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Nach Danzig, umsteigen bitte!
ОглавлениеAuf Slupsks Bahnsteig spricht ihn ein altes Ehepaar auf Deutsch an. Der Markenname am Rahmen des eisernen Gefährten hat ihn verraten. Wohin des Weges und was denn ein solches Fahrrad koste? Trotz seiner 18 Gänge ist dieses Basic-Modell ausgesprochen preiswert gewesen. Er gesteht ihnen nicht, dass er bewusst den „billigen Esel“ mit auf die Tour genommen hat, damit sein fahrbarer Untersatz erst gar keine Diebesgelüste weckt. Sie verkneifen sich den Kommentar, dass sie den genannten günstigen Preis eher für teuer halten. Aber er meint es an ihren kritisch wägenden Blicken abzulesen. Vielleicht ist das Zweirad-Expertentum jedoch nur vorgetäuscht und wollen sie lediglich mit ihm ins Gespräch kommen.
Doch der Masuren-Express aus Berlin fährt ein, und er hat den Waggon mit den Hängegestängen für Fahrräder zu suchen. Ans Radhängen ist indes nicht zu denken. Denn die vorgesehenen Plätze sind längst vergeben – und mehr als das. Nachdem auch er noch seinen Drahtesel irgendwie dazwischengeschoben hat, ist der Räderraum gerammelt voll. Kurzhosige Deutsche im Radlerdress – auf Klappsitzen hockend oder stehend – verdrängen die Enge mit guter Laune. Karl verzieht sich in ein angrenzendes „normales“ Abteil, wo seine polnische Frage, ob noch ein Platz frei sei, mit freundlichem Nicken beschieden wird.
Draußen fliegt nun anscheinend vorbei, was er vor Slupsk durchradelt hatte, Pommerns Felder und Weiden. Hatten am Morgen noch leichte Nieselschauer ihren Anblick getrübt, leuchten sie jetzt geradezu in der Nachmittagssonne.
Drinnen stellt sich heraus, dass nur einer der jungen Mitfahrgäste seine polnische Frage verstanden hat. Die anderen drei – zwei Frauen mit einem Begleiter – sind deutsch wie er. Englische Taschenbücher lesend, reisen sie zur Masurischen Seenplatte. Als Karl mit seiner viele touristische highlights versprechenden Gdansk-Lektüre dagegenhält, ist eines der Mädels angetan und so spontan, ihre Mitreisenden zu einem Zwischenstopp in Danzig überreden zu wollen. Aber sie beißt bei ihren reiseplantreuen Kumpanen auf Granit.
Überhaupt erst nach Danzig zu gelangen, stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Lautsprecherdurchsagen und Klebezettel an der Abteilscheibe kündigen an: In Potegowo nur 30 Kilometer hinter Slupsk ist Schluss mit Eisenbahnfahren. Ungläubiges Staunen, als der Schaffner bei der Fahrscheinkontrolle nochmals darauf hinweist!
Auch im Nebenraum bei den Radlern herrscht Verwirrung. Reaktionen zwischen Panik und Fatalismus: „Den Anschlusszug in Danzig können wir vergessen“, meint der Kopf einer westfälischen Dreiertruppe. Ein sonnengegerbter Tourenveteran um die Fünfzig bleibt entspannt: „Was soll’s? Angekommen bin ich schließlich noch immer! Wann ist doch egal, schließlich haben wir Urlaub!“
Ein polnischer Fahrgast, der einigermaßen Deutsch spricht, beruhigt seine Mitreisenden ebenfalls. In Potegowo könne man den Bus nehmen. Die zagenden Radler fragen sich: Sind genügend Busse da für einen ganzen Zug? Und werden auch Fahrräder mitgenommen? Ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der „polnischen (Eisenbahn-)Wirtschaft“ legt sich wie Mehltau auf die Stimmung der in Slupsk noch frohgelaunten Radtouristen.
Einfahrt in Potegowo, einem Nest! Aber oho, neben dem kleinen Bahnhofsgebäude stehen auf einem großen Parkplatz Dutzende von Bussen. „Alle Passagiere aus dem Zug aussteigen. Nach Danzig in die bereitstehenden Busse umsteigen, bitte!“ tönt es aus den Lautsprechern.
Karl fährt mit seinem Rad an den ersten Bussen vorbei, um die sich schon Menschentrauben gebildet haben. Vor einem der hinteren Busse stoppt er. Die offenen Laderäume sind noch ganz leer, der hilfsbereite Fahrer verstaut dort unten den Drahtesel. Nach und nach füllt sich der Bus, schließlich sogar mit Rädern zwischen den Sitzreihen. Nach dem Motto „Die Letzten werden die Ersten sein“ sortiert sich Karls Bus in den vorderen Teil der Karawane ein. In Potegowo hat sich die Bahnlinie wieder der Nationalstraße 6 nach Danzig angenähert. Nach einem Kilometer auf einer Nebenstraße biegt der gesammelte Schienenersatzverkehr auf diese Autostrecke.
Und nach gut zwanzig Kilometern fährt eine komplette Zugbesatzung in Bussen auf dem Bahnhofsplatz von Lebork, der ehemaligen pommerschen Kreisstadt Lauenburg, vor. Dort warten Scharen von Reisenden aus der Gegenrichtung. Kaum hat die Ladung aus Potegowo ihre Fahrzeuge verlassen, entern die „Lauenburger“ die Busse. Offenbar funktioniert die „polnische Eisenbahnwirtschaft“, auch wenn es Probleme gibt!
Auf Leborks Bahnsteig steht schon der Zug nach Danzig einstiegsbereit. Er kommt den Radlern mit seinen typisch deutschen Zweiradabteilen recht bekannt vor. Es ist tatsächlich derselbe Zug, den sie in Potegowo verlassen haben. Weshalb genau er zwischen den beiden Orten als Leerfahrt unterwegs war, enthüllt ihnen niemand. Sei’s drum! Der Stimmungspegel steigt mit jedem Kilometer, den sie sich der Trójmiasto nähern, der Dreierstadt Gdynia-Sopot-Gdansk an der Danziger Bucht. Mit großem Hallo verabschieden sich die Masuren-Fahrer und die Danzig-Aussteiger. Um Viertel nach Vier bepacken jene wieder ihre Räder auf dem Bahnsteig von Gdansk-Glowna, dem Hauptbahnhof. Zum Empfang steht ein altes Ehepaar bereit, das sie auf Deutsch anspricht.