konnte, was sie mit Philipp draußen besprach. »Wie sieht es bei der Leiche aus?«

Philipp wirkte angespannt. »Massive Gewalteinwirkung am Hinterkopf. Stumpfer Gegenstand. Ob das tödlich war, weiß ich nicht, aber er hat auch Schlammspritzer im Gesicht. Vielleicht gab es einen Kampf. Auf jeden Fall müssen wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Wir sollten einen Fußabdruck vom Zeugen nehmen, um zu sehen, welche Fußspuren außer seinen noch zu finden sind.«

»Gut«, sagte Sylke zum Erstaunen des jungen Kollegen. Dann schob sie ihn in den Polizeibus und nahm neben ihm Platz. Pölzner beobachtete mit zusammengepressten Lippen, wie Philipp Schreibblock und Aufnahmegerät zurechtlegte. Er arbeitete den üblichen Fragenkatalog ab. Pölzner hatte die Leiche bei einem Kontrollgang gegen 16:30 Uhr entdeckt und die Polizei benachrichtigt. Er hatte den Toten nicht berührt, weil er sich sofort sicher gewesen war, dass da nichts mehr zu machen war. Aber er hatte ihn erkannt: Es handelte sich um Dr. Roland Krohnhorst, einen pensionierten Regierungsrat, der in der Gegend Jagdpächter war.

»In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Toten?«, fragte Philipp. Der Naturschutzwart zögerte einen Moment. »Verhältnis? Ich hab den nur flüchtig gekannt. Wir trafen uns gelegentlich hier draußen.«

»Sie sind doch sicher oft hier?«

»Ja, schon. Wir vom Heimatverein kümmern uns ja um das Gebiet. Die Biber breiten sich hier im ganzen Tal aus. Überall bauen sie Staudämme, es entstehen große Seen. Und dann …«

»Der Herr Krohnhorst, war der auch so begeistert von den Bibern?«

Pölzner lachte verlegen. »Na ja, die Biber sind jetzt nicht gerade sein größtes Hobby – gewesen. Aber er musste natürlich auch einsehen, dass sie hier vieles verbessern: Wir haben, seit die Biber da sind, mehr Fische und Insekten. Es gibt hier Prachtlibellen, die waren früher nie hier, wir haben sogar die Europäische Seekanne beobachtet, die steht auf der Roten Liste und …«

»Ja, interessant«, unterbrach Philipp ihn. »Noch mal zu Dr. Krohnhorst: Gab es da Konflikte wegen der Biber?«

»Wie … äh … was für Konflikte?«

»Na ja, diese ganzen Stauseen, das verändert ja die Landschaft. Man kommt nicht mehr so gut durch.«

»Gut, ja, das fand er wohl nicht so toll. Etwas weiter oben steht tatsächlich ein Ansitz unter Wasser. Aber die Tiere sind hier geschützt, da gibt es Gesetze, und gerade in diesem Gebiet soll speziell der Biber machen können, was er will.«

»Es gab also Streit.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber Sie haben doch gesagt, dass Dr. Krohnhorst die Biber nicht so toll fand. Woher kommt denn diese große Kerbe in den Damm?«

»Ja, die hat wohl irgendwer da reingemacht.«

»Vielleicht Dr. Krohnhorst?«

Pölzners Gesicht war zunehmend rot geworden. Obwohl es im Polizeibus nicht gerade warm war, glänzte seine Stirn. Er sah hilfesuchend zu Sylke rüber, aber Sylke schwieg und beobachte ihn mit einem sphinxhaften Lächeln.

»Ich weiß es nicht«, sagte Pölzner schließlich.

»Aber Sie vermuten es.«

»Nein, ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht vermuten.«

»Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, …«

Es war der Moment, in dem Sylke nicht mehr stillsitzen konnte. Sie griff Philipps Unterarm. »Lass uns draußen kurz weiterreden, ja?«

Mittlerweile war es beinahe dunkel geworden. Die Luft war kühl, fast schon winterlich kalt. Sylke schloss die Schiebetür des Polizeifahrzeugs. »Was war das denn jetzt? Du legst einem Zeugen lauter Dinge in den Mund und dann setzt du an zu einer Beschuldigung? Ist dir klar, was du damit anrichtest?«

Philipp verzog trotzig den Mund. Sylke fuhr mit ihrer Strafpredigt fort. »Wenn du ihn beschuldigst, musst du ihn darüber informieren, dass du ihn als Beschuldigten betrachtest. Du musst ihm seine Rechte erklären. Sonst ist alles, was du hier besprichst, hinfällig. Du bekommst einen Riesenärger mit der Staatsanwaltschaft.«

»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte. Ich hätte ihm als Nächstes erklärt, dass ich seine Rolle bei dieser Sache für unklar halte und ihn ab sofort als Beschuldigten führe.«

Sylke schüttelte den Kopf. »Das ist doch Blödsinn! Es ist viel zu früh. Wir haben kein gerichtsmedizinisches Gutachten, keine Spurenuntersuchung, wir wissen nichts. Und du willst den armen Mann hier gleich zum Täter stempeln? Dann taucht der morgen mit seinem Anwalt auf und sagt kein Wort mehr. Abgesehen davon, dass du suggestiv vorgehst, verschlechterst du so deine Position. Selbst wenn du das Gefühl hast, er könnte der Täter sein – warte ab. Lass dir nicht sofort in die Karten schauen! Solange er denkt, dass wir nur seine Unterstützung benötigen, sagt er vielleicht interessante Dinge.«

»Um sich selbst zu entlasten.«

»Das kannst du dann ja einordnen, oder?«

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete den jungen Beamten, der nervös seinen Bart bearbeitete. Sylke hatte beinahe Mitleid. Aber nur beinahe. »Ist nicht dein bester Tag heute, was?«

Er zuckte mit den Schultern. Sie gab ihm einen aufmunternden Stoß. »Pass auf. Du gehst jetzt wieder in den Bus, bedankst dich für die Aussage, und für morgen bekommt er noch mal eine höfliche Einladung aufs Revier.«

»Du willst ihn einfach so laufen lassen? Wir müssen noch nach seinem Umfeld fragen. Wer ist außer ihm hier noch aktiv? Wer hat was gegen Krohnhorst? Pensionierter Regierungsrat – hier gibt’s bestimmt noch Leute, die ihn nicht mögen.«

»Das machen wir alles morgen.«

»Wir?«

»Ich meinte natürlich: ihr.«

Sylke wandte sich abrupt ab. In diesem einen Punkt hatte Philipp recht: Sie musste sich raushalten. Unbedingt. Sonst würde sie am Ende noch für die unprofessionell geführten Ermittlungen mitverantwortlich gemacht. Sie sah zu, wie er wieder im Polizeibus verschwand, und ging ein paar Schritte den Hang hinauf, bis knapp unter die Hügelkuppe. Von dort oben wirkte die Szenerie rund um den Fundort der Leiche unwirklich. Das kalte Licht der Scheinwerfer ließ die Gestalten in den weißen Schutzanzügen aussehen, als wären sie von innen erleuchtet. Über der Fundstelle war ein Schutzzelt aufgebaut worden, die Beamten untersuchten das Opfer und durchkämmten das Unterholz, zwei Bestatter warteten am Rand des Geschehens auf ihren Einsatz. All das löste bei Sylke ein gewisses Kribbeln aus, das sie nur zu gut kannte. Da war Empathie mit dem Opfer, da war auch der Wunsch nach Gerechtigkeit, nach dem Finden eines gefährlichen Täters. Vor allem aber hatte sie ein dringendes Bedürfnis, das Wirrwarr von Informationen zu ordnen, die nebeneinander laufenden Aktivitäten zu steuern, ihnen Struktur und Richtung zu geben. Ordnung in eine Ermittlung bringen, jeden Schritt zur richtigen Zeit tun, wie ein Wanderer, der sich auf einem schmalen Grat bewegt – das empfand sie als zutiefst befriedigende Tätigkeit. Und da lag wohl auch der eigentliche Grund dafür, dass sie sich auf Umwegen bis zur Kriminalpolizei durchgeschlagen hatte: Sie wollte etwas verstehen, das im ersten Moment unbegreiflich erscheint. Und sie hatte große Lust, die Zügel in diesem Fall selbst in die Hand zu nehmen.

Greifswalder Gespenster

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