Читать книгу Greifswalder Gespenster - Burkhard Wetekam - Страница 8

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Tom hatte sich darauf eingelassen, weiter über den Auftrag zu sprechen, nachdem Tanja Grundler sich ihrerseits darauf eingelassen hatte, das Gespräch in ein Restaurant zu verlagern. Sie gingen zurück über den Steinwall, von rechts trafen sie die mürrischen Blicke dreier Holzfiguren, die hier Wind und Wetter ausgesetzt waren. Verhangener Gesichtsausdruck, stoischer Geradeausblick, hängende Mundwinkel – war das die besondere Herzlichkeit, mit der man von Greifswald hinaus in die Welt blickte?

Sie passierten das Hotel Utkiek, das auf Betonstelzen errichtet war, dann folgte der futuristisch anmutende Sperrwerksbau, der das Landesinnere vor Überflutungen schützen sollte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, auch auf den vereinzelten Booten im Hafen regte sich nichts. Ein Angler saß zusammengekauert auf einem Poller und hielt seine Angel so reglos ins Hafenbecken, dass man ihn für eine Statue hätte halten können.

Sie überquerten den Ryck auf der berühmten Wiecker Klappbrücke, aber an diesem dämmerigen Spätnachmittag schien sich niemand für das beliebte Fotomotiv zu interessieren. Die galgenartige Balkenkonstruktion erhob sich bedrohlich über dem braun-grünen Wasser.

Das Restaurant Il Ponte hatte nach der Nachmittagspause gerade erst wieder aufgemacht. Für die Gäste, die zum Abendessen hier einkehren würden, war es noch zu früh, sodass sie vorerst den gesamten Gastraum für sich hatten. Über den verschwundenen Mann wusste Tom nach wie vor nicht viel.

Seine potenzielle Auftraggeberin unterhielt sich weiterhin lieber über Kunst. »Die Klosterruinen von Eldena kennen Sie wohl auch eher nicht? Die berühmten Bilder von Caspar David Friedrich? Wundervoll! Sie zeigen, wie vergänglich die großen menschlichen Leistungen sind, aber sie trösten uns auch mit ihrer Schönheit. Wenn Sie schon hier sind, können Sie sich natürlich auch die ganz realen Ruinen ansehen.«

»Die sind in der Nähe, oder?«

Tanja Grundler schien ein Seufzen über Toms Unwissenheit unterdrücken zu müssen. Sie deutete über das Hafenbecken hinweg. »Zehn Minuten zu Fuß von hier. Ich denke, wir müssen Sie etwas fit machen, damit Sie bei Ihrer Künstlerfreundin mithalten können, wenn die aus Amerika zurück ist. Die Ruinen müssen Sie sich unbedingt ansehen, am besten morgen früh, da soll es wieder sehr nebelig werden. Das gibt eine fantastische Atmosphäre.«

»Leider muss ich dann das Boot startklar machen, um die erste Brückenöffnung nicht zu verpassen.«

Sie schüttelte den Kopf, fast schon verzweifelt über seine Ignoranz, und erzählte etwas von einem weiteren Bild, das im Pommerschen Landesmuseum zu sehen war: Der Greifswalder Hafen, gemalt von einem gewissen Johann Friedrich Boeck. »Ein majestätisches Segelschiff im Zentrum, dahinter Speichergebäude und die Altstadt mit ihren Kirchtürmen. Die Szene ist in ein ganz eigenartiges Licht getaucht, mit einem gelb-bläulichen Abendhimmel. Im Vordergrund drei Männer, sie wirken etwas unheimlich, weil man nur ihre dunklen Silhouetten sieht. Aber sie haben einen Topf über ein Feuer gehängt. So eine Suppe hat ja dann auch wieder etwas Gemütliches.«

»Vielleicht kochen sie ja auch Pech, zum Abdichten für einen Schiffsrumpf.«

Tanja Grundler gab ihre Bemühungen lachend auf. »Nein, Sie sind kein Romantiker, wirklich nicht.«

Tom wurde nicht schlau aus ihr. »Sollten wir vielleicht wieder über … «

Sofort unterbrach sie ihn. »Ja, ich bin einfach nicht auf Kurs – Entschuldigung. Aber diesen einen Satz muss ich noch loswerden: Wenn ich diese Gemälde betrachte, dann habe ich das Gefühl, mich an einem magischen Ort zu bewegen. Und das wiederum verzaubert die realen Orte. Wenn du dann zum Hafen gehst, hörst du die Rufe der Schiffer, das dumpfe Grollen, wenn sie Fässer auf die Mole rollen, du riechst das Holz, den Duft von Gewürzen …«

Gerade in diesem Augenblick schlug Tom aus der Küche eine Wolke entgegen, die mit dem Aroma von Knoblauch und gebratenen Sardellen gesättigt war. ›Greifswald an der Adria‹, dachte er. »Sie mögen es, sich in andere Welten zu versetzen, oder?«

Sie sah ihn von der Seite an. »Der Traum von einer anderen Existenz ist das, was mich am Leben hält.«

Damit waren sie endlich wieder beim Thema. Während Tom an einem starken, schwarzen Kaffee nippte, bekam er einen vorläufigen Überblick: Malte Naujock war studierter Biologe und engagierter Umweltschützer. Er hatte bis vor eineinhalb Jahren in einem Dorf im Landkreis gewohnt und dort ehrenamtlich ein Naturschutzgebiet betreut. Nach der Trennung von seiner Frau hatte er seinen unbefristeten Job bei der Kreisverwaltung gekündigt und war in die Innenstadt von Greifswald gezogen. Inzwischen lebte er von spärlichen Honoraren, die ein Lehrauftrag an der Universität und Schulungen für Angestellte aus Naturschutzbehörden abwarfen. Malte brachte den Sachbearbeitern praktische Naturschutzarbeit nahe, indem er mit ihnen spätabends oder frühmorgens in unwegsamen Flussauen Vögel, Biber und Reptilien beobachtete. Er erklärte den Büromenschen, wie alles zusammenhing und warum es sinnvoll ist, in einem Bibergebiet wasserdichte Schuhe zu tragen.

»Für mich klingt das so, als ob da jemand ein wenig aus der Bahn geraten ist«, kommentierte Tom das, was ihm Tanja Grundler berichtete. Aber sie hob abwehrend die Hand. »Das stimmt so nicht. Ich würde es genau andersherum sehen: Malte ist von der breiten Straße der Kompromisse auf den Pfad abgebogen, der seiner inneren Wahrheit entspricht. Er hat sich von einigen Lebenslügen getrennt und ist sich dabei selbst ein Stück nähergekommen. Viel näher.«

»Bemerkenswert«, sagte Tom. Es sollte nicht abfällig klingen, aber er konnte den ironischen Unterton nicht vollständig unterdrücken. Er musste sich zusammenreißen. »So eine Richtungsänderung hat sicher ihren Preis, oder?«

Sie schien für einen Moment in sich hineinzuhorchen. »Es war ein tiefgreifender Bruch, ganz bestimmt. Das Verhältnis zu seiner Ex-Frau ist schwierig. Er hat auch eine neunzehnjährige Tochter, die sich anfangs komplett von ihm abgewandt hat. Inzwischen geht es wohl etwas besser. Aber entscheidend für Malte sind die Kontinuitäten: Er hat schon immer für die Natur gelebt – das kann er jetzt kompromissloser und ehrlicher. Er zeigt Menschen, wie lebendig die Welt abseits der Straßen ist, wie wunderbar alles zusammenwirkt. Und wie bedroht das ist, was scheinbar selbstverständlich neben uns her existiert. Das mag ich so an ihm: Diese Konsequenz und wie er ganz in seiner Leidenschaft für Pflanzen und Tiere aufgeht. So haben wir uns auch kennengelernt, bei einer Exkursion in seinem früheren Biberrevier. Ich war so hingerissen von der Art, wie er alles erklären kann. Er hat ein ganz eigenes, manchmal inniges, manchmal auch kumpelhaftes Verhältnis zu dem, was da fleucht und kreucht. Das klingt jetzt komisch, aber er ist mit der Natur tief im Innern verbunden, und das kann er so vermitteln, dass du das Gefühl hast …«

Sie hielt plötzlich inne und sah Tom peinlich berührt an. »Jetzt habe ich angefangen zu schwärmen. Und ich habe ‚du’ gesagt. Das ist ja hier alles sehr persönlich. Sollen wir beim Du bleiben? Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn.«

Tom musste lächeln. Eigentlich war es ihm wichtig, zu seinen Auftraggebern eine gewisse Distanz zu bewahren. Aber in diesem Augenblick empfand er für die Frau, die sich in einem Strudel der Gefühle drehte, zum ersten Mal Sympathie. »Gut, bleiben wir beim Du«, sagte er etwas onkelhaft. »Aber du solltest mir jetzt erzählen, warum du dir Sorgen machst. Habe ich das vorhin richtig gehört: Du glaubst, Malte sei in Gefahr?«

Tanja stellte ihre Tasse, die sie gerade erst zum Mund führen wollte, mit ernster Miene wieder ab.

»Nicht ohne Grund. Malte besitzt ein Stück Land, das er von einer Tante geerbt hat. Es liegt in einem Gebiet, das die Friedländer Große Wiese genannt wird, eine trockengelegte Moorlandschaft, von vielen Gräben durchzogen. Man kann dort nur in Maßen Landwirtschaft betreiben, die Bauern mähen das Gras, um es ans Vieh zu verfüttern oder für die Erzeugung von Biogas. Eigentlich nichts Spektakuläres. Nun soll aber auf der Friedländer Großen Wiese ein Windpark gebaut werden. Die Pläne existieren seit Jahren. Malte weigert sich, sein Land zu verkaufen oder zu verpachten. Er hat Bedenken, weil durch die Windräder Vögel und Fledermäuse getötet würden. Und von beiden gibt es da recht viele.«

»Kann denn ein einzelner Grundstücksbesitzer die Pläne blockieren?«

Sie nickte. »Maltes Land liegt so zentral im Planungsgebiet, dass der Windpark ohne seine Zustimmung nicht gebaut werden kann.«

»Seine Weigerung ist also der Grund, warum du dir Sorgen machst?«

Tanja presste die Handflächen aneinander. »Er hat anonyme Drohanrufe bekommen, sein Auto wurde zerkratzt und ein toter Vogel lag in seinem Briefkasten. Bei dem Projekt geht es um viele Millionen. Die Firma, die den Park geplant hat, steckt da seit Jahren Geld rein. Und die anderen Landbesitzer könnten mit den Pachtzahlungen gut verdienen. Ich weiß nicht, wer hinter diesen Attacken steckt. Es kommen einige in Frage.«

Instinktiv blickte Tom sich um, aber das nahezu leere Restaurant machte einen zutiefst friedlichen Eindruck. Nur ein Kellner lehnte seitlich an der Theke und blätterte in einem Notizblock.

»Hast du auch Angst?«, fragte Tom. »Ist das der Grund, warum du niemandem begegnen willst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Aber ich bin verheiratet und mein Mann weiß nichts von Malte und mir. Er ist Pastor in Ueckermünde. Das macht die ganze Sache kompliziert. Wenn mich hier zufällig jemand aus unserem wunderschönen, aber auch beengenden Ort sieht, zusammen mit einem unbekannten Mann, dann geht das Gerede los.«

Allmählich vervollständigte sich das Bild. Nach wie vor hatte Tom große Zweifel, dass er viel erreichen würde. Er stellte Tanja die Frage, vor der sie sich zu fürchten schien. »Ich hätte gern eine ehrliche Einschätzung von dir. Was, denkst du, ist mit Malte passiert?«

Sie hob die Schultern und zögerte lange mit der Antwort. »Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie ihn entführt. Eingesperrt, irgendwo in einem Keller. Vielleicht wollen sie ihn zwingen, das Land zu verkaufen. Oder schlimmer noch: Er wurde … ich darf gar nicht dran denken. Das ist es, was mir Angst macht. Wirklich.«

Greifswalder Gespenster

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