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Beginn der Vertreibung

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Doch wenn das Mädchen dachte, die Großmutter würde es ihr ab jetzt leichter machen, hatte sie sich getäuscht. Sie bekam eher das Gefühl, die Ansprüche der alten Dame wären nur noch gestiegen. Doch da sie jetzt wusste, dass sich hinter dieser rauen Schale ein weicher Kern verbarg, konnte Lucia wesentlich besser mit dem Druck umgehen als früher. Außerdem hatte sie inzwischen einige Methoden gefunden, mit denen man die Großmutter um den Finger wickeln konnte. Die Zeit verging und alles in allem lief das Leben auf Elms in seinen geordneten Bahnen, bis Lucia eines Tages einen Ausritt mit ihrem Vater machte.

Als sie an jene Stelle gelangten, von der man einen guten Blick auf die Häuser der Bora hatte, ließ er sein Pferd abrupt zum Stehen kommen. Lucia traute ihren Augen kaum. Die Fläche, die die Siedlung zuvor eingenommen hatte, schien entschieden vergrößert. Überall standen Fuhrwerke und Planwagen, zwischen denen Stoffbahnen gespannt waren, die Schutz vor Regen und Sonne boten. Und es waren fast doppelt so viele Menschen da wie zuvor.

„Warte hier!“, wies Fürst Frederic seine Tochter an und ritt auf die Siedlung zu.

Doch Lucia wäre nicht Lucia gewesen, wenn sie diese Aufforderung befolgt hätte. Stattdessen setzte auch sie ihre Stute in Bewegung und folgte ihrem Vater. Als Frederic dies bemerkte, war es schon zu spät und er gab sich vorerst mit einem zornigen: „Darüber reden wir noch!“, zufrieden.

Lucia wusste, dass er gerade den Starrkopf an ihr liebte und hoffte darauf, dass er später alles vergessen haben würde. Sicherheitshalber machte sie ein demütiges Gesicht, damit sich sein Zorn wieder legte.

Inzwischen hatte Frederic nach dem Ältesten verlangt. Er wurde geholt. Lucia war beeindruckt von der Erscheinung dieses Mannes. Sein blondes langes Haar reichte ihm fast bis zur Taille und war bei genauerem Hinsehen von grauen Strähnen durchsetzt. Er hatte kühle blaue Augen, die aber trotzdem sehr freundlich wirkten. Seine hochgewachsene Gestalt begann sich langsam seinem fortschreitenden Alter zu beugen und doch besaß er noch immer jene respekteinflößende Ausstrahlung einer Führungsperson.

„Es ist uns eine Ehre, Fürst Frederic, Euch hier begrüßen zu dürfen“, sagte er mit einer tiefen Verneigung. Frederic erwiderte seinen Gruß und saß ab. Die Zügel seines Hengstes gab er einem jungen Bora in die Hand und bat ihn, dem Tier etwas Wasser zu geben. Lucia dachte nicht lange nach und tat es ihm gleich.

„Was hat das zu bedeuten, Jork? Was machen diese ganzen Menschen hier?“, fragte der Fürst den Ältesten.

„Sie sind letzte Nacht hier angekommen. Es sind die Überlebenden aus Leinfeld. Man hat fast alle jungen Männer umgebracht.“

Frederic war entsetzt. „Aber wie konnten sie das tun? Sie hatten doch überhaupt kein Recht dazu!“

Der Älteste ließ eine junge Frau herbeirufen, die sich ängstlich zu ihnen gesellte. „Martha, erzähle bitte unserem Herren was geschehen ist! Hab keine Angst, er ist ein guter Mensch.“

Die Frau erzählte, dass eines Tages Männer in ihre Siedlung gekommen waren und fünf ihrer stattlichsten Burschen mitgenommen hatten. Man warf ihnen vor, zwei Dorfmädchen überfallen und geschändet zu haben. Die jungen Männer stritten natürlich alles ab und ihre Familien glaubten ihnen, zumal sie in der fraglichen Zeit die Siedlung nicht verlassen hatten. Während eines fragwürdigen Gerichtsverfahrens, bei dem die angeblich geschändeten Frauen ihre unfassbaren Anschuldigungen wiederholten, waren die Angeklagten zum Tode verurteilt worden. Unter den Bora war man sich einig, dass die mutmaßlichen Opfer zu ihren Aussagen gezwungen oder dafür bezahlt worden waren. Doch das Urteil wurde umgehend vollstreckt. Letzte Nacht wurden sie überfallen. Allen voran die Schergen Fürst Haralds. Sie töteten fast alle jungen Männer - mit der Begründung, damit weiteren Schändungen vorzubeugen. Daraufhin hatten die verängstigten Menschen ihre ganze Habe zusammengepackt und waren hierher geflüchtet. Sie hofften, dass Fürst Frederic sie beschützen würde.

„Ihr habt das Richtige getan! Nur weiß ich nicht, wie lange ihr hier sicher seid. Doch solange es in meinen Händen liegt, werde ich alles dafür tun.“

Die junge Frau fiel erleichtert auf die Knie und wollte seine Schuhe küssen. Doch noch eh ihre Lippen das Leder berührten, hatte er sie schon wieder nach oben gezogen und entließ sie mit einem freundlichen Lächeln. Lucia war schon immer stolz auf ihren Vater gewesen, doch in diesem Moment empfand sie eine Achtung vor ihm wie nie zuvor. Nach einem kurzen Gespräch mit Jork gebot er Lucia aufzusitzen und sie ritten zurück nach Hause. Auf halber Strecke fielen sie in einen ruhigen Trab, was Lucia die Möglichkeit gab, endlich ihre Fragen loszuwerden.

„Vater, was soll aus ihnen werden? So wie Fürst Harald sich damals ausgedrückt hat, gibt es viele, die seine Meinung teilen. Und es kam mir so vor, als wolle er dir drohen. Was, wenn immer mehr flüchtende Bora hier auftauchen und du sie nicht mehr schützen kannst?“ Frederic blickte stur geradeaus, als er ihr entgegnete: „Ich hatte dich nicht umsonst gebeten, auf dem Hügel zu warten. Solche Dinge sind nicht für deine Ohren bestimmt. Sie machen dir nur Angst.“

Wütend hielt Lucia ihre Stute an und wartete, bis auch er zum Stehen kam.

„Vater, ich bin fast siebzehn Jahre alt. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, dass du dir um irgendetwas Sorgen machst? Selbst Großmutter ist der Meinung, dass Halbwissen schlimmer ist, als sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. Ich habe keine Angst! Zumindest nicht mehr als du! Ich habe die Furcht in deinen Augen gesehen. Umso mutiger finde ich deinen Entschluss, diese Menschen nicht im Stich zu lassen!“

Frederic musterte seine Tochter ausgiebig und schien sich zum ersten Mal dessen bewusst zu werden, dass er eine junge Frau und kein kleines Mädchen vor sich hatte.

„Du hast vielleicht recht. Ich werde versuchen, dich in Zukunft mit mehr Respekt und Vertrauen zu behandeln. Du sollst schließlich lernen, Recht von Unrecht zu unterscheiden.“

Bei diesen Worten ging ein dankbares Lächeln über ihr Gesicht.

Im Schloss angekommen, wies Fürst Frederic seine sichtbar überraschten Männer an, ein paar Säcke Mehl, Zucker und Kartoffeln sowie zwei Schweine zur Borasiedlung zu bringen. Eine Weile rührte sich keiner von der Stelle. Für Frederic schien das nur eines zu bedeuten und er warf einen drohenden Blick in die Runde.

„Wer damit ein Problem hat, kann seine Stellung sofort kündigen!“, rief er gereizt.

Daraufhin trat Tobias, einer seiner treuesten Männer vor und bat sprechen zu dürfen. Frederic gab ihm die Erlaubnis.

„Verzeiht Herr, wenn Ihr den Eindruck hattet, wir wollten uns Eurem Befehl widersetzen. Das war keineswegs unsere Absicht. Vielmehr sind wir verwundert darüber. Dürfen wir erfahren, was der Grund für diese Maßnahme ist?“

Lucia musterte ausgiebig die Gesichter der Männer und kam zu dem Schluss, dass tatsächlich keiner von ihnen so aussah, als wolle er sich verweigern. Tobias schien im Namen aller zu sprechen. Er war schon in Frederics Diensten, solange Lucia denken konnte und seinem Herren ergeben.

Der Fürst schien sich zu entspannen. „Natürlich sollt ihr den Grund dafür erfahren. Jeder von euch hat schon von den Hetztiraden gegen die Bora gehört. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Leider haben sich inzwischen schon viele der Lehnsherren auf die Seite des Königs geschlagen und gehen jetzt mit Verleumdungen und Handgreiflichkeiten gegen die Siedlungen in ihren Ländereien vor. In Leinfeld hat man nicht davor zurückgeschreckt zu töten. Darum haben nun Flüchtlinge bei uns Schutz und Hilfe gesucht. Es sind zu viele, als dass sie allein damit fertig werden könnten, auch wenn sie es versuchen. Ich habe nicht vor, bei derartigen Ungeheuerlichkeiten zuzusehen und werde mein Möglichstes tun, um meine Christenpflicht zu erfüllen und diesen Menschen helfen. Es ist zu vermuten, dass mein Handeln nicht lange geduldet wird und es kann der Zeitpunkt kommen, an dem auch wir mit Übergriffen zu rechnen haben. Dessen solltet ihr euch bewusst sein. Ich fordere jeden von euch, dem das Risiko zu hoch ist und der in dieser Sache nicht voll hinter mir steht, dazu auf, seinen Abschied zu nehmen!“

Nach diesen Worten wurde es still auf dem Hof. Einige der Männer blickten sich mit fragenden Augen um. Doch am Ende trat Tobias erneut an Frederic heran, um ihm die Ergebenheit jedes Einzelnen zuzusichern. Der Fürst nahm es mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis und forderte sie auf, sich an die Arbeit zu machen.

Lucia im Netz der Lüge

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