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Lucia

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Ungläubig blickte Lucia auf ihr Spiegelbild. Die Fremde, die sie darin sah, hatte rein gar nichts mit dem aufgeweckten, manchmal etwas zu temperamentvollen, jungen Mädchen zu tun, das sie zum Leidwesen ihres Vaters in Wirklichkeit war. Das volle pechschwarze Haar, welches sie sonst am liebsten offen trug, wand sich jetzt kunstvoll aufgesteckt um ein glitzerndes Diadem. Das apricotfarbene Ballkleid ließ die dunklen Augen sinnlich leuchten und betonte Formen ihres Körpers, welche sie bisher noch nie an sich wahrgenommen hatte. Dabei wanderte ihre rechte Braue in die Höhe, so wie immer, wenn Lucia mit etwas unzufrieden war. Jede andere junge Dame ihres Alters wäre entzückt gewesen, sich selbst so zu sehen. Schließlich war heute der wichtigste Abend in ihrem bisherigen gesellschaftlichen Leben.

Ihr Debüt!

Doch Lucia hatte kein Interesse daran, in die Gesellschaft eingeführt und somit unfreiwillig auf den Heiratsmarkt befördert zu werden. Trotzig zog sie sich die lästigen Ohrgehänge ab und warf sie auf den Frisiertisch. Kurz danach fanden sich dort auch das edle Kollier und das dazu passende Armband wieder. „Schon besser“, murmelte sie.

Lucia war das einzige Kind des Fürsten Frederic von Elms. Da dessen Frau schon sehr früh verstorben war, galt die ganze Aufmerksamkeit des trauernden Mannes seiner geliebten Tochter. Er nahm ihre Erziehung selbst in seine Hände und übergab diese Aufgabe nicht, wie allgemein üblich, einem Kinderfräulein.

Als Lucias Großmutter jedoch feststellte, dass dem Mädchen dadurch jegliche damenhafte Bildung verloren ging, ließ sie sich nicht davon abbringen, mit all ihrer Habe auf Elms einzuziehen.

Johanna von Elms war die Mutter des Fürsten und eine sehr resolute und rechthaberische Person. Doch jeder, der sie etwas näher kannte, wusste, dass sie im Grunde ihres Herzens eine gütige Frau war. Als Lucias Vater einst mit dem Wunsch an sie herantrat, seiner Beziehung mit der schönen und temperamentvollen Sophia ihren Segen zu geben, stieß er zunächst auf heftigsten Widerstand. Seine Auserwählte stammte aus einer südländischen Adelsfamilie und Johanna hätte es bedeutend lieber gesehen, wenn Frederic sich für eine der standesgemäßen Nachbarstöchter erwärmt hätte.

Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie sich allein um alles gekümmert und immer nur das Beste für ihren Sohn gewollt. Zumindest was sie dafür hielt.

Doch Frederic wusste, wie er seine Mutter überzeugen konnte und arrangierte eine Teerunde, zu der Sophia überraschend dazustieß. Es dauerte keine zwei Stunden, bis Johanna dem feurigen, liebevollen Geschöpf mit dem pechschwarzen Haar erlegen war. Natürlich bemerkte nur ihr Sohn die Veränderung in der Haltung seiner Mutter, denn sie konnte ihre Gefühle vor anderen gut verbergen.

Als er sich später von seiner geliebten Sophia verabschiedete, liefen dieser Tränen übers Gesicht. „Oh Frederic, sie wird uns nie ihren Segen geben!“, schluchzte sie verzweifelt in ihrem unwiderstehlichen fremdländischen Akzent.

„Wir haben ihn längst, mein Schatz!“, beruhigte er sie lachend. „Mach dir keine Sorgen. Suche lieber nach einer Näherin, die dir das Kleid deiner Träume schneidert!“

Dann dachte er einen Moment lang nach und noch ehe die sprachlose Sophia etwas herausbrachte, fügte er vorsichtig hinzu: „Nun, es wäre vielleicht ratsam, wenn dein Traumkleid und das meiner Mutter sich weitestgehend ähneln würden!“

Nach der Hochzeit entschloss sich Johanna dazu, die Amtsgeschäfte und das kleine, aber edle Schloss, ihrem Sohn zu überlassen. Sie zog sich in ihr Sommerhaus, an einem nicht allzu weit entfernten See, zurück. Alle waren überglücklich, als sich bei den Frischvermählten Nachwuchs ankündigte. Lucias Geburt war die Krönung ihrer Liebe und sie hofften auf weitere Kinder. Doch dazu sollte es leider nicht mehr kommen.

Eines Tages bekam Sophia heftige Krämpfe und erbrach sich ständig. Die besten Ärzte der Gegend wurden zu Rate gezogen, doch niemand konnte ihr helfen. Am dritten Tag ihres Leidens starb sie. Das war kurz vor Lucias viertem Geburtstag.

Frederic war am Boden zerstört und spielte mit dem Gedanken, auch seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch ein Blick auf seine kleine Tochter genügte, um diesen Gedanken beiseitezuschieben. Sie war das Abbild Sophias und hatte das gleiche Temperament wie ihre Mutter.

Fortan war das Kind ständig an seiner Seite. Sie lernte schnell reiten. Dies jedoch, zum Entsetzen ihrer Großmutter, im Herrensitz, weshalb sie auch allzu oft Hosen trug. Frederic fand das nicht weiter tragisch, sondern war stolz auf seine Tochter, die bald auch schießen und fechten konnte und einem Jungen in nichts nachstand.

Als Fürstin Johanna jedoch während eines ihrer Besuche aus dem Fenster blickte, musste sie sehen, wie die inzwischen Elfjährige eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Stallburschen führte. Das Mädchen saß rittlings auf dem heftig strampelnden Knaben und hieb kräftig auf ihn ein. Außer sich vor Entsetzen lief die Fürstin zu ihrem Sohn und forderte eine dringende Unterredung.

„Willst du irgendwann die Verantwortung dafür tragen, wenn es keiner der infrage kommenden Männer auch nur in Betracht zieht, deine Tochter zu ehelichen? Sie benimmt sich keineswegs damenhaft und ihr Erscheinungsbild lässt ständig zu wünschen übrig! Was soll aus ihr werden, wenn du eines Tages nicht mehr bist? Eine alte Jungfer, die weiß, wie man fechtet und reitet?“

Seine Mutter liebte ihre Enkelin über alles, dessen war Frederic sich wohl bewusst. Darum lenkte er ein. „Vielleicht hast du ja recht. Sie braucht eine weibliche Hand. Wenn du mir jemanden empfehlen kannst?“, bemerkte er einsichtig.

Doch sie machte eine abweisende Handbewegung und stellte fest: „Für solche Experimente ist es längst zu spät! Ich selbst werde mich um ihre Erziehung kümmern! Ich lasse das Sommerhaus räumen und meine Sachen hierher transportieren! Ich ziehe zurück nach Elms!“ Ohne die Zustimmung ihres Sohnes auch nur abzuwarten, rauschte sie hinaus und ließ den überrumpelten, aber nachsichtig lächelnden Mann zurück.

Damit brachen für Lucia harte Zeiten an. Ihre Großmutter überprüfte ständig ihre Garderobe, mäkelte unentwegt an ihrer Haltung und Aussprache herum und kritisierte ihre Manieren. Statt mit dem Vater auszureiten und nach dem Rechten im Umland zu sehen, hieß es nun Unterricht in Geschichte, Französisch, Musik, Tanz, Gesellschaftslehre, Malen und noch mehr Dingen, die man nach Lucias Meinung nie brauchen würde. Sie liebte ihre Großmutter, doch diese Liebe wurde in jener Zeit immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Johanna war eine sehr strenge Lehrerin. Immer dann, wenn sich Lucia oder manchmal auch ihr Vater darüber beklagten, sagte sie: „Tut mir leid, aber ich versuche nur auszumerzen, was in den Jahren zuvor versäumt wurde.“

Die unfreiwillige Schülerin versuchte alles Mögliche, um den Unterricht zu stören, doch für gewöhnlich zog sie dabei den Kürzeren. Als das störrische Mädchen vorsätzlich gegen die Tischmanieren verstieß, musste sie die Tafel hungrig verlassen und einen mehrseitigen Aufsatz über 'Etikette bei Tisch' verfassen.

Als sie ihr Werk der Großmutter später vorlegte, bat diese beinahe niedergeschlagen darum, Lucia möge Platz nehmen. Sie wies das Dienstmädchen an, ihnen Tee und Gebäck zu bringen und setzte sich ebenfalls. Eine Weile sahen sie sich nur schweigend an und Lucia hatte das Gefühl, unter dem strengen Blick der alten Dame zu schrumpfen. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, ging jedoch vom Schlimmsten aus. Als Tee und Plätzchen endlich serviert waren, gab Johanna der Dienerin mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich entfernen dürfe und führte gelassen ihre Tasse an die Lippen. Dann sog sie hörbar den Atem ein und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit wieder ihrer Enkelin zu.

„Warum wehrst du dich so gegen mich? Ich meine es wirklich nur gut mit dir, mein Kind. Was glaubst du, was aus dir wird, wenn du heranwächst und nicht in der Lage bist, dich in der Gesellschaft zu benehmen. Man wird mit dem Finger auf dich zeigen und kein Mann, der etwas auf sich hält, wird dich zur Frau haben wollen!“

Lucia zuckte trotzig mit den Achseln. „Ich brauche keinen Ehemann. Ich bleibe bei Vater! Wir sind uns genug!“

Johanna lächelte nachsichtig. „Kleines, das ist ein Irrtum! Dein Vater wird nicht immer für dich da sein. Und du allein kannst die Güter nicht verwalten. Es ist nun mal das Schicksal einer Frau, einen Mann zu ehelichen und ihm ein paar Erben zu schenken. Wenn du also nicht durch deine gute Erziehung und deine von Gott gegebene Schönheit einen Mann erobern kannst, der von Rang und Ehre ist und den du obendrein magst, wird man früher oder später eine Ehe für dich arrangieren. Und dann ist es egal, ob dir dieser Mann zusagt oder nicht!“

Lucia sprang auf. „Das würde mir mein Vater nie antun! Er hat meine Mutter geliebt und er würde mir dasselbe wünschen“, rief sie zornig.

Johanna ließ sich von dieser Ungehörigkeit nicht aus der Ruhe bringen. „Deine Mutter hatte alle Attribute einer Dame. Sie war schön, klug, elegant und wusste sich in jeder Gesellschaft zu benehmen. Dies und ihre große Lebensfreude waren es, die deinen Vater auf sie aufmerksam werden ließen! Willst du nicht, dass dir ähnliches Glück widerfährt und dir das Elend einer arrangierten Ehe erspart bleibt?“ Ruhig und bestimmt sah sie in das noch immer zornesrote Gesicht des Mädchens.

Lucia schwieg, aber ihr Blick hatte nichts von jener Kampfansage verloren, die sie der Großmutter von Anfang an gemacht hatte.

„Denke über meine Worte nach!“ Johanna erhob sich, trat an den Kamin und drehte Lucia den Rücken zu. „Du kannst jetzt gehen“, sagte sie leise.

Ohne ein weiteres Wort verließ das Mädchen den Raum.

Später stand sie an ihrem Fenster und sah dem Stallburschen sehnsüchtig dabei zu, wie er den Hengst ihres Vaters herumführte, um ihn zu bewegen. Das schöne Tier hatte sich kürzlich eine Sehne gezerrt und musste nun wieder langsam an die Belastung gewöhnt werden. Wie gern hätte sie jetzt ihre Reitkleidung angezogen und wäre ausgeritten. Natürlich nicht mit diesem lästigen Damensattel! Einem plötzlichen Impuls folgend, öffnete Lucia den Schrank und holte die Jungenkleider heraus, welche der Vater einst hatte für sie schneidern lassen. Zu ihrer Ernüchterung musste sie feststellen, dass sowohl Ärmel als auch Hosenbeine zu kurz waren. Auch im Umfang hatte sie sich inzwischen wohl verändert. Selbst wenn sie die Luft anhielt, war es ihr nicht möglich, die Schnüre zu schließen. Doch Lucia ließ sich von ihrem Entschluss nicht abbringen. Sie würde endlich wieder ausreiten und zwar so, wie es ihr Vergnügen bereitete und nicht wie es ihrer Großmutter gefiel. Entschlossen griff sie in ihre Schmuckschatulle und holte eine kleine Brosche heraus. Dann schlich sie aus dem Haus und lief zum Stall hinüber. Suchend ließ sie den Blick schweifen. Dort, wo zuvor der Bursche mit dem Hengst gewesen war, konnte sie niemanden mehr sehen.

„Jacob!“, flüsterte sie, als sie ihn in einer Ecke gewahrte.

Erschrocken fuhr der Junge herum. Er war etwa einen Kopf größer als Lucia und etwas zu dünn geraten. Es war derselbe, mit dem sie sich einst zum Entsetzen der Großmutter geprügelt hatte.

„Was kann ich für Euch tun, gnädiges Fräulein?“, fragte er mit übertriebener Ehrerbietung.

„Lass den Unsinn! Ich bin kein gnädiges Fräulein“, zischte sie ihn an.

„Oh doch. Ich brauche wirklich nicht noch einmal einen einstündigen Vortrag von Eurer Großmutter über Verhaltensregeln. Strafarbeit hat sie mir auch noch aufgebrummt, als sie mich das letzte Mal dabei erwischt hat, wie ich dich - Euch - unstandesgemäß ansprach“, stöhnte er vorwurfsvoll. „Und sie hat ja vielleicht auch recht! Mein Vater meint schon lange, dass das mit unserer Freundschaft nicht rechtens ist. Wir sind nun keine kleinen Kinder mehr und sollten den Tatsachen ins Auge sehen! Ich bin der Sohn des Stallmeisters und du ... Ihr seid meine Herrschaft.“

„Mach was du denkst, elender Angsthase!“, entgegnete sie beleidigt.

„Ja, für dich ist das alles einfach! Du musst ja auch nichts befürchten, wenn du mit mir sprichst!“, gab er vorwurfsvoll zurück und war dabei schon wieder in den gewohnten vertraulichen Ton zurückgefallen.

„Ha! Du hast doch keine Ahnung! Weißt du, was meine Großmutter mit mir macht, wenn sie mich hier erwischt? Dir schreibt keiner vor, was du anziehen sollst, wie du dich zu bewegen hast, wann du denken darfst oder Luft holen! Oder musstest du schon mal mit einem Buch auf dem Kopf durch den Raum laufen und darauf achten, dass es dir nicht herunterrutscht, während du peinliche Kreise drehst? Neulich musste ich sogar damit zu Abend essen“, schleuderte sie ihm entgegen. Ihre Stimmung wurde auch nicht wirklich besser, als sie das verräterische Zucken um seine Mundwinkel bemerkte.

„Und was sagt dein Vater dazu?“, fragte er neugierig.

Deine Großmutter weiß schon, was das Beste für dich ist, mein Kind“, versuchte sie die Stimme ihres Vaters nachzuahmen. Nun mussten beide herzlich lachen.

„Du musst mir helfen, Jacob!“, verlangte sie kurze Zeit später und hielt ihm die mitgebrachte Brosche unter die Nase.

„Nimm das und besorge mir ordentliche Reitkleidung. Probiere sie an! Wenn sie dir zu kurz ist, sonst jedoch passt, wird es schon recht sein. Verstecke sie hier. So kann ich vielleicht hin und wieder heimlich ausreiten, wenn Großmutter ihre Mittagsruhe hält.“

„Und wenn man mich erwischt?“, fragte er besorgt.

„Lass dich einfach nicht erwischen. Wenn die Sachen einmal da sind, bist du außer Gefahr! Ich verrate dich nicht“, versprach sie und er glaubte ihr das auch sofort.

„Gut!“, willigte er ein. „Gib ... gebt mir eine Woche Zeit.“

Lucia im Netz der Lüge

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