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Köstliches in Köslin
ОглавлениеDem Trubel der Hafenkirmes entflieht er zurück zur Stadt. Vorbei am Bahngelände, wo die Erholungssuchenden zu Hunderten einem Zug entsteigen, vorbei an Minigolf-Anlagen und Flohmarkt, wo sich Tausende drängeln, und durch den Stadtwald gelangt er wieder in die City. Auch hier flanieren die Sonntagstouristen, ergehen sich zwischen Nachkriegszweckbauten nahe dem Dom. Der dem Gelato verfallene deutsche Radler ersteht an einem Stand am Rande eines grünen Boulevards drei Kugeln des polnische Lody, wie das Speiseeis hier heißt, läßt es sich auf einer Parkbank schmecken und verlässt danach den überlaufenen Ausflugsort mit Ziel Köslin.
Über das sanft hügelige Pommernland zieht sich das Band der Nationalstraße 11. Auf den Tafeln am Rand der Chaussee werden neben der nahen Wojwodschaftshauptstadt Koszalin (Köslin) die Namen der viele hundert Kilometer entfernten Großstädte Bydgoszcz (Bromberg) und Poznan (Posen) genannt. Mögen die vollbesetzten Ladas und Polski Fiats, die an ihm vorbeibrausen, solche Ziele ansteuern, ihm fallen an diesem späten Sonntagnachmittag auch die knapp dreißig Kilometer zur nächsten Großstadt schwer. Nach zwei Dritteln der Strecke streckt er sich deshalb unter einem Baum am Rande eines Seitenwegs aus. Ein mildes Licht liegt auf den Rüben- und Kornfeldern Pommerns: 17 Uhr, tea time ohne Tee, vor dem Schlusspurt nach Köslin ein letztes Verschnaufen und Besinnen zwischen einst kriegsüberzogenen Äckern.
In der Gebietshauptstadt folgt er nach Unterqueren der Bahngeleise dem mehrspurigen Stadtring nach rechts zum Bahnhof. Auf dem Vorplatz drängeln sich Jugendliche in Massen, Nahverkehrsbusse treffen ein. Es ist ein reges Kommen und Gehen. Da er keine Stadtkarte entdeckt, fährt auch der Radler stracks weiter, biegt vom Ring zum Zentrum ab und findet dort am Taxistand die gewünschte Auskunft.
Die Herberge von Koszalin ist in der oberen Etage einer Technikerausbildungsstätte an einer der großen Ausfallstraßen versteckt. Das Drumherum der Anlage aus den sechziger Jahren ist arg heruntergekommen. Die Aufnahme in den blitzsauberen Herbergsräumen ist dafür umso freundlicher, das Interieur geradezu liebevoll gepflegt, mit Teppichen auf dem Flur und Tischdeckchen auf den Schreibgelegenheiten im Aufenthaltsbereich.
Die Dame am Empfang, der fürsorgliche Typ in den sogenannten besten Jahren, spricht kein Wort Deutsch oder Englisch. Aber Karl hat mittlerweile schon eine gewisse Routine darin entwickelt, mit seinem Minimalwortschatz in Polnisch auszukommen und sich mit einigen vorher zurechtgelegten Variationen der Standardsätze aus dem Reisewörterbuch verständlich zu machen. Das gewünschte Einzelzimmer ist nicht verfügbar, auch kein Gruppenleiterzimmer wie in Swinoujscie. Das Privileg, das ihm diesmal zuteil wird, ist ein Sechszehn-Betten-Schlafsaal ganz für ihn alleine. Dabei ist die Herberge durchaus nicht leer, einige Familien sowie eine ganze Schulklasse haben hier Station gemacht.
In den properen holzverkleideten Waschräumen grassiert die gleiche Zahnpasta-Seuche wie in Swinemünde. Auch hier sind einige Toilettenränder und Türklinken mit weißer Paste bestrichen. Welch unerwartet köstliche Erfrischung für das Gesäß! Der Schelmenstreich macht in diesem Sommer in Polens Herbergen offenbar Schule.
Aber auch im positiven Sinne ist man in Koszalin zuvorkommend. „Gdzie moge zaparkovac mój rower? Wo kann ich mein Fahrrad abstellen?“ lautet eine seiner präparierten Fragen. Daraufhin weist ihm die freundliche Dame am Empfang den Treppenabsatz vor der Etagentür als Parkplatz an. Seinen Drahtesel in solch sicherer Obhut wissend, macht er sich zu Fuß auf in die Stadt.
Den weiten Zentralplatz dominiert das moderne Rathaus mit einer großen Uhr an seiner Stirnseite. Eine diagonale Pflasterung verleiht der Freifläche eine gewisse Dynamik. Auf dem vorderen linken Teil steht ein Pavillon mit Ausschank. Davor sind weiße Plastikstühle und Tische aufgestellt, ein kleiner Biergarten im Herzen der Stadt. Auf Mauerabsätzen hocken plaudernde Jugendliche, beobachten das Kommen und Gehen der Flaneure, bevor sie selber den Platz überqueren oder um die Ecke zur Meile der Imbisslokale und Restaurants abbiegen.
Hier sind neben einigen polnischen Lokalen die bekannten Marken des weltweiten fast food business versammelt. Die breite Hauptverkehrstraße vom Zentrum zum Stadtring ist trotz aller Hässlichkeit anscheinend die Bummelmeile für den Sonntagabend. Das moderne Grand Hotel für Geschäftsreisende und riesige Reklameflächen prägen neben den internationalen Billig-Restaurants das Bild dieser Verkehrsarterie.
Diagonal davon zweigt eine Fußgängerzone ab, die in einen Tunnel unter dem Stadtring zum Bahnhof mündet. Diesmal lässt sich der Besucher aus Deutschland auch durch die späten Öffnungszeiten des Feinkostsupermarkts nicht von warmer Kost abhalten. Und worauf fällt schließlich seine Wahl? Nicht auf den Vietnamesen am Rande des winzigen Parks im oberen Teil der Fußgängerzone, nein er folgt einem Dreigespann flotter Teenagerinnen in die transparente Mac-Welt. Hinter der gläsernen Front mit den schwungvollen gelben M-Bögen fühlt er sich einfach aufgehobener als hinter asiatischen Gardinen. So weit ist es mit ihm gekommen, dass er in der polnischen Provinz eine amerikanische Kette von seinem Hunger profitieren lässt!
Mit drei Argumenten weiß er sein anti-imperialistisches Gewissen zu beruhigen: Erstens ist die Gesellschaft einfach netter, wo sich das junge Polen drängt. Zweitens weiß er um die global bekannten Qualitätsstandards des Konzerns, um Sauberkeit und Frische der Salate. Und drittens gilt hier wie anderswo das Franchise-System, wird sein Geld also doch in polnische Taschen wandern.
Was die Qualität der Speisen anbetrifft, wird er nicht enttäuscht. Was ihn geradezu begeistert ist, dass die obligatorischen Gurkenscheiben seines Vega-Macs und natürlich auch der Salat einen lokalen Goût aufweisen, sie durch polnische Würze veredelt sind. Wie köstlich!
Der Abend klingt auf dem Zentralplatz aus. „Poprosze, jedno piwo. Bitte, ein Bier!“ Na dann, na zdrowie, zum Wohl, wünscht er sich selbst. Es schmeckt! „Was kommt denn dort für ein bunter Haufen?“ fragt sich der einsame Trinker vor seinem großen Krug. Es naht ein Trupp verkleideter Kinder und Erwachsener. Eine Zwergin als Sonne, ein hagerer Frosch, ein Storch mit hinderlich langem Schnabel, alle möglichen Märchenfiguren finden sich auf dem Platz ein. Ein schnauzbärtiger Lehrer-Typ im Bärengewand dirigiert seine Eleven zum Ringelrein.
Eine blonde Walküre um die Vierzig spielt sich mit wachsender Begeisterung an den eigenen Rundungen in den Vordergrund. Unter einem weit wallenden schwarzen Gewand wölbt sich anscheinend neues Leben. Eine späte Schwangerschaft? Wahrlich ein Grund, stolz zu sein. Aber sie übertreibt. Jedem Passanten, der einen interessierten Blick auf sie wirft, präsentiert sie mit schwappender Bewegung und aufreizendem Lächeln ihre scheinbare Leibesfrucht. Sie muss eine hinreißende Schönheit gewesen sein und ist es in Maßen immer noch. Auch vor dem Mann am Pavillon-Tresen kokettiert sie mit ihrem umgeschnallten Kissen-Kind im neunten Monat. Kölner Karneval? Nein, Kösliner Abendunterhaltung! Die Zuschauer amüsieren sich köstlich.