Читать книгу Der beste Suizid ist immer noch sich tot zu leben - Candy Bukowski - Страница 15
NACHTZUG NACH MURNAU
ОглавлениеSie sitzt im Nachtzug.
Hatte eilig das Notwendigste zusammengepackt und dem Kerl das Kind in den Arm gedrückt. Stockend etwas gefaselt von „Bitte, du musst, nimm dir frei, organisiere das irgendwie. Ich muss sofort los, er braucht mich.“
Der Kerl hatte wie immer Verständnis, war groß und organisierte, damit sie jetzt im Nachtzug sitzen konnte, um einmal quer durch Deutschland zu eilen. Ganz ans andere Ende. Viel weiter als Murnau geht nicht. Auch wenn die meisten Wege nach Murnau anders führen. Man wird von der Straße gekratzt, reanimiert, beatmet und mit dem Hubschrauber eingeflogen. Auf eines der vielen Klinikdächer, unter denen ums Überleben gekämpft wird. Dann um das Wieder-gehen-Können. Vielleicht. Möglicherweise.
Sie sitzt in Nachtzug und starrt in die Dunkelheit vor dem Fenster. Hat längst aufgegeben, ein Buch zu lesen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Am Nachmittag kam der Anruf:
„Ich habe so lange gebraucht, um dich zu finden. Er hatte einen Motorradunfall. Liegt seit Wochen im künstlichen Koma. Jetzt holen sie ihn zurück. Er wird dich brauchen. Ich brauche dich. Ich schaffe das nicht allein.“
Seitdem steht die Zeit still. Sie war sich immer sicher gewesen, sie würde es spüren, wenn ihm wirklich etwas aus dem Ruder liefe. Wenn seine Seele in Bedrängnis wäre. Aber sie hatte nichts gespürt, nichts in all den Wochen. Dafür jetzt alles. Die volle Packung. Stirb nicht. Bleib. Himmel, du bist ein Kämpfer. Kämpfe verdammt noch mal!
Morgens um sechs endlich in München. Am Gleis eine innige Umarmung mit der Stimme vom Telefon. Zwei Frauen, die ihn immer geliebt haben und zurückgeliebt werden. Und dennoch auch Freunde sein können. Selten. Wertvoll.
„Danke, dass du gekommen bist. Wir schaffen das nur zusammen.“
„Danke dir, dass du mich geholt hast. Er muss es schaffen. Er muss.“
„Ja. Aber es sieht leider nicht gut aus. Sie waren zusammen auf einer Maschine unterwegs. Seine Freundin hat einen Querschnitt. Inoperabel. Sie wissen nicht, ob sie es schafft. Er selbst einen zertrümmerten Oberkörper, mit Stangen irgendwie wieder aufgebaut, er wäre sonst erstickt. Ohne Koma wären die Schmerzen nicht zu ertragen. Mich hat sein Motorradkumpel auch erst vor zwei Tagen informiert.“
Noch eine gute Stunde Autofahrt durchs Bayerische. Stockende Gespräche über Normalität, über das tägliche Leben. Über die Dinge, die gestern noch so unheimlich wichtig waren. Wenn die Welt einstürzt, braucht man Normalität, um den Wahnsinn nicht zu groß werden zu lassen. Dazwischen immer wieder langes Schweigen. Ein wortloser Blick. Ein Lächeln. Verzerrt, aber doch.
Ortsschild Murnau. Es ist noch früh.
„Ich brauche einen Kaffee. Was meinst du?“
„Ja, gerne. Lass uns einen Kaffee trinken. Ich bin auch noch nicht so weit. Dort drüben, McDonald’s ist dein Freund morgens um halb acht.“
Kaffee. Zigaretten. Draußen auf blöden Plastikstühlen sitzen.
Nachdenken, ein paar Sätze stümpern. Ein paar schöne Erinnerungen hochholen. Schweigen. Der Rest der Welt funktioniert ganz normal. Besteht auf Vorfahrt, zeigt sich den Mittelfinger, streitet sich um die Poleposition im Alltag. Darüber immer wieder das motorene Flappen der startenden und landenden Hubschrauber. Ein anhaltendes Horrorgeräusch vor mächtiger Bergkulisse.
Intensivstation. Schleuse zum Umkleiden für Nicht-Fachpersonal.
„Guten Morgen. Ich bin … seine Schwester. Bitte, darf ich zu ihm?“
„Es ist völlig egal, wer Sie sind. Er braucht jemanden. Gut, dass Sie gekommen sind.“
Die beiden Frauen teilen sich auf. Eine zu ihm, eine zu der Freundin. Die beiden liegen in verschiedenen Fluren.
Was sagt man zu jemandem, der einen Querschnitt hat?
Das wird wieder?
Kopf hoch?
Immer sind es die Schwachen, die Stärke beweisen. Der Querschnitt spricht. Liebevoll, verzeihend. Stockend, aber konsequent:
„Sag ihm bitte, dass er nicht schuld ist. Und dass ich ihm das nicht übel nehme. Ich hoffe, dass es ihm gut geht, dass die Schmerzen erträglich sind. Und … hörst du? Küsse ihn bitte von mir, ja?“
Ein langer, gegenseitiger Blick. Schweigen über das bisher nie Ausgesprochene. Ein Nicken. Ein Versprechen.
Als sie schließlich tief durchatmet und sein komplett verglastes Zimmer betritt, nichts als Schmerz. Unsagbar großer Schmerz und Tränen. Aneinanderklammern, irgendwo, wo kein Stahl, kein Verband, kein Schlauch zu erwarten ist. Irgendwo anfassen, berühren, umarmen.
Und dem aufgestauten Schwall von Worten lauschen, der in nicht enden wollender Massivität herausfließt. Herausfließen muss aus einem Mann, dessen große Hände nie ganz frei von Schrunden, von Motoröl und Spuren körperlicher Arbeit gewesen sind. Ein Schrank. Ein Handwerker. Ein Fels in der Brandung eines jeden, der jemals mit ihm zu tun hatte.
Und der nun zusammengefallen den Kampf seines Lebens fightet und sühnt. So schmerzlich, dass sie ihm ein Stück des Felsens vom Herzen reißen möchte, damit er es leichter tragen kann. Wo doch nichts anderes möglich ist, als nur da zu sein, zuzuhören, den Kopf zu schütteln und einiges geradezurücken: dass der Fahrer des Pkws derjenige war, der aus einem Feldweg auf die Schnellstraße einbog und die Geschwindigkeit unterschätzte. Dass derjenige der Verursacher für die B-Säule war, an der zwei Körper schlicht zerschmetterten und brachen. Dass kein Fahrer dieser Welt dieses verdammte Schicksal hätte ausbremsen oder verhindern können.
Keine Schuld, keine Schuld, keine Schuld.
Nur Verantwortung. Und damit leben müssen.
Nur.
Sie hört den Schmerzen zu. Den Monstern der Wochen, als ihm so viele Dinge ins Fleisch gestoßen wurden, dass kein Koma sie überdecken kann. Die unbändige Angst, die auch in einem betäubten Gehirn nicht auszuschalten, nur zu dämpfen ist.
Er erzählt von seinem Engel. Von einer Nachtschwester, die ihm hin und wieder die Hand hielt und mit ihm sprach. Wissend, dass er es auf seltsamen Wegen wahrnehmen konnte. Das Gefühl, nicht allein zu sein und von allem Menschlichen verlassen. Dass da irgendwann vielleicht wieder etwas gut werden könnte. Was und wie auch immer.
Sie ist diesem nächtlichen Engel dankbar, wie sie noch nie einem fremden Menschen dankbar war. Beschließt, ungebrochen daran zu glauben, dass wir alles Gute in einen Kreislauf geben, der selten an der Stelle zurückgibt, an der wir einspeisen. Aber dass es da ist, das Gute, und jemanden erreicht. Das, was wir so oft Wunder nennen.
Irgendwann ist für den Moment aller Seelenschmerz gesprochen, sind die verfügbaren Tränen des Tages getrocknet. Irgendwann atmet man erst einmal wieder durch, bevor die nächste Welle kommt.
Aus dem komplett verglasten Zimmer tönt inzwischen tatsächlich auch Lachen. Erst ein kleines, bitteres Entspannungslachen, dann ein tiefes, ersehntes. Eines, das so lange darauf gewartet hat, wieder vorkommen zu dürfen. Ein dankbares Lachen. Aus drei Kehlen, die nun alte Geschichten aufwärmen. Nichts hilft besser gegen eine ungewisse Zukunft als gute alte Geschichten.
Ihn schmerzt jede Erschütterung. Und dennoch hat er lange nicht so gerne unter Tränen gelacht. Und sich die Wange streicheln lassen, die Hände, die wenigen heilen Teile seines Körpers, der nach Berührung hungert.
Dann sind alle Kräfte aufgebraucht. Einer der Ärzte steht still an der Tür und nickt über die Szene im Raum.
„Danke für alles, was Sie in den letzten Wochen hier für ihn getan haben“, sagt eine der Frauen.
„Ach, wissen Sie, wir beherrschen nur Handwerk. Seinen Lebensmut haben nicht wir ihm zurückgegeben. Kommen Sie wieder.“
Epilog: Der zerschmetterte Oberkörper, dem die Ärzte eine nie mehr wieder wirklich einsetzbare Körperkraft diagnostizierten, baute später – zusammen mit einem unzerstörbaren Willen – allein ein Haus um. Behindertengerecht. In dieses trug er den Querschnitt einer jungen Frau, die trotz einjährigem Kampf ums Überleben nie böse wurde. Ihr körperliches Handicap gestaltete sie zu einer beruflichen Selbstständigkeit. Sie unterstützt Rollstuhlfahrer, die mehr von der Welt entdecken wollen, und reist einfach voraus. Wäre man zynisch, könnte man sich über die Verantwortung des Unfallverursachers Gedanken machen. Die beiden sind es nicht. Sie leben.