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SEINE WAHL DER ELEMENTE

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Er war ein gutes Stück durch die Nacht gefahren. Bis hinaus an den Starnberger See. Der war nicht gerade nebenan. Er hatte sein Ziel geplant, es war keine kurz entschlossene Idee gewesen. Nicht bei einem Denker wie ihm.

Er hatte den Wagen geparkt, war noch einen Moment sitzen geblieben und hatte die Lieblings-CD zu Ende gehört. Ein Sampler. Lou Reed & Co, bestes Ohrenfutter für eine Fahrt durch die Nacht, zu einem Ort, mitten in der Nacht.

Und er hatte ein paar Zigaretten unterwegs geraucht. Wieder etwas, das seinen Eltern nicht besonders gefallen würde. Es war ein Nichtraucherwagen. Nur geliehen für diesen Abend.

Auf dem Beifahrersitz lag ein Platon-Band. Einfaches Grundsatzfutter für Philosophiestudenten. Im 6. Semester eigentlich längst abgefrühstückt, aber das Höhlengleichnis war schon immer Fundament seiner Denkspirale gewesen und mit – oder trotz – Kant, Heidegger und Hegel auch geblieben. Man kann sich verrückt denken, wenn man sie alle durchdenken will.

Er strich noch einmal über den ramponierten Einband und stieg schließlich aus. Ging langsam vom Parkplatz über die Promenade und sah sich den scheußlich matten, mondbeschienenen See an, der nun so erschreckend dicht vor ihm lag und rief.

Am Ufer zog er sich bis auf die Badehose aus und warf seine Kleidung auf einen Stapel. Dann legte er das Portemonnaie, ohne nennenswerten Inhalt, sorgfältig obenauf. Kaum Geld, aber die Papiere würden sich finden lassen. Mussten sich finden lassen. Es war wichtig, dass sie gefunden wurden. Nur der bernsteinfarbene Siegelring mit dem Familienwappen blieb am Finger. Den nahm er mit.

Das Wasser war kalt. Nachtkalt, herbstkalt, sterbenskalt.

Aber er watete entschlossen hinein, gleichförmig, Schritt für Schritt, bis er schwimmen konnte. Und dann schwamm er.

Stoisch. Weit hinaus, sehr weit.

Für einen mittelprächtigen Schwimmer sind zwei Kilometer durch einen nächtlichen, kalten See schon etwas. Und genau so hatte er sich das auch vorgestellt, dass es ihn anstrengen würde. Dass es ihn an die Grenze seiner Kräfte bringen würde. Die schon so lange aufgebraucht waren von der Suche nach dem Sinn und dem Sein. Und von allem dazwischen, das zu viele Ungereimtheiten in sich trug, von unzähligem Scheitern an dem Wie, Warum und Wofür. All das, was sich einfach nicht lösen ließ und somit anders gelöst werden musste.

In der Mitte des Sees stellte er das Schwimmen ein und versuchte, seinem Plan entsprechend, zu gehen. Ließ sich von der Tiefe ziehen. Von der dunklen Tiefe des Wassers, von der Tiefe in sich selbst. Von der Tiefe der gesamten, unerlösten Welt, die hier in der Mitte des Sees ihre Erlösung endlich erfahren sollte.

Aber so unerlöst ist sie gar nicht, die Welt, dass sie es einem leicht machen würde, bei kaum existentem Wellengang über dir zusammenzuschlagen und dich hinabzuziehen, in die ersehnte Dunkelheit. Sie ist kalt, sie raubt dir Kraft, bringt dich an deine Grenze. Aber sie lässt dich nicht einfach abtauchen, ohne Widerstand, wenn du den Reflex des Ruderns kennst.

Rudern, um noch einmal Sauerstoff zu atmen anstatt der schmutzigen schwarzen Suppe, die dir die Lunge platzen lassen soll. Die dich würgen und heulen lässt mitten auf dem See, erschöpft vom Schwimmen und vom Leben, aber der nicht ausreichend nachzugeben ist, um dich komplett aufzugeben.

Was für ein Wahnsinn, auch hier zu scheitern.

Auch hier im Wasser, über hundert Meter tief, wieder eine Höhle. Menschliche Beschränkung und entsetzliches Scheitern zwischen Mutmaßung und einsehendem Denken.

Ach, Platon. Welch unbeschreiblich tiefer Fluch im Sein.

Er hatte die große Hoffnung, dass zumindest seine kaum mehr existenten körperlichen Kräfte es regeln würden, als er schließlich ergeben zurückschwamm. Dass sie ihn einfach endgültig verlassen würden und er sinken würde. Versinken im Nichts. Ohne Gegenwehr. Ohne Reflex.

Aber Wasser war einfach nicht sein Element.

Er erreichte tatsächlich das Ufer. Wurde kotzend und zitternd zurück ins Leben geschwemmt. Fror im matten Mondschein. Zog sich wieder seine Kleidung an. Steckte sein Portemonnaie zurück in die Hosentasche. Mit allen Papieren, die nun nicht mehr gefunden werden mussten.

Schleppte sich zurück zum Wagen, zu Platon und einem verrauchten Innenraum, der seinen Eltern keine Freude machen würde. Fuhr nach Hause, schlief drei Tage, kurierte seine Erkältung aus und schrieb in sein weltzerfressenes, sinnsuchendes Tagebuch. Vom verzweifelten Scheitern auf dem See. Er ging wieder zur Uni. Zu mäßig amüsanten Partys und zu Familienfesten. Lachte über Witze, putzte sich die Zähne, lebte Banalitäten. Er schlief wieder mit seiner Freundin, teilte Intimität, sprach von Liebe.

Und er schwieg. Über sein verzweifeltes Scheitern auf dem See.

Und darüber, dass Wasser einfach nicht sein Element war.

Einige Monate später besorgte er sich einen Leihwagen. Einen kleinen, ein günstiges Modell. Vollgetankt, auch der handliche Reservekanister. Auch diesmal fuhr er weit hinaus, auch diesmal rauchte er eine Zigarette, bevor er sie in den nassgetränkten Innenraum warf und losließ.

Alles.

Den bernsteinfarbenen Siegelring mit dem Familienwappen an der rechten Hand. Nur durch diesen konnte sein Bruder ihn später identifizieren. Und der trägt ihn nun, seit jenem Tag, durchs Leben. Und hat sein eigenes, jadegrünes Duplikat für alle Zeiten abgelegt.

Ach, Platon. Welch unbeschreiblich tiefer Fluch im Sein.

Der beste Suizid ist immer noch sich tot zu leben

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