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Auf Pommerns „Elysischen Feldern“

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Am frühen Morgen bringt er seinen Drahtesel auf Trab. Selbst für das um acht Uhr öffnende gläserne Café-Bistro am Rathausmarkt kommt er einige Minuten zu früh. Wenig weiter weht ihm auf der Ausfallstraße nach Osten der verheißungsvolle Duft frischen Backwerks in die Nase. Aber er will erst einmal einige Kilometer strampeln, und außerdem läßt er seinen eisernen Gefährten nicht einfach achtlos und unbeobachtet vor einer Bäckerei stehen. Schade um die verschmähten Brötchen! Ade Köslin!

Bald hinter der Industriestadt mit ihrem durchaus eindrucksvollen Stadtring, der den Strom der fünf hier mündenden Fernverkehrswege kanalisiert, schwingt sich die Landschaft zu einigen Höhenrücken auf. Der Erste ist der Höchste. Am Ende der rasenden Abfahrt vom waldbestandenen Gollenberg lockt eine Raststätte in malerischer Umgebung.

Dem einzigen Gast tritt der mit roter Weste und Krawatte ausstaffierte Kellner ausgesucht höflich entgegen. Das polnische Frühstück inklusive Orangensaft läßt bei dem hungrigen Radwanderer keine Wünsche offen. Von dem eingelassenen Ei im Whisky-Glas ist er so angetan, dass er der Heimat davon sogleich per Handy berichten muss.

So gestärkt und beschwingt von den guten Wünschen der Hinter- oder besser am Rhein Zurückgebliebenen, liefert er sich an den nächsten Höhen ein Wettrennen mit einem Trecker, dessen Fahrer die Geschwindigkeitsbegrenzung für das Feldfahrzeug souverän ignoriert. Als er den schnellen Bauern auf der Standspur endlich abgehängt hat, klingelt in seiner Brusttasche das versehentlich nicht wieder abgeschaltete Mobil. Vor Schreck rutscht er auf die Asphaltkante und fährt fast in den Straßengraben.

Am anderen Ende meldet sich ein amerikanischer Kollege, der Korrespondent seiner Agentur in Riga. Karl hatte sich mit Richard für die darauffolgende Woche verabredet und ihn gebeten, dort auch das ein oder andere Treffen mit Dritten zu arrangieren. Er selber hatte bereits zwei Termine von Deutschland aus vereinbart. Beide amüsieren sich nun über die leicht bizarre Situation, dass sie Geschäftstermine zwischen einem lettischen Büro und einer polnischen Chaussee unter einen Hut bringen wollen.

„Wann wirst Du in Lettland eintreffen? Ruf’ mich doch am Vorabend Deiner Ankunft in Riga noch mal an, so dass wir uns vielleicht schon an Deinem ersten Abend in der Hauptstadt auf ein Bier zusammensetzen können.“ „Okay, ich melde mich morgen in einer Woche gegen sechs Uhr, wenn ich auf halbem Wege von der litauischen Küste nach Riga in Kuldiga zur Nacht bleibe.“ Das dortige Hotel „Johannes-Haus“ hatte Richard selber ihm empfohlen. Nun denn, das telephone date im ehemaligen Goldingen ist bereits getroffen, aber noch liegen Hunderte von Kilometern vor ihm. Und selbst das Tagesziel Danzig liegt noch in weiter Ferne. „So, good luck, see you next week,“ schließt Richard. „Thanks a lot, I’m looking forward to see ya.“ In der Tat freut sich Karl auf den hilfsbereiten Kollegen in Riga, den er bislang nur von seiner sympathischen Stimme am Telefon kennt.

Diese unerwartete Begegnung per Satellit mit einem Amerikaner im drittnächsten Land seiner Reiseroute erhöht den Radler-Elan um ein weiteres. Das Korn auf Pommerns Feldern steht hoch im Wuchs - und Karl gut im Saft. So setzt er bald über die Wipper. Doch natürlich heißt im langgestreckten, aber sehr kleinstädtisch wirkenden Slawno (früher Schlawe) der Fluß heute ebenfalls anders, Wieprza nämlich. Der nächste Ostsee-Zufluß, die Stolpe oder Slupia, gab auch der Stadt an seiner Furt die Namen: Stolp zu deutscher Zeit, heute Slupsk. Noch vor Mittag radelt er in diese Großstadt von etwa 100.000 Einwohnern hinein, die einst als das wirtschaftliche und geistige Zentrum Hinterpommerns galt.

„Gdzie jest dwozec? Wo ist der Bahnhof?“ fragt er eine ältere Dame an der Ampel einer großen Vorstadtkreuzung. Trotz scheinbar endloser Hauptverkehrsstraße ist es doch nicht mehr weit. „Hinter dem Viadukt links,“ sagt sie. Tatsächlich, nach der Bahnunterführung führt ein Abzweig zu einem stattlichen alten Bahnhof mit großer, heller Halle, digitaler Leuchtschrift und anderen Novitäten. Über zweihundert Kilometer am Tag auf dem Rad will er sich noch nicht zumuten. Und deshalb hatte er sich vorgenommen, in Slupsk den Masuren-Express von Berlin bis Elk (einst: Lyk) zu entern und bis Danzig an Bord zu bleiben. So würde er bereits an diesem Montag die Perle der Ostsee ausgiebig bewundern können – und das auch schon im Hellen.

Bis zur Abfahrt des Zuges nach Gdansk bleibt ihm noch über eine Stunde Zeit. Vor dem Bahnhof beginnt ein Boulevard, der den Besucher automatisch ins Zentrum der Stadt „saugt“. Seinen Drahtesel schiebend folgt er dem urbanen Sog über diese polnischen Champs-Élysées. Die Mittagssonne brennt auf die Passanten und Einkäufer. Ein Piwo und ein Lody bringen die verdiente Erfrischung.

Als reiche Handelsstadt war Stolp einst Mitglied der Hanse. Nach der Einnahme der Stadt durch die Sowjets im zweiten Weltkrieg wüteten Brände. Das Stadtpalais am großen Platz, auf den der lebensvolle Boulevard mündet, zeugt von vergangener Pracht und Zeiten lübischen Rechts. Zu 35 Prozent zerstört, ist die Industrie- und Handelsstadt Slupsk modern wieder errichtet worden.

Die Einkaufsmeile des Bahnhofsboulevards mit grünem Mittelstreifen für Fußgänger und Radler ist ein urbanes Schmuckstück, auch die Parkanlagen auf dem ehemaligen Stadtwall, wo Karl sich auf einer Bank niederlässt, um das Resümee der ersten Tage in einer Kladde zu notieren. Danach kehrt er zum Bahnhof zurück – vorbei an den Kiosken des Boulevard-Mittelstreifens von Slupsks „Champs-Elysées“. Im strahlenden Sonnenlicht genießt er in Bahnhofsnähe an einem Straßenausschank noch ein Bier: süßes Nichtstun auf einer Holzbank am Straßenrand – ein letzter Genuss auf Pommerns „Elysischen Feldern“.

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