Читать книгу Lucia im Netz der Lüge - Carola Schierz - Страница 4
Die Bora
ОглавлениеAls die Woche endlich herum war, hielt Lucia es nicht mehr aus. Sobald sich ihre Großmutter zurückgezogen hatte, schlich sie sich in den Stall und fand die ersehnten Kleidungsstücke am vereinbarten Platz. Sorgfältig sah sie sich um. Als sie sicher sein konnte, dass die Luft rein war, zog sie sich rasch um und sattelte ihre Stute. Leise führte Lucia das Tier aus dem Stall, schwang sich in den Sattel und galoppierte vom Hof. Es war ein wunderbares Gefühl, so dahinzujagen. Seit Monaten war sie nicht mehr auf diese Weise geritten. Das war nach Meinung der alten Fürstin höchst undamenhaft und somit für sie gestrichen. Das Mädchen versuchte ihren Ärger zu vergessen und gab sich voll und ganz dem Moment hin. Sie sog die frische Luft ein, erfreute sich an den leuchtenden Farben des Waldes und brachte schließlich auf einem kleinen Hügel ihr Pferd zum Stehen. Ihr Blick fiel auf die kleine Ansiedlung von Hütten, in der die Bora wohnten. Lucia fand diese Menschen schon immer überaus interessant und hatte ihrem Vater bereits unzählige Fragen zu ihnen gestellt.
Er hatte ihr erklärt, dass die Bora vor mehreren hundert Jahren aus dem Norden kamen. Sie waren damals Nomaden, ohne festen Wohnsitz. Irgendwann hatten sie sich in den verschiedensten Gegenden angesiedelt und waren nun in fast allen Ländereien des Königreiches zu finden. Da die Bora ihre eigene Kultur pflegten und hauptsächlich unter sich blieben, wusste man lange Zeit nicht allzu viel über ihre genaue Lebensweise. Das war Grund genug für Spekulationen und Misstrauen unter der Bevölkerung.
Um Unruhen zu vermeiden, erließ der damalige König einen Befehl. Dieser verpflichtete die Bora, sich den Gepflogenheiten und Sitten des Landes anzupassen und zumindest eines ihrer Familienmitglieder in die Dienste der jeweiligen Herrschaftshäuser zu stellen. Die Bora waren schon immer ein friedliches Volk und beugten sich dem Erlass widerstandslos. Sie gingen ihrer Arbeit nach und knüpften wirtschaftliche Kontakte. Manchmal entstanden sogar Freundschaften zur restlichen, überwiegend christlichen Bevölkerung. Doch sie mischten sich nie mit ihnen. Ein Bora heiratete stets eine Bora, selbst wenn er sich zur Brautwerbung auf eine weite Reise in andere Siedlungen begeben musste, um neues Blut in die eigene Gemeinde zu bringen.
Das auffälligste äußere Merkmal dieses Volkes bestand in der Farbe ihres Haares. Es war bei fast allen Bora hell- bis rotblond, und Lucia fand wunderschön, wie es in der Sonne glänzte.
Es gab aber auch noch andere Dinge, die die Bora von der normalen Bevölkerung unterschieden. Sie studierten die Abläufe der Natur aufs Genaueste und hatten ein hohes Allgemeinwissen, welches sie an ihre Kinder weitergaben. Man unterrichtete Jungen und Mädchen gleichermaßen, während im übrigen Land nur den Knaben Zugang zu einer allenfalls mäßigen Bildung gewährt wurde.
Lucia war von Stand und erhielt ganz selbstverständlich privaten Unterricht von ihrer Großmutter. Einem fortschrittlich gesinnten Mann wie dem Fürsten war es wichtig, dass ihr eine hohe Allgemeinbildung vermittelt wurde. Davon ließ er sich auch nicht mit dem Argument abbringen, dass zu schlaue Frauen manch einen Mann abschrecken würden. Mit dieser Gesinnung war er jedoch eher die Ausnahme. Die meisten Adelstöchter erhielten eine gute, aber eher einseitige Bildung. Politik gehörte definitiv nicht dazu und galt im Allgemeinen als reine Männersache. Nicht so bei Frederic. Für ihn wäre es unvorstellbar gewesen, Lucia nur aufgrund ihres Geschlechts unwissend zu lassen. In diesen Dingen unterrichtete er seine Tochter selbst.
Infolgedessen erschien es ihr einfach ungerecht, wie andere Mädchen und Frauen behandelt wurden. Besonders jene aus niederen Verhältnissen, die nicht einmal Schreiben, Lesen und Rechnen lernten. Darum war sie den Bora schon in dieser Hinsicht sehr zugetan.
Weniger wusste man allgemein über deren religiöse Ausrichtung, da sie ihren Glauben weiterhin sehr zurückgezogen auslebten. Damit sorgten sie immer wieder unfreiwillig für Misstrauen. Sie glaubten wohl auch an Gott, wie alle anderen Menschen hier, aber es wurde gemunkelt, dass sie heimlich alte Riten betrieben. Dies missfiel nicht wenigen Menschen und einige waren sogar verängstigt. Und mit dieser Angst wurde seit ein paar Jahren gearbeitet.
Einiges wies darauf hin, dass man die Bora loswerden wollte, doch Genaueres war Lucia nicht bekannt. Ganz entgegen seiner Art, wich ihr Vater ihren diesbezüglichen Fragen regelmäßig aus. Doch er machte kein Geheimnis daraus, dass er große Sympathien für diese freundlichen Menschen hegte und sich jederzeit für sie einsetzen würde. Fürst Frederic war ein Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, welcher ihm schon oft das Unverständnis anderer Landesfürsten eingebracht hatte. Viele Adelshäuser begründeten ihren Reichtum, indem sie ihre Untertanen rücksichtslos ausbeuteten und wurden mit der Zeit immer wohlhabender und mächtiger. In Elms hielt man es dagegen mit dem Leitspruch: 'Geht es den Untertanen gut, freut sich der Herr!' Natürlich fehlte es auch auf Schloss Elms an nichts, jedoch stiegen die Ansprüche nicht so ins Unermessliche, wie es andernorts der Fall war. Die Menschen dankten es ihrem Fürsten mit aufrichtiger Liebe und Treue und Lucia war von Stolz erfüllt, die Tochter dieses Mannes sein zu dürfen.
Es wurde Zeit zurückzureiten, denn die Großmutter würde nicht ewig schlafen. Lucia ließ das Pferd umkehren, eilte zum Schloss und schaffte es, unbemerkt in den Stall zu gelangen. Sie übergab die Stute an Jacob und zog sich rasch um. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals, doch sie hatte sich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt. Sie winkte dem Freund dankbar lächelnd zu und rannte davon.
In ihrem Zimmer angekommen, warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel und erschrak. Ihre Frisur war völlig aus den Fugen geraten. Niemand, der sie so sah, würde ihr glauben, dass sie nur Mittagsruhe gehalten hätte. Als sie eilig damit begann sich wieder herzurichten, klopfte es an der Tür und ihre Großmutter betrat den Raum. Sie wollte gerade etwas sagen, als ihr strafender Blick auf dem Mädchen ruhen blieb.
„Wie siehst du aus, Kind! Dein Haar ist völlig zerzaust. Wie konnte das nur geschehen?“, fragte sie streng.
Lucia dachte kurz nach und hatte schnell eine passende Antwort parat. „Oh, tut mir leid, aber ich hatte einen schlechten Traum während der Mittagsruhe. Als ich aufwachte, war ich schweißgebadet und völlig zerzaust. Ich muss wohl im Schlaf sehr heftig den Kopf bewegt haben.“ Sie versuchte ein überzeugend leidendes Gesicht zu machen.
Johanna musterte sie eine Weile skeptisch und kam dann langsam auf sie zu, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen. „Fieber scheinst du nicht zu haben! Aber gut. Vielleicht ist es besser, wenn du dich heute ein wenig schonst. Ich werde das Mädchen anweisen, dir eine Tasse von meinem Kräutertee zu bringen. Dieser Tee erweckt Tote zum Leben!“
Mit diesen Worten verließ sie den Raum und Lucia atmete geräuschvoll aus.
Als sie später das versprochene Getränk in der Hand hielt, war ihr klar, dass selbst ein Toter davor Reißaus nehmen würde. Es roch widerlich. Sie verspürte fast so etwas wie Respekt für ihre Großmutter, die dieses Gebräu tatsächlich täglich zu sich nahm.
'Vielleicht ist das ja der Grund, warum sie immer so miesepetrig ist', dachte Lucia, als sie den Inhalt der Tasse aus dem Fenster kippte.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, kamen Reiter auf den Hof. Lucia öffnete das Fenster, um besser hören zu können, was da vor sich ging. In einem der Männer erkannte sie Fürst Harald von Leinfeld. Er war der direkte Nachbar im Süden. Leinfeld war um einiges größer und reicher als Elms und Fürst Harald ließ keine Gelegenheit aus, um Frederic diese Tatsache unter die Nase zu reiben.
„Melde mich deinem Herrn!“, wies er soeben einen Diener an.
Die Gruppe bestand noch aus fünf anderen, nicht wesentlich sympathischeren Männern, die sich jetzt daran machten, vom Pferd zu steigen. Kurze Zeit später wurden die Besucher gebeten einzutreten und zu Fürst Frederic geleitet.
Nun musste Lucia sich sputen. Eilig begab sie sich ein Stockwerk tiefer in einen Raum, der an den Empfangssalon angrenzte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit. Nun konnte sie genug hören, um dem Gespräch zu folgen.
„Fürst Harald!“, begrüßte ihr Vater gerade seinen ungebetenen Gast. „Wem oder was verdanke ich die Ehre Eures Besuches?“
„Nun, auch wenn ich immer wieder gern Euer kleines behagliches Anwesen besuche, bin ich in der Tat diesmal nicht grundlos hier.“
Lucia konnte durch den Türspalt einen Blick auf den unsympathischen Mann werfen. Er war etwa Mitte vierzig, hatte braunes Haar, das an den Seiten schon recht angegraut war und über der Stirn lichte Stellen zeigte. Seine Augen wirkten kalt und abschätzend und straften jedes freundliche Wort Lüge.
„Seine Majestät, der König, sucht Mitstreiter in seinem Bestreben, gegen die Bora vorzugehen. Er befürchtet, sie könnten ihr Gedankengut unter seinen und damit auch unseren Untertanen verbreiten. Das sollte verhindert werden.“
Frederic erhob sich von seinem Stuhl und ging langsam auf seinen Gesprächspartner zu. Er sah ihm direkt in die Augen, als er entgegnete: „Bei allem Respekt für seine Majestät, ich kann seine Bedenken nicht teilen. Die Bora bleiben meist unter sich, und wenn sie unsere Gesellschaft suchen, dann vermeiden sie jegliche Äußerung ihre Gesinnung betreffend. Im Gegenteil, es gehört zu ihrer Philosophie, ihre Angelegenheiten unter sich zu halten. Hätte König Leo vor hundert Jahren nicht befohlen, dass sie sich einzugliedern haben, würden sie sich sicher bis heute von uns fernhalten. Was ich persönlich im Übrigen sehr bedauern würde. Sie leisten gute Arbeit und machen keinen Ärger. Also was soll das alles?“ Der letzte Satz kam mit deutlicher Schärfe heraus.
Harald von Leinfelds Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich denke, ich habe Eure Botschaft richtig verstanden. Ihr müsst selbst wissen, ob ihr für diesen heidnischen Abschaum die Gunst Eures Königs aufs Spiel setzen wollt.“
Beide Männer standen sich in deutlicher Pose gegenüber.
Lucias Vater, der einen halben Kopf größer war als sein Kontrahent, entspannte sich als Erster und lächelte jetzt sogar ein wenig. „Wisst Ihr, ich glaube, dass der König es mir selbst mitteilen würde, wenn er Zweifel an meiner Loyalität hätte. Dann wüsste ich sicher, wie ich diese Zweifel aus dem Weg räumen könnte. Bis dahin werde ich alles so belassen, wie es ist.“
Nach einem kurzen Schweigen trat er zur Tür. „Wenn Ihr sonst nichts mehr auf dem Herzen habt, würde ich Euch gern zu einem Becher Wein einladen und wir könnten ein wenig über angenehmere Dinge plaudern.“
„Ich möchte keinesfalls unhöflich erscheinen, aber mich treiben wichtige Geschäfte zur Eile.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Fürst Harald und verließ den Raum.
Lucia beobachtete, wie ihr Vater mit besorgter Miene an seinen Schreibtisch trat, eilig ein paar Zeilen zu Papier brachte und nach dem Diener rief.
„Bring dieses Schreiben sofort zur Siedlung der Bora und übergib es ihrem Ältesten.“
Als er wieder allein war, sank er erschöpft auf seinen Stuhl und starrte mit Sorgenfalten auf der Stirn ins Leere.
So leise, wie Lucia den Raum betreten hatte, schlüpfte sie auch wieder heraus – und landete direkt in den Armen der Großmutter.
„Kannst du mir vielleicht erklären, was das zu bedeuten hat?“, rief diese erzürnt. Ohne ihrer Enkelin die Gelegenheit zu geben, die Frage zu beantworten, zerrte sie das Mädchen direkt in das Empfangszimmer ihres Sohnes.
„Da siehst du, was deine schludrige Erziehung gebracht hat! Ich habe dein feines Töchterlein soeben dabei erwischt, wie sie deine Unterredung mit Fürst Harald belauscht hat!“
Als ihr Sohn nichts erwiderte, sah sie ihn zornig an, wechselte aber sofort ihren Gesichtsausdruck, als sie dessen Besorgnis bemerkte. Sofort war Lucias Fehlverhalten vergessen und Johannas ganze Aufmerksamkeit bei Frederic.
„Was ist passiert?“, fragte sie leise.
„Lucia, bitte lass uns allein!“, bat der Vater.
Doch die dachte gar nicht daran, seiner Aufforderung Folge zu leisten. „Was haben der König und Fürst Harald gegen die Bora?“, fragte sie stattdessen.
„Lucia, tu was ich dir sage und vergiss, was du gehört hast! Haben wir uns verstanden?“, schrie er sie an.
Es war nicht seine Art, laut zu werden, was ihr den Ernst der Lage verdeutlichte. Erschrocken über seine heftige Reaktion verließ sie den Raum und lief eilig auf ihr Zimmer.
Etwa eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür und ihr Vater trat ein.
„Wir müssen reden, Lucia ...“, begann er.
„Es tut mir leid, Vater, ich wollte nicht unfolgsam sein!“, unterbrach sie ihn kleinlaut.
„Aber du warst es ... und bist es schon wieder“, entgegnete er ruhig. „Du hast gelauscht! Was du da gehört hast, solltest du schnell wieder vergessen! Du bist noch zu jung, um es zu verstehen. Als Mädchen solltest du dich um andere Dinge kümmern als um Politik.“
Das waren ganz neue Töne. Hatte es ihre Großmutter nun doch geschafft, den Vater von seiner modernen Erziehung abzubringen? Hatte sie ihn wirklich davon überzeugt, dass junge Mädchen nur in Frauendingen unterrichtet werden sollten? Das wäre unfassbar.
„Du meinst, wenn ich erwachsen und eine Frau bin, soll ich mich lieber damit beschäftigen, unnütze Bildchen zu sticken, schön auszusehen und dabei am besten die Augen und Ohren fest verschließen? So bekomme ich dann auch nichts von den Ungerechtigkeiten um mich herum mit. Ist es das, was du für mich willst? So hast du mich bisher nicht erzogen, Vater!“ Ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Empörung.
„Ja, du hast Recht. Und genau das war mein Fehler. Ich erwarte von dir, dass so etwas wie heute nicht wieder vorkommt, und du deiner Großmutter, bei ihrem Versuch, dich zu einer Dame zu erziehen, mit Respekt begegnest. Sonst muss ich dich dazu fortschicken.“
Damit war für ihn das Thema erledigt und er ließ sie allein. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen und sie zweifelte keinen Augenblick lang daran, dass jedes seiner Worte ernst gemeint war. Auf keinen Fall wollte Lucia Elms verlassen. Wohl oder übel musste sie sich nun in ihrem Verhalten der Großmutter gegenüber ändern.