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Die braven Punker von Trzebiatów
ОглавлениеDie Swina oder Swine, wie sie zu deutscher Zeit hieß, der Hauptmündungarm der Oder, verbindet Polens zweitgrößten Hafen, Stettin, mit der Ostsee. Die trichterförmige, eigentliche Oder-Mündung beginnt -zig Kilometer weiter südlich bei Stettin/Szczecin. Der Strom ergießt sich in das Stettiner Haff, das Zalew Szczecinski. Aus dem Haff fließt das Wasser westlich von Usedom und östlich von Wollin und eben in der Mitte zwischen beiden hindurch ab. Dies ist der eigentliche Schiffahrtsweg, zumal seit 1880 eine Landzunge im Süden Usedoms durchstochen wurde und diese auch für große Schiffe geeignete „Kaiserdurchfahrt“ die Verbindung verkürzte.
Das Morgenlicht verstärkt die Blautöne des Wassers und lässt das Weiß einiger Schiffsriesen leuchten, die auf der Ostseite der Swina am Kai liegen. Auch die „local residents“ an Bord der Fähre lassen sich von der Hafenszenerie faszinieren, ein polnischer Punker mit Irokesen-Frisur und Moped nicht ausgenommen. Eine Sicherheitsnadel im Ohrläppchen und ein Mercedes-Stern am Moped unterstreichen, dass er an Technik, Handel und Wandel interessiert ist.
Während der polnische Punker noch an seinem knatternden Motor-Zweirad werkelt, ist der deutsche Radler schon bald am Bahnhof, wo die Schienenverbindung Swinoujscies nach Stettin beginnt. Dahinter hat er die Nebenstraße nach Osten fast ganz für sich allein. Hier endlich steigt das Gefühl in ihm auf, in Polens tiefster Provinz angekommen zu sein. Die gerade verlassene Grenz- und Hafenstadt hatte mit ihren Einkaufsangeboten für Westtouristen und ozeantauglichen Schiffen am Kai immerhin eine gewisse Weltoffenheit offenbart.
Am noch frühen Sonntagmorgen kommt gelegentlich ein Fußgänger, Fahrradfahrer oder Auto entgegen. Dann hat er nur noch die Bahn zur Linken und üppige Natur zur Rechten. Aus dem Wald kommt schließlich die Auto-Hauptstrecke von der zweiten Swina-Fähre hervor. Doch nach einigen Kilometern kann er die südöstlich abknickende Schnellstraße nach Stettin wieder verlassen. Schließlich lautet seine Devise einstweilen: Go East!
Auf dem Parcours immer an der Ostsee lang nähert er sich nun Miedzyzdroje. Aber zunächst ist der Griff in den Rucksack fällig, zum Mobiltelefon. Es ist halb zehn Uhr. Und da gilt es einen heimischen Spötter eines Besseren zu belehren. Sein zwölfjähriger Sohn ist nämlich nicht nur ein TV-Werbung-Freak, sondern auch beschlagen in Polen-Witzen. Ein ums andere Mal hatte der Junior den reiseplanenden Senior mit der Abwandlung einer erfolgreichen Snack-Werbung aufgezogen: „Halb zehn Uhr in Polen ... Wo ist mein Fahrrad?“. Es tutet in der Leitung, die Satellitenverbindung klingt hervorragend. „Hallo Deutschland, es ist halb zehn Uhr in Polen, und ich sitze immer noch auf meinem Fahrrad! Kein Punker oder anderer Tunichtgut hat mir mein Zweirad entrissen. Punker scheinen hier im übrigen Mopeds mit Mercedes-Stern zu bevorzugen.“
Nachdem er die rheinische Familie am sonntäglichen Frühstückstisch von Papas und seines eisernen Gefährten Wohlergehen überzeugt hat, steuert er ins ehemalige Misdroy hinein. Dies war einst ein bevorzugter Badeort der Berliner, die per Schiff von Stettin aus anreisten. Heute begegnen einem hier wieder Nobelkarossen, aber mit polnischen Nummernschildern. Viele Neubauten, viele auf Prunkwirkung abgestellte Messingbeschläge – eine Hotellerie, die anscheinend darauf bedacht ist, auch die Sahne der Neureichen abzuschöpfen. Ganz augenscheinlich gibt diese Klientel sich hier ein Stelldichein. Soviel bemerkt er sogar auf seiner kurzen Durchfahrt.
Schon der Ortskern von Misdroy ist hügelig. Dahinter erheben sich die bewaldeten Höhen des Wolliner Inselkerns bis auf 115 Meter. Auf der schattigen Landstraße durch den Wolinski Park Narodowy (Nationalpark Wollin) gilt es kräftig in die Pedale zu treten. Die Steigung kostet den Radler einige Mühe, die reizvolle Landschaft belohnt ihn dafür. Nach der Abfahrt an der Rückseite des Inselkerns rastet er an einem Weiher einige Dutzend Meter abseits der Straße – eine sumpfumgebene Idylle mit großer Pflanzenvielfalt, zu deren Beschreibung es eines Botanikbuches bedürfte.
Auf der Brücke über den rechten Oderarm Dziwna verlässt der Radler Wollin. Die Ortsdurchfahrt von Dziwnów ist für ein Sommerfest gesperrt. Die Umgehungsstraße führt an den hübschen Bootsliegeplätzen der Dziwna entlang. In Dziwnówek verschmäht er eine weitere nach Süden und Stettin schwenkende Hauptstraße. Weiter ostwärts und nichts anderes! Lang streckt sich die schnurgerade aufsteigende Ferienstraße zwischen den Küstenwäldern. Zur Mittagszeit erreicht er Pobierowo, einen populäreren Urlaubsort als das sich mondän gerierende Miedzyzdroje. Jugendliche Camper-Trupps kommen aus den Wäldern, flanieren über die schlichte Ortsdurchfahrt mit Kiosken, Bierbuden, Minigolfanlagen und anderen Vergnügungen.
Der Wahl-Balte auf seinem Zweirad flieht die Ballungen der Erholungssuchenden und legt auf der ein wenig landeinwärts strebenden Nationalstraße 103 nochmals gut zwanzig Kilometer zu. Steigungen und Gegenwind auf freier Strecke lassen ihn diesen Entschluss fast bereuen. Aber nach einer Stunde ist auf einer leichten Anhöhe der Kirchturm von Treptow auszumachen. Hier muss es doch Stärkung geben! Einmal um den quadratischen Marktplatz des heutigen Trzebiatów herumgefahren, und dann ist unwiderruflich seine Wahl für die Mittagsrast getroffen. Und mögen die Lederjackenburschen vor der Pizzeria in dem alten Gemäuer auf dem Platzinneren noch so „obercool“ ausschauen.
Demonstrativ parkt er seinen fahrbaren Untersatz an einem Mauervorsprung direkt vor ihrer Nase und pflanzt sich ihnen gegenüber mit demjenigen seiner drei Rucksäcke auf, den er vom ermatteten Rücken schwingt. Den Zweiten lässt er an der Lenkerstange hängen, den Dritten auf dem Gepäckträger klemmen. Er verlässt sich darauf, dass sich auch polnische Provinz-Punker umso braver verhalten, je mehr Vertrauen man ihnen schenkt.
Die vier Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen, die an den Plastiktischen unter dem Mauerbogen des alten Rathauses sitzen, halten sich an ihren Bierflaschen fest. Sie blinzeln in die Sonne und mustern den eigenartigen Radreisenden, der wie von einem anderen Stern in die träge Mittagsruhe von Trzebiatów hinein geplatzt ist und sich an einem der weißen Gartentische auf dem kleinen Vorplatz breit macht.
Als sich keine Bedienung an seinem sonnigen, aber windigen Rastplatz einstellen will, geht er zum Bestellen in die polnische Pizzeria hinein. Zwei Mädels beschicken den Backofen, aber mit Bier, dem doch die Vier vor der Tür so genussvoll zusprechen, können sie nicht dienen. Er wird auf den Rathauskeller verwiesen. Tatsächlich, draußen hocken die Punker-Freunde direkt neben der ausgetretenen Steintreppe, die hinunter in die unterirdische Schänke führt.
Dort ist der Bierzapfer ganz begeistert, dass an seinem Tresen ein ausländischer Gast auftaucht, dem nach piwo, nach Bier dürstet und dem die Rockmusik aus dem Lautsprecher offenbar in die Glieder fährt. Sogleich versucht er, ihn als Besucher für ein Konzert im nahen Kolobrzeg zu gewinnen. Die Band sei eine der vielversprechendsten ganz Polens, begeistert er sich auf Englisch. Nun, wenn der deutsche Gast am Montag schon in Danzig und beim zweiten Konzert am Mittwoch bereits in Kaliningrad sein werde, sei es a pity. Aber trotzdem: Prost!
Wieder am Tageslicht, erweist sich, dass die braven Punker von Trzebiatów hinter ihren dunklen Sonnenbrillengläsern genau jenen Anstand verbergen, den er ihnen zugetraut hat. All sein Hab und Gut ist noch am Platze. Die Pizza hat einen polnischen Goût, sie mundet. Das Bier bringt verschwitzte Körperflüssigkeit endlich zurück. So hat alles seine Ordnung. Auch die vier Lederjackenburschen lassen sich das nächste Bier schmecken. Zwischendurch wird mit vorbeikommenden Stadtschönen geflirtet. Lazy Sunday afternoon in Trzebiatów.
Der Ressortleiter einer großen Berliner Zeitung, dessen klangvoller polnischer Adelsname – wie jener ihm Monate später verriet – zu Deutsch „von der Treptower Morgenröte“ heißt, hätte seine Freude an diesen kreuzbraven Trzebiatówskis haben können. Nur hat dieser Nachkomme des alten pommerschen Geschlechts der Trzebiatówskis den Herkunftsort seiner Familie noch nie gesehen. Dabei könnte er, wie der Fahrrad- und Rucksacktest bewies, dort am Stammsitz seiner Vorväter ... so sicher sein wie in Abrahams Schoß.