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Prolog

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»Du weißt, was du tun musst.« Unter der Maske klang die Stimme des Mannes dumpf und irgendwie verwaschen. Eine Hand, von der er nicht wusste, zu wem sie gehörte, presste seinen Kopf auf den Boden. Er konnte die feuchte Erde riechen und abgestorbene, faulige Biomasse.

»Was sagst du? Unterschreibst du?«

Er zog es vor zu schweigen. Das konnte er: schweigend protestieren. Eigenartigerweise verspürte er kaum Angst, nur eine sonderbare Form von Aufregung, gepaart mit Ungläubigkeit und der Lust, diesen Typen zu sagen, was er von ihnen hielt. Noch immer erstaunte es ihn, dass es solche Typen wirklich gab.

»Los, antworte!«

Ein Fußtritt traf ihn in die Seite, unterhalb des Rippenbogens. Für einen Augenblick blieb ihm die Luft weg. Hätte er nicht vorsichtiger sein müssen? War so etwas nicht zu ahnen, ja beinahe zu erwarten gewesen? Jetzt fühlte es sich doch ganz anders an, als er sich das ausgemalt hatte. Seine Hände krampften sich ins Gras, er spürte zarte Halme zwischen den Fingern, aber auch eine Gruppe fester Stängel, wie von Binsen. Konnte das sein? War es an diesem Ort, diesem Niemandsland zwischen Hafen und altem Friedhof, feucht genug für Binsengewächse? Es gab ja viele Arten, Hunderte mussten es sein, bekannt war vor allem die Flatter-Binse, Juncus effusus, mit ihren dichten, dunkelgrünen Horsten und den geradlinig aufstrebenden Halmen.

»Na, was ist?«

Der Kerl, der ihn bislang zu Boden gedrückt hatte, setzte nun einen kantigen Schuh auf seinen Nacken. Warum er das tat, wurde Sekunden später klar: Der Typ packte seinen linken Arm und drehte ihn schwungvoll nach oben. Zum ersten Mal machte ihm der Schmerz ernsthaft zu schaffen.

»Gut, dann eben anders. Wenn du bei Drei nicht gesagt hast, was ich hören will, breche ich dir einen Finger.«

Er versuchte ruhig zu atmen. Finger brechen! Waren die denn verrückt? Und so dämlich, bleibende Schäden zu hinterlassen? Um sich selbst zu beruhigen, begann er, die lateinischen Namen der ihm bekannten Binsenarten lautlos aufzuzählen: Juncus effusus, Juncus maritimus, Juncus subnodulosus, die aus Nordamerika eingewanderte und schon lange heimische Zarte Binse, Juncus tenuis, und nicht zu vergessen Juncus gerardii, die Bodden-Binse, die gern auf salzhaltigen Böden siedelt.

»Also: Du gehst jetzt nach Hause und unterschreibst das Papier, das in deinem Briefkasten liegt.«

»Arschloch. Sag deinem Chef, dass es so nicht läuft.«

Es war eindeutig nicht der richtige Moment, um über angemessene Formen von Kommunikation zu diskutieren. Seine Wange wurde noch fester in den lehmigen Boden gepresst. Er versuchte aus den Augenwinkeln etwas von dem Idioten zu erkennen, der ihn malträtierte. Aber er sah nur einen schwarzen Lederstiefel und ein Stück von einem Bein, das in einer Jeanshose steckte. Zwischen den Büschen hing die Morgendämmerung. Er liebte diese Zeit, gerade im Herbst. Fast jeden Tag drehte er hier eine Laufrunde.

»EINS!«

Der Mann gab seiner Stimme einen betont scharfen Klang. Aber war da nicht auch etwas Schwankendes? Die würden es nicht tun. Die blufften.

»ZWEI!«

Eine Hand packte seinen linken, kleinen Finger. Er musste schlucken. Jetzt war sie da. Die Angst. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, aber jetzt hatte er Angst. Trotzdem sagte er nichts. Einfach nichts sagen. Nicht nachgeben. Sich nicht wegducken. Atmen und schweigen. Schweigen und atmen. Wenn er jetzt anfing, seine Grundsätze aufzugeben – wofür hatte er dann acht Jahre lang standgehalten?

»DREI!«

Das Knacken in seinem Finger war unverschämt laut. Und der Schmerz leuchtete greller als alles, was er bis dahin hatte leuchten sehen. Dieser Schmerz konnte einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Vielleicht empfand er den Schmerz deshalb als so unverschämt durchdringend, weil er sich angebahnt hatte. Es fehlte das Überraschungsmoment, das seinen Körper veranlasst hätte, eine größere Menge betäubendes Adrenalin auszuschütten. Der Schmerz raste seinen Arm hinauf und setzte seinen ganzen Körper unter Strom. Er wand sich jammernd auf dem feuchten Boden und rollte in eine Pfütze. Sein Magen rebellierte, er spuckte eine Portion Karottensaft ins schlammige Wasser, wo die orangefarbene Flüssigkeit ein florales, an den Jugendstil erinnerndes Muster ausbildete. Er krümmte sich zusammen und lag da wie ein Embryo, die kalte Nässe kroch wie ein Vorbote des Todes unter seine Jacke und sog sich in seine Jogginghose.

Als er wieder etwas klarer denken konnte, war der Maskenmann verschwunden. Er traute sich nicht, nach seinem entstellten Finger zu sehen, dem er zwischen den Oberschenkeln ein weiches Lager bereitet hatte. Stattdessen fiel sein Blick auf ein kleines, aber gut ausgebildetes Exemplar der Knäuel-Binse, Juncus conglomeratus. Die Schmerzstöße schüttelten den Namen spielend leicht aus seinem Gedächtnis. Auf dem Brachland war es also tatsächlich feucht genug für diese Art Binsen – eine überraschende und schöne Erkenntnis an einem sonst fürchterlichen Morgen.

Greifswalder Gespenster

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