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Zwischen Kran und Westerplatte
ОглавлениеDas freundliche „Empfangskomitee“ der alten Leute ist auf der Suche nach Logiergästen für ihr Privatquartier. Die drei radelnden Westfalen, zwei schnauzbärtige Mittvierziger mit einem zwanzig Jahre jüngeren Dritten im Bunde, bleiben auf dem Perron in ihren Fängen hängen. Man wünscht sich gute Reise und sagt Adieu.
Karl wird auf dem Danziger Bahnhofsvorplatz von einem jüngeren Gastsammler abgefangen, der gleich mit seinem Polski Fiat vorgefahren ist. Der geschäftstüchtige Zimmerwerber lässt sich nicht so leicht abschütteln. Selbst der Hinweis auf die per Fax bestätigte Hotelreservierung animiert ihn nur dazu, den deutschen Besucher mit einem Preisvergleich überreden zu wollen. Der rheinische Radler muss ihm erst sein ehernes Geschäftsprinzip der Verlässlichkeit erläutern („Ich verlasse mich gerne auf die Zusagen meiner Partner, deshalb dürfen die anderen von mir Gleiches erwarten.“), bis der Hartnäckige von ihm ablässt.
Die Ogarna ist die südlichste auf die Motlau zulaufende Gasse der historischen Rechtstadt (Glówne Miasto). Ihr Name ist nicht sehr fein. Zu Deutsch heißt sie Hundegasse. Aber ihre Lage ist für ein Hotel hervorragend.
Wahrscheinlich haben die reichen Herrschaften der parallel verlaufenden Langgasse, der Dluga, hier abends ihre Vierbeiner ausgeführt oder ausführen lassen. Die Dluga, die Prunkstraße der Königin des Baltikums, und der Dlugi Targ, der Lange Markt, das goldene Herz der Stadt, liegen also nur um zwei Ecken herum. In seiner bescheidenen Absteige an einem Hinterhof zwischen Ogarna und Dluga „residiert“ er also jenseits des Touristentrubels und doch ganz nah dran an der Pracht.
Dieses historische Danzig ist phänomenal! Sobald er vom Bahnhof kommend vom breiten Ring in die Rechtstadt abgebogen war, hatte ihn dieser Eindruck überwältigt. Die nach dem Krieg in Ruinen darniederliegende tausendjährige Stadt haben die Polen in jahrelanger Kleinarbeit Stück für Stück, Haus für Haus wiederaufgebaut. Der Glanz ihrer Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert entstand neu. Selbst die bescheidene Ogarna, wo er Gepäck und Rad hinterlässt, nimmt mit dem historischen Flair zweier langer Reihen von Backsteinfronten gefangen.
Erst recht, als er sich vom Touristenstrom auf der Dluga durch das Goldene Tor (Zlota Brama) ziehen lässt und zurück über den Langen Markt bis zur Alten Motlau, ist er begeistert von den Restaurationskünsten der Polen und dem Charme der alten Stadt. Vom Grünen Tor (Zielona Brama) am Motlau-Ufer ist flußabwärts das Wahrzeichen der Stadt zu erblicken, das Krantor. Die ganze Motlau entlang bis zum Fischmarkt zieht sich die Kette von Restaurants, Caféterias und Bernsteinläden. Es ist, als ob halb Polen und jeder zehnte Nachfahre deutscher Ex-Danziger zu Besuch wären, solch ein Gedränge herrscht auf der hübschen Promenade.
Karl zieht es noch über den Fischmarkt hinaus, wo es an der Motlau etwas ruhiger wird. In dem Restaurant mit lauschigen Freisitz auf dem Vorplatz über der Mole genießt er gute polnische Küche und studiert in der Speisekarte zudem Danziger Stadtgeschichte. An gleicher Stelle, im selben Haus bot vor siebzig Jahren ein jüdischer Besitzer mit deutschem Namen den Besuchern aus Nah und Fern ein Varieté-Programm vom Feinsten. Braun angelaufene Fotos belegen, dass es nicht nur im Berlin der tollen Zwanziger „Willkommen, bienvenus, welcome“ hieß.
Die Lebensfreude der Protagonisten jener Tage, die auf den Fotos der Speisekarte in phantasievollen Kostümen posieren, wurde bald von Judenverfolgung und Krieg vertrieben. Um zum Mahnmal wider den Krieg zu gelangen, gibt Karl am nächsten Morgen seinem Drahtesel wieder die Sporen. Die Westerplatte liegt etwa 18 Kilometer nördlich an der Hafenausfahrt zur Ostsee. Mit deren Beschuss durch den deutschen Schlachtkreuzer „Schleswig-Holstein“ begann am 1. September 1939 um 4.45 Uhr der Zweite Weltkrieg.
Heute sind die Westerplatte und das darauf errichtete Mahnmal ein beliebtes Ausflugsziel. Hoch oben vom Kriegsdenkmal aus hat man einen weiten Blick über den Hafen und hinüber zur schmalen Badehalbinsel Hela, die wie ein ausgestreckter Arm in die Ostsee ragt.
„Prosze/bitte,“ und noch ein einiges mehr, sagt der Vater einer vierköpfigen Familie und hält ihm die Kamera hin. „Okay, tak, ja,“ erwidert der Nachfahre der Angreifer, die vor knapp fünfzig Jahren die Westerplatte ins Visier genommen hatten, und Karl schießt ein friedliches Foto von der polnischen Familie mit Westerplattendenkmal und Ostsee. Die Ausflügler sind’s zufrieden und nehmen ihm die Kamera wieder ab. „Dziekuje, danke!“ sagen sie lächelnd. Fast hätte er mit „Druschba/Freundschaft“ geantwortet. Doch er belässt es bei praktischer Völkerfreundschaft durch banale Handreichung und sagt zum Abschied schlicht und leise „serwus“ – was man auch hier versteht.