Читать книгу Der beste Suizid ist immer noch sich tot zu leben - Candy Bukowski - Страница 13
ALLES SEHEN KÖNNEN
ОглавлениеWas war das für ein irrer Moment gewesen. Damals, als sich zum allerersten Mal alles wirklich nach Sinn anfühlte. Als hätte dieses ganze, komplexe Ding Leben endlich zurückgebrüllt. Auf all die vielen Fragen, die gestellten und die geschwiegenen, die gestümperten und die innig gesehnten. Wobei sie sich nie so recht sicher war, welche denn nun die besseren seien. Die ehrlicheren, diejenigen, die wirklich eine ganz und gar vollständige Antwort verdienen, im Gegensatz zu jenen, die man eben manchmal so herumstellt.
Mal von links nach rechts und von oben nach unten, ein wenig wie Möbelrücken aus reiner Langeweile. Weil es doch so hübsch wäre, wenn die Dinge einfach einmal ein klein wenig anders stehen, in den Haupt- und den feinen Zwischenräumen.
Als ob es wirklich etwas ändern würde, wenn man in seinen Fragezimmern so herumspaziert und hier den sperrigen Schrank verrückt und nebenan sich einen neuen Teppich legt, ein paar Blumen pflückt, sie auf den Kasten stellt und dann auf dem alten Ohrensessel sitzt und sagt: „Jetzt ist es aber wieder schön und anders.“ Da fühlst du dich jetzt wohl, so kann es bleiben.
Als ob es so wäre, dass man eben ein wenig herumfragt und die Antworten dann schon kämen. Wie ein Wurf kleiner Kätzchen, die lustig herumtollen und sich freuen, dass da endlich einer am bunten Wollknäuel zieht und Faxen macht, zum allgemeinen, maunzenden Vergnügen.
Oder ob sie vielleicht heranpreschen würden. Wie eine Herde wilder Pferde. Einmal losgelassen und johlend über die Weite getrieben. Mit einer Wucht, die dir den Atem stockt vor lauter aufgewirbeltem Staub und dem ohrenbetäubenden Dröhnen all der galoppierenden Hufe auf ausgetrocknetem Boden.
Die Antworten auf all die vielen ungelösten Fragen.
Die man sich millionenfach, fast nebenbei, so stellt.
Weil der Kopf eben denkt und die Seele sich sehnt und der Körper sucht und die Dinge so selten selbsterklärend sind.
Was war das für ein irrer Moment gewesen, als es sich wirklich zum ersten Mal nach unaussprechlich wahrem Sinn anfühlte. Als sie einfach nur saß und die Augen schloss. Und alles, was in ihr selbst war, durchziehen ließ.
Als gäbe es kein Halten und kein Sein, als wäre alles fließende Materie oder ein reines, leichtes Wolkenbild. Ohne Sinn und Ziel und ohne Endgedanken. Anders als sonst.
Es ist immer gut, die Augen zu schließen, wenn man sehen kann. So wie es zu ihren Fähigkeiten gehörte, vieles immer wieder sehen zu können. Als würde sie ihr gesamtes Leben ständig abfotografieren, als wäre alles auf einer Billion Bildern festgehalten. Immer da, nie weg, nur archiviert, irgendwo im Innersten.
Oben in einer gigantischen Erinnerungswindung oder vielleicht auch vierzig Zentimeter tiefer, es war ihr nie möglich gewesen, den Platz genau zu orten. Aber es gab ihn. Mit unerschöpflichem Datenmaterial auf einer lebenslangen Festplatte, die immer abzurufen war. Ständig. Jederzeit abzurufen, wenn sie die Augen schloss und den passenden Scan eingab:
Schlüssel. Reisepass. Taschenlampe. Handtasche rot. Tapetenrest. Briefmarkenheftchen 60 Cent.
Solch ein Segen. Wenn sie die Augen schloss und einmal scannte, war alles da.
Wo immer sie es auch hingelegt hatte, an die unsinnigsten Stellen, sie sah und fand und wusste, wo es lag. Ganz ohne Ordnung, auch ohne Logik abgelegt, nichts ging verloren, sondern war einfach da. Als Bild in Sepia, als Foto abgelegt, manchmal als kurzer Film mit Ton. Hatte sich selbst auf die Festplatte gebrannt.
Alles, immer, jederzeit.
Auch all das andere. All das viele andere, aus all dem vielen Leben.
Was sich nicht auflöste, was einfach nicht vergänglich war.
All die Namen und Gesichter in all den Momenten, die berührten. Im Freudentaumel und im wohlbekannten Schmerz, die lauten Sätze und die leisen, die selbst gesprochenen und die, die ihr mitgegeben wurden. Manchmal geschenkt, manchmal verdient und immer archiviert.
All die Sonderlich- und all die Peinlichkeiten, all die Blicke. Bis zum Seelengrund und die im Übermut. Die ersten Momente. Und die letzten. Und all das Übermaß dazwischen, an Wundertaumeln und Versagen. An Geburt und Tod, an Liebesflüstereien und Wahnsinn zwischen zweien. Jeder banale Moment an Glück. An einem Tisch geteilt, in einem Wagen gewechselt, zwischen Kissen gestöhnt, auf einer Klippe gerufen, mit Händen gesprochen. Alles immer wieder da. Nie blass geworden, nie vergessen, nie gelöscht.
Solch ein Fluch. Wenn sie die Augen schloss und einmal scannte, war alles da. Wo immer es auch zurückgelassen wurde und verschwand. An den unsinnigsten Stellen, sie sah und fand und wusste, wie es war. Ganz ohne Ordnung, auch ohne Logik abgetrennt, nichts ging verloren, sondern war einfach wieder da. Als Bild in Sepia, als Foto abgelegt, manchmal als kurzer Film mit Ton. Für alle Zeiten auf die Festplatte gebrannt.
Nein, es ist nicht immer gut, die Augen zu schließen, wenn man sehen kann. So wie es zu ihren Fähigkeiten gehörte, vieles immer wieder sehen zu können.
Das ist nicht gut. Da suchst du lieber mal erfolglos einen Schlüssel und kramst ohne Erinnerung nach dem, was dir gerade fehlt. Oder besorgst es einfach neu, kaum etwas ist unersetzlich, wenn zu den großen Talenten deines Seins mit Glück auch das Vergessen zählt.
Und dann war es ein einziges Mal anders gewesen. Als sie einfach auf ihren Fersen saß und die Augen schloss und nur das, was aus ihr selbst kam, durchziehen ließ. Ohne Sinn und Ziel und ohne Endgedanken.
Als hinter jeder einfachen Frage eine einfache Antwort hochkam. Und sich aus dieser eine neue stellte. Immer tiefer, höher, klarer, weiter. Ohne Bemühen der verdammten Logik. Frei von Erleben und Erfahren. Das Gefühl, hinter dem Gefühl, hinter dem Gefühl, hinter dem Jetzt.
Was war das für ein irrer, beseelender Moment gewesen. Am Ende mit nackten Füßen federleicht im weiten Universum zu baumeln. Inmitten Millionen von Sternen, in heller Dunkelheit ganz ohne Schwarz, ganz ohne Sorge, ohne Furcht.
Ganz Heimat, ganz vertraut, ganz Urgefühl an Körperlos und Sein.
Ganz ohne weitere Fragen nach dem Sinn. Schlicht angekommen.
Selbst Teil an Unendlichkeit, an Stille und an Weite – so nie zuvor gespürt. Und auch nie wieder. Was für sein Segen, alles immer wieder sehen zu können.