Читать книгу Lucia im Netz der Lüge - Carola Schierz - Страница 9
Leben im Exil
ОглавлениеFinn blickte zufrieden in die Runde. Alle waren gesund am Ziel angekommen und wenigstens vorerst in Sicherheit. Der Plan, den sie gemeinsam ausgearbeitet hatten, war bis ins letzte Detail aufgegangen. Sie hatten schon seit Wochen, Nacht für Nacht, einen Teil ihrer Habe in Sicherheit gebracht und im Wald versteckt. Sechs Stunden Fußmarsch lagen jetzt hinter ihnen. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er in die ungläubigen Gesichter seiner Verwandten und Freunde blickte.
Tore, der Bruder seines Vaters, trat heran und zog ihn zur Seite. „Was soll das, Finn? Warum gehen wir nicht weiter?“, fragte er mit unüberhörbarem Vorwurf in seiner Stimme.
Finn legte seinem Onkel den Arm um die Schulter und grinste ihm ins Gesicht. „Weil wir da sind!“
Tore machte sich von ihm los und zog die breite Stirn in Falten, so dass er aussah wie ein nordischer Kriegsgott. Seine rotblonde Lockenmähne wehte im Wind und der lange Bart kräuselte sich um seinen Hals. Für sein Alter war er noch immer ein wahrer Baum von einem Mann, was sicher nicht zuletzt auf seine Arbeit als Schmied zurückzuführen war. Seit Finns Vater vor inzwischen fünf Jahren starb, war sein Onkel für ihn so etwas wie ein Ersatzvater geworden. Auch dem jungen Mann konnte man seine nordischen Vorfahren deutlich ansehen. Er war groß und kräftig, und er hatte das unverkennbare hellblonde Haar, das für die Bora zum Erkennungszeichen geworden war. Allerdings trug er es lieber kurz.
„Du willst dich über mich lustig machen, nicht wahr? Aber das hat man davon, wenn man einem Grünschnabel das Kommando überlässt!“, schimpfte Tore.
„Zu deiner Erinnerung: Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Du hattest zu dieser Zeit schon eine fünfköpfige Familie zu versorgen und hast dich dabei sicher nicht wie ein Grünschnabel gefühlt!“
„Pah! Nicht die Jahre lassen einen zum Mann werden! Du hast gesagt, du hättest ein Versteck für uns gefunden, in welchem wir den Winter gut überstehen können und das obendrein noch einigen Luxus bietet.“ Demonstrativ drehte er sich im Kreis. „Ich sehe hier nur einen Bach, Bäume und Felsen.“
Finn nickte zustimmend mit dem Kopf und hob jetzt die Stimme, damit auch die anderen Bora ihn hören konnten. „Genau, das ist Punkt eins auf der Liste: Das Versteck! Wenn wir es nicht finden können, werden es die anderen auch nicht schaffen.“
Jetzt ging er, zum Erstaunen aller Anwesenden, auf ein großes Gebüsch vor einem Felsen zu und schob ein paar Zweige zur Seite. Dabei wurde der Eingang zu einer Höhle sichtbar. Überraschtes Gemurmel setzte ein.
„Punkt zwei: Eine Höhle wie diese ist ein guter Ort, um zu überwintern! Die Temperatur ist konstant und man ist vor Regen und Wind geschützt. Der versprochene Luxus besteht in diesem Bächlein hier, das auch durch die Höhle fließt. Und ein natürlicher Rauchabzug ermöglicht, dass wir am Feuer nicht ersticken werden.“
Jetzt machte er sich daran, eine Fackel zu entzünden und forderte sie auf, ihm zu folgen. Sie passierten den Eingang und stiegen in einem schmalen Tunnel abwärts. Dann öffnete sich vor ihnen ein riesiges Höhlengewölbe. Als sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, gewahrten sie, dass es nur ein Halbdunkel war, das sie umfing. Aus einer Ecke drang etwas Tageslicht in den steinernen Saal.
„Wie hast du das hier gefunden?“, fragte Sam, einer von Finns Vettern bewundernd.
„Das war ich nicht allein. Früher bin ich mit einem alten Freund in dieser Gegend jagen gewesen. Dabei haben wir zufällig diese Höhle entdeckt. Wir waren damals noch halbe Kinder und malten uns aus, wie es wäre hier zu leben und alles hinter sich zu lassen. Jetzt habe ich mich wieder an diesen Ort erinnert. Es gibt genug Platz für zweimal so viele Leute, wie wir es sind.“
Alle atmeten erleichtert auf und machten sich daran, ihr vorerst neues Zuhause so wohnlich wie möglich zu gestalten. Die Frauen richteten die Schlafplätze her und die Männer kümmerten sich um Brennholz und machten Feuer. Am nächsten Morgen würden die kräftigsten unter ihnen zu dem Ort zurückkehren, an dem sie ihre Sachen versteckt hatten und alles, was sie tragen konnten, herbringen. Alle waren erschöpft, doch es gelang ihnen nicht, zur Ruhe zu kommen. Die Freude über ihre geglückte Flucht war im Moment größer, als die Trauer um die verlorene Heimat. Alle waren davon überzeugt, dass sie eines Tages nach Reifenstein zurückkehren würden. Sie glaubten fest, dass Gott und Mutter Erde an ihrer Seite waren und die Gerechtigkeit siegen würde. Man betete für die Freunde und Verwandten in den anderen Siedlungen und dankte für den sicheren Unterschlupf.