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Guten Morgen, Polen!

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„Dzien dobry!“ Klar und vernehmlich, cool und möglichst akzentfrei entbietet er dem Uniformierten am Zugang zur Fähre von Swinoujscie nach Swinoujscie seinen Gruß. Der „Fährmann“ winkt den rucksackbeladenen Radler durch, und schon befindet sich der Ostsee-Umrunder auf dem nur für Ortsansässige bestimmtem Pendel-Schiff von Swinoujscie-Stadtmitte hinüber zum Ostufer der Oder-Mündung. „Dzien dobry, Polska! Guten Morgen, Polen!“

Das Ziel der ersten Tagesetappe seines baltischen Zirkels, das ehemalige Swinemünde am Ostrand von Usedom, hatte er am Vorabend erreicht, nach frühmorgendlichem Start am Ausgangsort deutscher Osteuropakaufleute, in der Hansestadt Lübeck also. Davor hatte der radelnde Rheinländer eine halbwache Nacht auf Schienen verbracht.

In eigentümlichem Kontrast zum fernen Baltikum hatte er sich im Nachtzug aus Köln in Smalltalk mit der deutsch-ivorianischen Modedesignerin Tina geübt. Die schwarze Schönheit, die ihm nur bis zur Fashion City Düsseldorf als Reisegefährtin erhalten blieb, war eine rechte Plaudertasche und hatte außer ihrem Teint rein gar nichts mit der Schwarzen Madonna von Tschenstochau gemein, geschweige denn die Absicht, ihn nach Polen zu begleiten. Und doch wich sie ihm auch nach dem Abschied um ein Uhr morgens fürs Erste nicht aus dem Sinn. Im Schlummer bis Hamburg oszillierten seine Gedanken zwischen der schweigsamen polnischen Nationalheiligen und der kichernden charmanten Exotin.

Die Hansestadt Hamburg, wo sich nach vier Wochen Fahrt sein Kreis um das Baltische Meer schließen sollte, nahm er nur im Halbschlaf wahr. Die „Mutter der Deutschen Hanse“, Lübeck, war ihrerseits noch nicht voll erwacht, stellte er bei einer Erkundung nach seiner Ankunft um sechs Uhr morgens fest.

Da der Anschlusszug nach Rostock erst kurz vor sieben Uhr abfahren sollte, hatte er sich am Bahnhof aufs Rad geschwungen und war durchs Holstentor ins Herz der Backsteinpracht zum Rathausmarkt gefahren. Von hier hatte das Lübische Recht seinen Ausgang genommen, nach dem sich noch bis weit ins vorvergangene Jahrhundert die Ratsherren Revals, der heutigen estnischen Hauptstadt Tallinn, richteten. Nur wenige Frühaufsteher kreuzten die Spur des einsamen Radlers in der Fußgängerzone der alten Kaufmannsstadt. Nur die Straßenreiniger sahen ihn dort die Inschrift des Thomas-Mann-Steins studieren.

Ein milder Kaffee in der Stadtbäckerei mit Blick auf einen Markt, über den vor Jahrhunderten reiche Patrizier eilten, deren Geschäfte sich über den gesamten Ostseeraum und tief ins russische Reich erstreckten, brachte den übernächtigten Radler in Schwung. Ein letztes Mal kurvte er über das Pflaster, das ihn an ganz anderes als Geschäftliches erinnerte. Auf dem Weg in den Urlaub nach Schweden war ihm und seiner Familie sechs Jahre zuvor dort eine hochmusikalische Familie aus einer ganz anderen Ecke Europas begegnet. Die Kellys aus Irland hatten ihren Lastwagen zur Bühne umgebaut und boten eine begeisternde Show zwischen Folk und melodiösem Pop à la Beatles. Sechs Jahre später tingelten sie nicht mehr über Marktplätze, sondern verdienten Millionen. Patrizier, Pfeffersäcke und Ostseehandel, Kellys und CD’s – the times, they are a changing. Europas äußerster Osten und Westen trafen sich in seinem Kopf mitten auf dem Rathausmarkt.

Im Zug nach Rostock trafen auch die ersten polnischen Laute an sein Ohr. In der Reihe hinter ihm begutachteten und diskutierten eine junge blonde Frau und ihr dunkelhaariger Begleiter die Mitbringsel aus den Kaufhäusern der Hansestadt. Schräg vor ihm studierten zünftig mit derbem Schuhwerk, Kniebundhosen und Rucksack ausgestattete Wanderer ihre mecklenburgische Seen- und Wegekarte. Der sonnige Samstagmorgen versetzte nicht nur die Wanderfreunde in erwartungsvolle Vorfreude auf das weitere Wochenende.

In Bad Kleinen, wo einige Jahre zuvor auf dem Bahnsteig Schüsse gefallen waren, die die politische Szene Deutschlands erschütterten, konnte an diesem Morgen nichts die Idylle am Schweriner See trüben. Radler und Wanderer tummelten sich auf dem Perron. Im Bummelzug von Rostock nach Stralsund musste er schließlich notgedrungen ins Radlerabteil wechseln, den Drahtesel in Griffnähe. Nach der langen Bahnfahrt ging es ihm mittlerweile wie dem Reiter neben dem schnaubenden Pferd: Nichts konnte seine Ungeduld mehr zügeln. Und so warf er am Bahnfahrtziel Stralsund nur einen kurzen Blick auf die Backsteintürme der alten Hanse- und Schwedenstadt und beeilte sich, per Rad gen Osten voranzukommen.

Im einstigen Land der Junker ist eine neue glatt asphaltierte Bundesstraße nach Greifswald gezogen, die B96a. Der Radwanderer wird auf die parallel verlaufende alte Strecke verbannt, in der ein Stück Gutsherrenart fortlebt. Hier trappelten einst unzählige Pferdehufe und rumpelten die Kutschen. Die schattigen Alleen-Passagen bieten bei heraufziehender Hitze einen schätzenswerten Vorteil. Indes, die klassische Pflasterung verargt dem Radler den nostalgischen Genuss. Manch holperiger Kilometer wird zur Qual.

Nach gut dreißig Kilometern ist das nächste Mitglied im mittelalterlichen Hansebund erreicht, die alte Bischofs- und Universitätsstadt Greifswald. Auch in dieser Altstadt hat nach der Wende ein italienischer Eiskonditor Einzug gehalten und übt sein Kunsthandwerk aus, ein Labsal für den dem Gelato verfallenen Radler.

Mit der Bucht der Dänischen Wiek zur Linken geht es weiter Richtung Wolgast, wo eine Brücke hinüber zur Insel Usedom führt. Auf der Nebenstrecke über Kemnitz wartete auf ihn eine unerwartete Herausforderung. Die aufgerissene Straße im dörflichen Katzow gleicht einer Piste. Versandeter kann auch die Durchquerung eines sibirischen Weilers nicht ausfallen. Auf seiner gesamten Rundreise um den großen nordosteuropäischen Teich sollte sich solch eine „saharische“ Ortsdurchfahrt nicht wiederholen. Allenfalls auf freier Strecke im tiefsten Lettland widerfuhr ihm solches Ungemach, wurde er ebenfalls zu ehrenrührigem Tun für einen hardcore biker, zum Absteigen nämlich, gezwungen. Die „Katzower Befürchtungen“ hingegen (Wie soll das erst in Russland werden?!) erwiesen sich als völlig unangebracht.

Was die Katzower zu seinem Ärger erst neun Jahre nach der Wende zu Wege brachten, das war auf der Urlaubsinsel Usedom längst vollbracht. Den einfallenden Touristen ist die Straße bereitet. Und mit Bad Zinnowitz hat sich ein altes Seebad zu neuem Glanz herausgeputzt. Das Getümmel auf der langen Seebrücke hat „West-Niveau“. Die Hotels brauchen ebenso wenig den Vergleich mit den schleswig-holsteinischen Bädern zu scheuen. Die traditionsreiche Sommerfrische hat wieder einen Hauch von Eleganz angelegt. Die Ostsee und der feine Sandstrand haben eh die Zeiten überdauert.

Selbst für ein verspätetes Mittagsmahl war die Tageszeit zu weit vorgerückt. So setzte er den süßen Samstag im sonnigen Vorgarten des ersten Cafés am Platze fort, bevor er zum letzten Etappenstück zur „Schweinemündung“ in Polen ansetzte. Über Waldwege auf der Hochdüne führte die Fahrt – mit dem phantastischen Panorama des Baltischen Meers zur Linken. Dann zurück auf die Bundesstraße, damit sich die Ankunft am Zielort nicht bis in den späten Abend verzögerte. Hier streift der Blick zur Rechten das ruhige „Achterwasser“ zwischen Usedom und dem Festland, eine Fischeridylle.

Logischer Weise heißt das letzte Ostseebad auf deutscher Seite vor der polnischen Grenze Heringsdorf. Noch einige Kilometer zwischen Fußgängern mit deutschen Einkäufen – nur sie und Zweiräder dürfen hier die Grenze überqueren – und schon stand er am einst kaum passierbaren Eisernen Vorhang. Nun aber hob sich die Schranke problemlos. Kein Visum nötig! Guten Abend, Polen. Auf einer Schautafel mit Stadtplan orientierte er sich. Über eine gepflasterte breite Stadtwaldallee radelte er nach Swinoujscie hinein und an der ersten Kreuzung über die Ringstraße nach rechts.

Da er sich keines fotografischen Gedächtnisses rühmen kann, steuerte er einige hundert Meter weiter im Gewirr einer Vorstadtkreuzung mit fünf zusammenlaufenden Straßenzügen einen abseits parkenden Lieferwagen an. „Gdje jest / Wo ist,“ fragte er den Fahrer, die Adresse radebrechend, und hielt ihm das Fax mit der Bestätigung des polnischen Jugendherbergsverbands unter die Nase.

Und da setzte der übliche Schock bei der ersten realen Begegnung mit einer fremden Sprache ein, die man frisch aus einem Reisesprachführer „erlernt“ hat. Der freundliche junge Klempner parlierte munter drauf los, und er identifizierte in dessen Redefluss mit Mühe die Worte für „zweite“ und „links“. Gestikulierend die Richtung anzeigend rekapitulierte er, und sein Wegweiser im Blaumann bestätigte nickend. Mit nagendem Zweifel im Nacken fuhr er weiter. Aber siehe da, als er an der zweiten Ecke nach links abbog, war dies zumindest die richtige Straße.

An der angegebenen Hausnummer fand er nur ein verschlossenes dreigeschossiges Schulzentrum vor. Doch nach einiger Irritation entdeckte er in der Nebenstraße durch ein Tor im Maschendrahtzaun den Zugang zum Hintereingang. Eine Meute von Mädchen und Jungen belagerte die Glasscheibe im Vorraum. Dzien dobry! Die Rezeptionistin Elzbieta spricht – Gott sei Dank – Deutsch. Er hatte zwar polnische Sprachbrocken zu bieten, aber keinen einzigen Groszy, geschweige denn Zloty.

Wo denn am Samstagabend noch Geld zu tauschen sei – diese Frage brachte sie zunächst ins Grübeln. Ein Lehrer der Schülerreisegruppe half ihr auf die Sprünge. „Ach ja, im Stadtzentrum, in der ulica Monte Cassino befindet sich ein Bankomat. Aber ob der auf Deine Karte Zloty herausgibt?“ Also auf zum letztem Fahrradtrip des ersten Etappentages. Er memorisierte Elzbietas Erläuterungen auf dem Stadtplan und kurvte weisungsgemäß zum City-Bankenviertel in der Nähe der Oder-Fähre.

Die nette Blondine war selber überrascht, als er eine halbe Stunde später mit fast druckfrischen Scheinen wieder vor ihr stand. Der ausländische Gast bekam das Privileg eines Gruppenleiterzimmers im Erdgeschoss. Auch für das Fahrrad, das er auf Elzbietas Empfehlung mit ins Haus nahm, bot der Dreibettenraum genügend Platz. Sicher verschlossen, wie es dort war, trennte er sich endlich von seinem Gefährt und einzigen Gefährten und zog, nachdem er im Gemeinschaftswaschraum den Schmutz und den Bartwuchs von zwanzig Stunden beseitigt hatte, zu Fuß erneut in das Zentrum von Swinemünde.

Von der alten deutschen Hafen- und Fischerstadt an der Oder-Mündung sind an den beiden zentralen Plätzen immerhin einige Bürgerhäuser stehen geblieben. Auf dem Weg dahin säumen Wohnsilos der sozialistischen Ära den Weg. Im kleinen Banken- und Einkaufsviertel im Stadtkern verbreitet der neue Kapitalismus bereits etwas Glanz in Glas und Beton.

Zusammen mit anderen Samstagabend-Spaziergängern betrachtete er an der Kaimauer den kleinen Fährverkehr hinüber zur Insel Wollin, die zusammen mit Usedom vor dem Stettiner Haff einen Sperriegel bildet und hier eine schmale Durchfahrt zur Ostsee lässt, die Swina. Lastautos, polnische Kleinwagen, Mopeds und Fußgänger benutzen den breiten Swina-Pendler. Vergeblich hielt er nach einem Ticket-Verkaufsschalter Ausschau. Aber das würde sich schon am Sonntagmorgen finden.

Im Straßenrestaurant am Hafenrand saßen reichlich viele Gäste in der Abendsonne. So einladend es wirkte, konnte er sich dennoch nicht zur Einkehr entschließen. Der Supermarkt neben dem Schulzentrum hatte es ihm angetan. „Samstags bis 21 Uhr geöffnet“ hatte er beim Verlassen seiner Herberge gelesen. Von deutschen Ladenschlusszeiten nicht verwöhnt, wollte er sich diesen Verbraucherkomfort im neokapitalistischen Polen nicht entgehen lassen.

Und so verspeiste er denn die kurz vor Neun erstandenen Einkäufe nur in Gegenwart seines eisernen Gefährten – statt in netter Runde gegenüber der Fähre. Für einen letzten Abendspaziergang verließ er nochmals das Herbergszimmer. Zwischen sechsstöckigen Plattenbauten folgte er den Spuren zweier wasserstoffblonder Damen in bunten Plastiktrainingsanzügen, die ihre Pudel Gassi führten. Verwundert registrierte er den günstigen DM-Zloty-Kurs in der Wechselstube. Auch die Preise der anderen Läden der Geschäftsreihe im Erdgeschoss des Plattenbaus dürften für Tagestouristen aus den deutschen Usedom-Ostseebädern verlockend sein.

Rechtzeitig zum Torschluss der Herberge um 22.30 Uhr überquerte er den Bolzplatz zwischen Supermarkt, Wohnblocks und Schulzentrum. Mit den Letzten der unermüdlichen zehn- bis zwölfjährigen Fußballer trat er ins Haus. „Dobranoc, Elzbieta.“ „Gute Nacht, Karl! Das Warmwasser ist leider ausgefallen.“ Trotz kalter Dusche fiel er bald in einen tiefen Schlaf.

Frühstart am Sonntag! Erneutes Zähneputzen zusammen mit lustig schnatternden polnischen Schulkindern. An Zahnpasta scheint im neuen Polen kein Mangel zu herrschen. Am Vorabend war er denn auch einigen unbekannten Attentätern auf den weißen Leim gegangen, indem er sich in der schlecht beleuchteten Toilette arglos auf den – offenbar mit Paste präparierten – weißen Klobrillenrand gesetzt hatte. In der hellen Morgensonne passierte ihm das nicht noch einmal.

Nach kargem Frühstück mit den Resten der Einkäufe des Vorabends schob er seinen vollbepackten Drahtesel tickend durch den Herbergsflur. „Do widzenia, Elzbieta, auf Wiedersehen.“ Und der gute Geist des Hauses antwortete in bestem Deutsch: „Gute Reise und bis zum nächsten Mal.!“ „Dziekuje, danke,“ erwiderte er und dachte: „Na ja!“

Durch wunderschönes Morgenlicht radelte er wieder zum Hafen, sich erneut wundernd, dass die zweisprachigen roten Schilder zur Prom/Fähre in die Gegenrichtung wiesen. Als er sich in der Innenstadt mit dem Fahrrad in die Spur zum bereitliegenden Swina-Pendler einfädelte, kam schließlich die Erkenntnis. Neben etwas Polnischem stand dort „For local residents only“ zu lesen, „Nur für Ortsansässige!“

Doch darauf lässt er es nun ankommen. Denn der Blick auf die Karte verheißt einen Riesenschlenker nach Süden, wenn er sich für die zweite Fähre entscheiden sollte – ein völlig unnötiger Umweg auf der Fahrt entlang der Ostsee-Küstenlinie.

„Dzien dobry!“ Klar und vernehmlich, cool und möglichst akzentfrei entbietet er dem Uniformierten am Zugang zur Stadtfähre seinen Gruß. Der „Fährmann“ winkt den rucksackbeladenen und offenbar unverdächtigen Radler durch, und schon befindet sich der Ostsee-Umrunder auf dem Schiff von Swinoujscie-Stadtmitte hinüber zum Ostufer der Swina-Durchfahrt, das ihn – wie die braven Swinoujscier – zudem gratis transportiert. Er entschuldigt sich innerlich beim polnischen Steuerzahler für sein nassauerndes Verhalten und fügt frohgemut und dankbar hinzu: „Dzien dobry, Polska! Guten Morgen, Polen!“

Baltischer Zirkel

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