Читать книгу Lucia im Netz der Lüge - Carola Schierz - Страница 8
Das Debüt
ОглавлениеKurz nach Lucias siebzehntem Geburtstag erhielt Frederic eine Einladung zur alljährlichen Jagdgesellschaft beim Grafen von Stettenheim. Dieses Ereignis war immer einer der Höhepunkte des Jahres und endete mit einem großen Ball. Der Fürst reiste schon zwei Tage vor den beiden Frauen nach Stettenheim. Johanna und ihre Enkelin waren ihm heute Morgen gefolgt. Sie wurden in einem Gästepavillon des Grafen untergebracht und bereiteten sich nun auf das glamouröse Fest vor. Dieser Ball sollte für Lucia gleichzeitig ihr Debüt und somit die Einführung in die höhere Gesellschaft werden.
Nachdem sie sich nun des, ihrer Meinung nach, überflüssigen Schmuckes entledigt hatte und sich dadurch wieder etwas mehr wie sie selbst fühlte, nahm Lucia ihren Umhang und machte sich auf den Weg in den Salon. Dort wurde sie schon von ihrem Vater und der Großmutter erwartet.
Fürst Frederic strahlte übers ganze Gesicht als er seine Tochter erblickte. „Oh, mein Gott! Du siehst aus wie deine Mutter“, brachte er gerade noch über die Lippen, bevor er von der Fürstin unterbrochen wurde.
„Wo hast du den Schmuck gelassen, den ich dir bringen ließ? Du kannst unmöglich so nackt um den Hals herumlaufen! Nicht einmal die edlen Ohrgehänge hast du angelegt!“, rief sie entrüstet.
„Sie sieht wunderschön aus, so wie sie ist! Sie selbst ist Schmuck genug“, unterbrach Frederic seine Mutter barsch.
Überrascht verstummte die alte Dame und ließ ihren Blick noch einmal über die junge Frau gleiten. „Vielleicht hast du recht. Sie sieht wirklich hübsch aus“, gab sie kleinlaut zu. „Aber jetzt lasst uns gehen! Die Kutsche steht schon bereit.“
Die Fürstin war unübersehbar nervös. Den ganzen Weg bis zum Anwesen der von Stettenheims gab sie Lucia letzte Anweisungen und Verhaltensregeln. Die nickte nur immerzu, hörte jedoch in Wirklichkeit kein Wort von dem, was die Großmutter sagte. Auch sie war aufgeregt, obwohl sie diesen Umstand bisher geschickt zu verbergen wusste. Als sie aus der Kutsche stiegen, fand sich Lucia vor einem edlen Herrenhaus wieder, welches man schon fast als Palast bezeichnen konnte. Es hatte nichts mit dem schlichten Landschlösschen gemein, das sie ihr Zuhause nannte. Sie liebte Elms über alles, aber diese Pracht beeindruckte Lucia zutiefst.
Sie stiegen die Treppe zum Eingang hinauf. Ihre Schritte wurden von Teppichen gedämpft, die bis an das hohe Portal heran ausgelegt waren. Von drinnen konnte man Musik hören. In dem Moment, als sie das Haus betraten, war sofort ein Diener zur Stelle, der ihnen die Umhänge und Hüte abnahm. Ein anderer bat um ihre Namen und führte sie zum Ballsaal.
Der Raum schien zu strahlen. Überall leuchteten Kerzen und ließen den kunstvollen Stuck im schönsten Licht erscheinen. Es herrschte schon reger Betrieb. Allerorts standen edel gekleidete Menschengruppen und unterhielten sich. Die meisten hielten ein Getränk in der Hand und schauten unauffällig in die Runde. Lucia kam sich vor wie bei einem Spießrutenlauf. Sie war neu hier und das schienen die anderen zu wissen, denn sie wurde von oben bis unten gemustert. Beim Gastgeber angekommen, einem etwa fünfzigjährigen untersetzten Mann in unvorteilhafter, üppig bestickter Kleidung, verneigte sich der Diener kurz und kündigte ihr Eintreffen an.
„Oh, wie entzückend. Eure Tochter ist ein wahres Juwel unter den anwesenden Frauen, Verehrtester!“, säuselte der Graf zuckersüß, nachdem er den Fürsten und seine Mutter begrüßt hatte.
Als er den beleidigten Blick seiner hohlwangigen Gattin gewahrte, fügte er rasch hinzu: „Dir mein Edelstein, kann natürlich keine andere gleichkommen.“
Nun lächelte sie ein wenig und entblößte dabei ein Paar überlanger Nagezähne. Lucia konnte ein Lachen nur unterdrücken, weil ihr die Großmutter wohlweislich in den Arm kniff. Dann begaben sie sich in die Menge und waren alsbald von neugierigen Gästen umringt. Von allen Seiten musste sich Lucia bewerten lassen.
„Bezaubernd!“
„Entzückend!“
„Reizend!“
So in etwa waren die Bemerkungen zu ihrer Person.
Später, als der Vater sich mit einigen Herren zu Gesprächen zurückzog und ihre Großmutter von einer blaugerüschten Matrone in Beschlag genommen wurde, nutzte sie die Möglichkeit, um sich etwas umzusehen. Sie zog sich in eine Ecke zurück und belauschte das Gespräch dreier Damen. Sie waren aufgeputzt wie Schmuckschatullen und machten nicht gerade den nettesten Eindruck auf Lucia. Im Moment wetzten sie ihre spitzen Zungen an einer Frau, die ihren Schönheitsvorstellungen nicht zu entsprechen schien.
„Da ist die Gräfin von Schellersberg. Seht nur dieses Kleid! In ihrem Alter! Und diese Farbe passt nicht im Geringsten zu ihrem Teint!“, kläffte die eine.
„Und etwas Rouge hätte ihr auch nicht geschadet!“, näselte die zweite.
Die dritte stopfte sich gerade eines der angebotenen Häppchen in den Mund und nickte nur beifällig. Dann trat das Opfer ihrer Lästereien auf die Gruppe zu und begrüßte sie freundlich. Sofort waren die drei Damen wie umgewandelt. „Oh, liebste Gräfin, wie schön Euch wohlauf zu sehen. Ihr seht heute wieder bezaubernd aus.“
Sie unterhielten sich kurz über ein paar oberflächliche Themen, dann begab sich die einzelne Dame zu einer anderen Gruppe der Gäste. Zu spät bemerkte Lucia, dass die Lästerrunde auf sie aufmerksam geworden war und lief ihnen direkt in die Arme.
„Wen haben wir denn hier! Seid ihr nicht die Tochter von Fürst Frederic?“, fragte die Häppchenvertilgerin. Lucia bejahte. Nun war sie einem Feuerwerk von Fragen ausgesetzt, dem sie tapfer standhielt.
„Ach, meine Liebe, Ihr seht wirklich überaus bezaubernd aus!“, wisperte dieselbe, die sich vorhin noch über die Gräfin ausgelassen und ihr kurz darauf Komplimente gemacht hatte. Lucia setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf und entgegnete: „Ich danke Euch von Herzen, meine Damen. Besonders nachdem ich Eure wohlwollende Beurteilung der ehrenwerten Gräfin hören durfte, weiß ich, dass ich Eurem ehrlichen Urteil trauen darf.“
Sie verneigte sich kurz und wollte davoneilen - und lief genau ihrer Großmutter über den Weg. Die alte Dame musste ein Gespür dafür haben, wann sie Lucia bei einer Missetat erwischen konnte. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie genug gehört, um die Dinge richtig einordnen zu können. Ihre Augen sprühten vor Zorn, doch sie war Dame genug, um sich beherrschen zu können.
„Lucia, würdest du mich bitte für einen Moment auf die Terrasse begleiten, ich brauche dringend frische Luft“, sagte sie bedrohlich ruhig.
„Natürlich, Großmutter!“, ergab sich die Sünderin in ihr Schicksal, ließ sich bereitwillig unterhaken und nach draußen ziehen.
Doch nicht Fürstin Johanna allein hatte das Schauspiel verfolgt. Schon seit geraumer Zeit hatte Lucia einen unbemerkten Beobachter. Er hatte die schöne junge Frau nicht aus den Augen gelassen und mit einem vergnügten Lächeln ihre sarkastische Bemerkung vernommen. Jetzt kam er aus seinem Versteck heraus und vertrat den beiden Frauen den Weg.
„Darf ich Euch um diesen Tanz bitten, gnädiges Fräulein? Ihr würdet mich zum glücklichsten Mann in diesem Saal machen.“
Entgeistert starrte Lucia ihn an und erkannte bald den geheimnisvollen Fremden wieder, der ihren Vater so eindringlich dazu geraten hatte, die Bora loszuwerden. Sofort empfand sie eine übermächtige Antipathie gegen den Mann, der ihr seinen Arm anbot. Als sie den Mund öffnete, um ihm zu sagen, dass sie keineswegs vorhabe, mit ihm zu tanzen, hörte sie zu ihrem Entsetzen: „Es wird meiner Enkelin eine Freude sein, Herzog!“
Und schon fand sie sich an seiner Seite wieder und wurde zur Tanzfläche geleitet. Hilfesuchend drehte sie sich zu ihrer Großmutter um, doch in deren Blick stand deutlich geschrieben, dass sie Lucia umbringen würde, wenn sie sich noch einmal danebenbenahm.
„Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, sagte er plötzlich.
Er blieb stehen, deutete eine leichte Verbeugung an und sprach mit freundlicher warmer Stimme: „Michael David, Herzog von Reifenstein.“
Lucia, die die Augen der Großmutter wie Dolche zwischen ihren Schulterblättern spürte, machte einen höflichen Knicks und stellte sich nun ihrerseits vor. Da sie keinerlei Überraschung in seinem Gesicht bemerkte, ging sie davon aus, dass er von vornherein gewusst hatte, wer ihm gegenüberstand. Angespannt ließ sie sich von ihm auf die Tanzfläche führen, wo sie sich zwischen den anderen Paaren einreihten.
„Dies ist Euer erster Ball, nicht wahr?“, eröffnete er das Gespräch.
„Tanze ich so schlecht, dass Ihr diesen Rückschluss zieht, oder wie kommt Ihr zu dieser Vermutung?“, entgegnete sie forsch.
„Oh, keineswegs! Ihr tanzt wundervoll. Ich hatte nur vorhin das Vergnügen, Eure nette Unterhaltung mit den drei sympathischen Damen zu verfolgen. Ihr habt dabei eine ungezwungene und ungekünstelte Ehrlichkeit an den Tag gelegt, die wohl kaum jemand der Anwesenden zu überbieten vermag. Und ich bin mir sicher, dass Fürstin Johanna alles daran setzen wird, Euch bis zu Eurem nächsten gesellschaftlichen Auftritt in eine dieser wohlerzogenen Stoffpuppen zu verwandeln. Eine von der Sorte, die ihre wahre Meinung nur noch hinter vorgehaltener Hand preisgibt – was ich allerdings sehr bedauerlich finden würde.“
Trotz ihrer vorgefassten Abneigung gegen den Herzog, musste sie jetzt lachen und sah ihn zum ersten Mal direkt ins Gesicht. Sie bemerkte, dass er durchaus attraktiv war. Das wellige Haar saß heute ordentlicher als damals und umrahmte ein markantes männliches Gesicht. Nur seine Augen waren ihr unheimlich. Sie waren von einem klaren kühlen Blau, doch schienen sie nichts von ihm preiszugeben. Als der Tanz zu Ende war, führte er Lucia zu einem Stuhl und bat sie zu warten, während er ihnen eine Erfrischung besorgen würde. Nach einem Blick auf ihre Großmutter erkannte sie, dass die große alte Dame sehr zufrieden beobachtete, wie der Herzog ihr den Hof machte. Wenn sie also die Wogen, wegen ihres kleinen Ausrutschers von vorhin, wieder glätten wollte, musste Lucia dieses Spiel mitspielen. Jetzt kam er zurück und reichte ihr ein Glas mit mildem Wein. Unsicher nippte sie daran. Plötzlich trat Harald von Leinfeld an den Herzog heran und sie begrüßten sich wie alte Freunde.
„Wie ich sehe, mein Bester, amüsiert Ihr Euch prächtig“, sagte der Fürst süffisant mit einer Verbeugung in Lucias Richtung. „Gnädigste!“
Sie erwiderte seinen Gruß mit einem leichten Nicken.
„Ja, dieses Fest ist wie immer ein Höhepunkt der Saison“, bestätigte der Herzog lächelnd.
„Ich habe von ihrem Erfolg in Sachen Bora gehört. Mein Kompliment! Eine schnelle und saubere Lösung des Problems“, lobte der Fürst respektvoll.
„Diese Anerkennung steht mir nicht zu. Sagen wir, es hat sich so ergeben!“, erwiderte der Herzog unbeeindruckt.
„Natürlich, Verehrtester! Holzhäuser geraten schnell in Brand, nicht wahr? Wie zerstörerisch und reinigend so ein Feuer doch ist. Aber widmen wir uns heute den schönen Dingen des Lebens!“ Mit diesen Worten verließ er sie wieder.
„Was meinte Fürst Harald damit, Herzog?“ fragte Lucia sofort nach.
Nun lächelte er sie wieder undurchsichtig an. „Politik, meine Liebe! Nichts, womit Ihr Euren hübschen Kopf belasten solltet. Schenkt mir diesen Tanz! Schließlich sind wir doch zu unserem Vergnügen hier.“ Und ehe sie es sich versah, hatte er sie schon wieder auf die Tanzfläche geführt.
In Lucias Kopf überschlugen sich die Gedanken und er bemerkte, dass sie nicht ganz bei der Sache war.
„Was beschäftigt Euch? Habt Ihr Angst vor der Auseinandersetzung mit der Fürstin? Wie ich schon sagte: Es wäre bedauerlich, wenn es ihr gelänge, Euch Eure erfrischende Ehrlichkeit zu nehmen!“
Er lächelte, doch seine Augen bohrten sich forschend in die ihren. Sofort fiel ihr die drohende Haltung des Herzogs gegenüber ihrem Vater wieder ein und schon war ihr eigenes, tapfer erzwungenes Lächeln wie weggewischt.
„Keine Sorge, ich komme in dieser Hinsicht voll und ganz nach meinem Vater. Ich lasse mich nicht verbiegen. Ich werde immer offen zu dem stehen, was ich denke.“ Angriffslustig warf sie den Kopf in den Nacken.
Er schien ihre Ansage verstanden zu haben, denn auch er wurde jetzt ernst und abweisend. „Dann werdet ihr in Eurem künftigen Leben viele Hindernisse zu überwinden haben - wie Euer Vater!“, gab er zurück.
„Das ist gut möglich. Doch ich bin der Meinung, dass man durchaus Hindernisse überwinden kann. Steckt man jedoch im Sumpf seiner eigenen Feigheit fest, kann es sein, dass man nie wieder herausfindet.“
Sie hatten inzwischen aufgehört zu tanzen und die Umstehenden wurden schon aufmerksam.
„Dann wünsche ich Euch, dass Ihr nicht eines Tages an einem dieser Hindernisse hängen bleibt und schmerzhaft auf Euer hübsches Näschen fallt“, entgegnete er, gab ihr einen flüchtigen Handkuss und führte sie zurück zu Johanna.
„Was hast du jetzt schon wieder angestellt?“, zischte die Großmutter böse, sobald er außer Hörweite war.
„Nichts! Er ist genauso ein Schuft, wie Fürst Harald und seine feinen Mitstreiter!“, gab Lucia zurück.
„Was soll das heißen?“, fragte die Fürstin erbost.
„Das erkläre ich dir später, jetzt muss ich dringend mit Vater sprechen.“
Bevor Johanna ihre Enkelin aufhalten konnte, war diese schon in der Menge verschwunden. Sie suchte nach Fürst Frederic und fand ihn mit einigen anderen Herren in einem Nebenraum. Sie schienen eine angeregte Unterhaltung zu führen und Lucia bekam den Eindruck, dass sich die Stimmung im Raum gegen ihren Vater und drei weitere Männer richtete. Da ihr klar war, dass sie ihn jetzt nicht stören durfte, schlich sie sich heran und belauschte die Debatte.
„Wir können nicht sehen, worin die Gefahr besteht, die von den Bora ausgehen soll, Exzellenz“, protestierte der Mann zu Frederics Rechten gerade.
„Ja, sie können sich gut verstellen! Sie spielen uns die stillen, unschuldigen Mitmenschen vor, derweil vollziehen sie ihre dunklen Rituale. Sie rufen heimlich die Mächte der Finsternis an und werden ewige Verdammnis über alle bringen, die sie gewähren lassen. Man sagt, dass sie ihrem Gott sogar ihre Kinder opfern würden, wenn er es von ihnen verlangen sollte.“
Wie in Trance hatte Lucia nun doch den Raum betreten. Fürst Frederic, der sie erblickte, wollte das Schlimmste verhindern und trat schnell auf sie zu.
„Verzeihung, meine Herren, darf ich die Gelegenheit nutzen, Euch meine Tochter Lucia vorzustellen?“ Er nahm sie bei der Hand und führte sie durch den Raum. Zu beiden Seiten verneigten sich die edlen Herren kurz. Dann blieben sie vor einem hageren Mann in einem Kirchengewand stehen.
„Lucia, das ist seine Exzellenz Bischof Johannes von Reichingen.“
Sie sammelte sich kurz, knickste formvollendet und küsste ehrerbietig den dargebotenen Ring des Bischofs. Tausend Gedanken schossen durch ihren Kopf, während sie sich erhob. Ihr fiel wieder ein, was ihre Großmutter über den Geistlichen und seine wahrscheinliche Rolle bei der Hetze gegen die Bora erzählt hatte.
„Entzückend!“, sagte er nun huldvoll.
Lucia sah ihre Chance gekommen, zu demonstrieren, dass sie voll und ganz auf der Seite ihres Vaters stand. Sie dachte nicht darüber nach, dass dies nicht in seinem Sinn sein könnte.
„Ich bitte um Verzeihung, Exzellenz. Ich wollte nicht stören, doch ich hörte, wie Ihr gerade über jene eindrucksvolle Bibelstelle spracht, in der Vater Abraham unserem ewigen Gott seinen geliebten Sohn opfern will, um seine grenzenlose Treue und Liebe zu beweisen. Ich sprach erst neulich mit meiner Großmutter über diese beeindruckende Geschichte. Nur ein wahrlich gottesfürchtiger Mensch würde ein solches Opfer bringen! Nicht wahr? So jemand, wie Abraham es war?“ Unschuldig blickte sie ihn an.
Im Raum war es nun totenstill. Jeder der Anwesenden schien den Atem anzuhalten, ob dieser peinlichen Situation. Der Bischof, der keinerlei politisches Interesse bei einer jungen schönen Dame erwartete, glaubte an ihre Scharade. Er versuchte die Situation vor den anwesenden Herren mit gespielter Gelassenheit zu übergehen.
„Ja, ja, mein Kind, dies ist wohl wahr. Doch wie du sicher weißt, hat unser Herr in seiner Güte dieses grausame Opfer verhindert.“
Sie gab sich noch nicht geschlagen. „Aber er hätte es getan, nicht wahr?“
Dem Bischof war sein Unbehagen anzumerken und sein aufgesetzt gütiges Gesicht wirkte inzwischen gereizt. „Das ist schon möglich!“, sagte er knapp. „Es stimmt mich wohl, dass du das Buch der Bücher so aufmerksam studierst. Brav! Nur weiter so!“
Damit war die Situation in seinen Augen gerettet, doch jeder der übrigen Anwesenden wusste um Frederics Meinung und dachte sich, dass er seine Tochter in diesem Sinne erzogen haben würde. Sie vermuteten hinter Lucias Rede keineswegs die unschuldige Fehleinschätzung eines jungen Mädchens. Auch ihr Vater war sich im Klaren darüber, dass seine Tochter kurz davor war, sich und ihn um Kopf und Kragen zu reden. Er musste sie so schnell wie möglich aus dem Raum schaffen.
„Bitte geh wieder zu deiner Großmutter, Lucia! Sie wird schon nach dir suchen. Ich habe hier noch ein paar Gespräche zu führen“, forderte Frederic sie nun mit unüberhörbarem Nachdruck auf.
„Natürlich, Vater!“
Sie knickste vor der gesamten Gruppe und verließ den Raum. Im Augenwinkel nahm sie noch das kühle amüsierte Lächeln des Herzogs von Reifenstein wahr, der das Schauspiel ebenfalls verfolgt haben musste. Lucia hatte ihn beim Betreten des Raumes nicht gesehen und war leicht irritiert. Er musste ihr gefolgt sein. Doch jetzt eilte sie so schnell wie möglich davon. Nun würde sie doppelten Ärger bekommen. Wenn sie daran dachte, was ihr bevorstand, sobald sie mit der Großmutter und dem Vater allein war, wurde ihr ganz flau im Magen. Verzweifelt stellte sie sich in eine Ecke und wartete einfach ab.
Später sah sie, wie die Herrenrunde den Besprechungsraum verließ und sich in kleinen Gruppen über den Saal verteilte. Ihre Augen suchten nach dem Vater und entdeckten ihn, wie er angespannt mit dem Herzog sprach. Sie schienen auch diesmal unterschiedlicher Meinung zu sein. Schließlich gingen sie auseinander und zu Lucias Entsetzen kam der Herzog genau auf sie zu.
Es war zu spät, vor ihm davonzulaufen. Bei ihr angelangt, blieb er einen Augenblick lang schweigend stehen und musterte sie aufmerksam.
„Das war ein gelungener Auftritt! Zum Glück ist der Bischof auf Eure Unschuldsmiene hereingefallen. Die meisten der anderen Anwesenden sicher nicht. Wenn Ihr nicht vorhabt, Euren Vater in den Ruin zu treiben, solltet Ihr in Zukunft vielleicht nachdenken, bevor Ihr etwas von Euch gebt. Er steht sowieso kurz vor dem gesellschaftlichem Aus!“
„Was für eine Gesellschaft ist das, die sich von bitterbösen Verleumdungen blenden lässt! Aber Ihr scheint Euch damit ja sehr wohl zu fühlen!“
Wieder hatte sie schneller gesprochen, als nachgedacht und ärgerte sich sofort. Ihrem Vater zu schaden, war das Letzte, was sie wollte.
„Diesmal werde ich Eure vorlauten Worte noch überhören. Aber seid gewarnt! Irgendwann wird es ein schlimmes Ende mit Eurer ganzen Familie nehmen. Wählt selbst!“ Dann war er auch schon verschwunden.
Lucia schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, um kurz darauf direkt ins Gesicht ihres äußerst zornigen Vaters zu schauen.
„Lass uns deine Großmutter suchen und uns verabschieden!“
Sie folgte ihm durch die Menge. Johanna sah sofort, dass etwas nicht stimmte und fragte nicht weiter, als der Fürst ihr mitteilte, dass er vorhatte zu gehen. Nachdem sie sich freundlich bedankt, das Fest in höchsten Tönen gelobt und sich verabschiedet hatten, ließ man die Kutsche vorfahren. Auf der ganzen Fahrt herrschte eisiges Schweigen. Lucia kam sich vor, als ginge sie direkt aufs Schafott, als sie am Gästehaus eintrafen.
„Was ist passiert?“, fragte die Großmutter, sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.
Ohne darauf einzugehen, schrie Frederic nun seine Tochter an: „Kannst du mir vielleicht erklären, was in dich gefahren ist? Willst du mich umbringen? Ich dachte mein Herz setzt aus!“
„Ich wollte das nicht! Aber dann hörte ich diesen Unsinn, den der Bischof da erzählte ...“
„Gütiger Gott!“, keuchte die Großmutter entsetzt auf. „Der Bischof? Was hast du nun schon wieder getan?“
„Ich wusste da noch nicht, dass es der Bischof war, der da gesprochen hatte. Doch als Vater ihn mir vorstellte, erinnerte ich mich an das, was du mir über ihn gesagt hast ...“
Nun fuhr Frederic zu seiner Mutter herum. „Was in aller Welt hast du ihr erzählt, Mutter?“, rief er verzweifelt.
„Nur, dass ich der Meinung bin, dass er dem König diesen Unsinn über die Bora einredet, aber das heißt nicht ...“
„Was?“ Jetzt sank Frederic wie verwundet auf einen Stuhl und lockerte seinen Hemdkragen. „Weißt du, was deine Enkelin sich heute geleistet hat?“
Als er alles ausführlich geschildert hatte, war es nun Fürstin Johanna, die zusammensank und erst wieder zu sich kam, als man ihr Riechsalz unter die Nase hielt.
„Dieses Kind bringt mich noch ins Grab. Erst fährt sie Gräfin von Tuhn über den Mund, dann verscherzt sie es sich mit dem Herzog von Reifenstein und nun das!“
Jetzt wurde Frederic hellhörig. „Was war denn mit dem Herzog?“, wollte er nun von seiner Tochter wissen.
„Wir haben nur ein paarmal zusammen getanzt ...“, murmelte sie halblaut.
„Er hat ihr eindeutig den Hof gemacht! Doch dann hat sie ihn vertrieben! Was wäre das für eine gute Partie!“, schimpfte Johanna.
Sofort geriet Lucia wieder in Fahrt. „Gute Partie? Ich habe gehört, wie er mit Fürst Harald scherzte! Der hat dem Herzog dazu gratuliert, wie erfolgreich er die Bora von seinem Land vertrieben hat! Es war von brennenden Häusern die Rede! Er ist genauso ein Unmensch wie diese anderen Kriecher! Der soll sonst wem den Hof machen, aber nicht mir!“, rief sie und brach in Tränen aus.
Sofort wurde Frederics Miene weicher. Er konnte seine Tochter nicht weinen sehen. „Gott, Kind! Du kannst nicht jedem deine Meinung ins Gesicht speien, auch wenn du sie für richtig hältst! Hier geht es um Politik und nicht um kindische Streitereien. Werde erwachsen und denke, bevor du handelst, sonst bringst du uns alle in Gefahr!“
Nun warf sich Lucia schluchzend in seine Arme und er hielt sie fest.
„Ich habe von der Sache gehört. Reiter haben die Borasiedlung in Reifenstein angegriffen und ihre Häuser in Brand gesetzt. Die armen Menschen sind geflüchtet und haben alles zurückgelassen. Niemand weiß, wo sie geblieben sind.“
„Wie furchtbar! Und was sagt der Herzog dazu? Wird er die Angreifer verfolgen lassen?“, fragte Johanna.
„Großmutter, bei allem Respekt, öffne die Augen! So wie Fürst Harald ihm gratuliert hat, war er es selbst, der diesen Angriff befohlen hat!“ Lucias Wut kochte wieder hoch, doch der Vater gebot ihr Einhalt.
„Dafür gibt es keine Beweise, Liebes! Und darum erwarte ich, dass du dich mit derartigen Äußerungen in Zukunft zurückhältst! Wenn du das nicht kannst, werde ich dich doch noch fortschicken müssen. Vielleicht kommst du auf einer Klosterschule zur Vernunft!“
In Lucia stieg Angst auf, er könnte es wahr machen. „Bitte nicht, Vater! Ich werde dir beweisen, dass ich mich unter Kontrolle haben kann, selbst wenn ich dafür zu den schrecklichsten Menschen freundlich sein muss!“
Frederic konnte ihr nicht lange zürnen, wenn sie ihn so ansah. Zu groß war dann die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Der hatte er auch nie lange böse sein können.
„Gut, du bekommst noch eine letzte Chance! Aber so etwas wie heute darf nie wieder geschehen!“
Sie versprach es ihm und wünschte eilig eine gute Nacht.
Als Lucia sich ausgekleidet und ihr Haar gebürstet hatte, schlüpfte sie unter die Decke und schloss ihre Augen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder sah sie die Bilder des vergangenen Abends vor sich. Jetzt, mit genügend Abstand betrachtet, konnte sie selbst nicht glauben, dass sie das alles wirklich gesagt hatte. Wie ein dummes kleines Mädchen hatte sie sich aufgeführt, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Der Herzog hatte recht gehabt mit seiner Meinung über sie und diese Erkenntnis machte sie doppelt wütend. Von jemandem wie ihm wollte sie sich solche Dinge nicht sagen lassen – auch wenn sie der Wahrheit entsprachen. Lucia wusste: Sie musste sich auf der Stelle ändern, wenn sie das Vertrauen ihres Vaters nicht ganz verlieren wollte. Vielleicht war es dazu auch schon längst zu spät - aber zumindest würde sie es versuchen. Doch noch etwas anderes beschäftigte sie: Der Herzog von Reifenstein war ein attraktiver, wohlhabender und einflussreicher Mann. Er konnte jede heiratsfähige Dame haben. Sie hatte die neidischen Blicke der anderen Frauen bemerkt, während er mit ihr tanzte. Warum also hatte er sich gerade an sie heran gemacht, obwohl sie so abweisend zu ihm gewesen war? Er galt als einer der begehrtesten Junggesellen überhaupt. Was also wollte er von ihr? Lucia war sich sicher, ihm keine falschen Signale gesandt zu haben. Sie war vielleicht zu dumm, im richtigen Moment den Mund zu halten, aber nicht so dumm, sich von einem Mann einwickeln zu lassen, der ein Freund Harald von Leinfelds und damit ein Gegner ihres Vaters war.
Am nächsten Morgen traten sie die Rückreise an. Die Stimmung war immer noch getrübt, aber sie vermieden es, über die Ereignisse des Vortages zu sprechen. Um nach Elms zu gelangen, mussten sie das Land von Fürst Harald durchqueren. An einer Schänke machten sie Halt und legten eine Rast ein. Der Gastraum war düster und mit groben Tischen und Stühlen eingerichtet, die zweckmäßig, aber wenig einladend waren. Doch es war sauber und sogar die Schürze des Wirts wirkte einigermaßen frisch. Er ließ ihnen sofort den besten Tisch herrichten und informierte die edlen Gäste über die Speisen, die zur Auswahl standen. Man entschied sich für Schweinebraten, frisches Brot und Reibekuchen. Dazu gab es dünnen Wein.
Als die einzigen anderen Gäste die Schänke verlassen hatten, trat der Wirt an ihren Tisch und bat darum, ein paar Worte an Frederic richten zu dürfen.
„Nur zu, guter Mann, rede!“, forderte der ihn auf.
„Ich wollte Euch danken. Dafür, was Ihr alles für die Bora tut“, stammelte der Mann unsicher. Er war noch recht jung und machte einen anständigen Eindruck.
„Nicht jeder Bewohner von Leinfeld teilt die Meinung unseres Fürsten. Ich selbst habe ... hatte ... gute Freunde unter den Bora. Ich glaube kein Wort von diesen furchtbaren Lügen, die über sie erzählt werden.“ Er machte eine kurze Pause und schluckte schwer. „Einer der Männer, die bei diesem Schauprozess unschuldig zum Tode verurteilt wurden, war mein bester Freund ... von Kindheit an.“
Der Wirt bemerkte die Verwunderung im Gesicht seiner Zuhörer.
„Ja, ich weiß, das klingt ungewöhnlich, da sie meist eher unter sich bleiben, aber es ist wahr. Wir sind uns als Kinder zufällig im Wald begegnet und haben uns schnell angefreundet. Wie das bei Kindern eben so ist.“ Er lächelte bei dem Gedanken an damals.
„Zunächst trafen wir uns nur heimlich. Dann hat er mich mit zu sich nach Hause genommen. Zu meiner Verwunderung waren seine Eltern sehr nett zu mir und gar nicht so anders, wie ich es erwartet hatte. Später habe ich mich dann in seine Schwester verliebt. Ihr Haar war wie die Sonne ... Doch ich wusste, dass eine Verbindung zwischen uns gegen ihre Regeln verstieß. Sie hat vor kurzem einen anderen Mann geheiratet. Heute ärgere ich mich, dass ich es nicht wenigstens versucht habe. Ihr Vater mochte mich und ich glaube, auch sie …“
Sein Blick glitt in die Ferne, doch plötzlich schüttelte er den Kopf, ganz so, als wolle er seine Erinnerungen mit Gewalt abschütteln.
„Verzeiht mir, ich schweife ab ...! Was ich eigentlich sagen wollte: Ich danke Euch dafür, dass ihr diese Menschen bei Euch aufgenommen habt. Sie haben verdient, dass man ihnen hilft, denn sie sind ein gutes Volk.“
Wieder hielt der Wirt kurz in seiner Rede inne. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und er kam näher heran, bevor er weitersprach. „Nur glaube ich, dass sie bald auch bei Euch nicht mehr sicher sind“, flüsterte er, nachdem er sich noch einmal davon überzeugt hatte, dass ihnen niemand zuhörte.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Frederic ernst.
„Gnädiger Herr, dies ist eine Schänke! Allabendlich kehren hier die unterschiedlichsten Gesellen ein und trinken mehr, als ihnen gut tut. Der Wein lockert ihre Zungen und so rutscht ihnen das eine oder andere heraus, das sie sonst sicher für sich behalten hätten. Neulich hörte ich, wie einer von ihnen sagte, dass man sich das Treiben in Elms nicht mehr lange mit ansehen würde. Er gehörte zu Fürst Haralds Männern.“
„Gütiger Gott!“, entfuhr es Fürstin Johanna.
Frederic legte seiner Mutter beruhigend eine Hand auf den Arm und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. „Warum erzählst du mir das alles? Es ist nicht ungefährlich für dich! Wenn herauskommt, dass du mich gewarnt hast, wird man es dich büßen lassen!“
„Weil die Schwester meines Freundes und ihre Eltern unter den Flüchtlingen sind, die bei Euch Zuflucht gefunden haben. Ich bin es ihm schuldig, alles zu tun, was mir möglich ist, um seiner Familie zu helfen.“
Einen Moment lang trat Stille ein. Dann sprach er weiter. „Und noch etwas, ich habe Grund zu der Annahme, dass sie nicht mehr lange damit warten werden. Es war von 'Frühjahrsputz' die Rede.“
„Aber warum tun sie das nur? Wo ist der Nutzen für sie selbst?“, wollte Lucia wissen.
„Viele glauben an den Unsinn, den der Bischof verbreitet. Dass die Bora dunkle Mächte beschwören und nur auf einen geeigneten Moment warten, das Land in ihre Gewalt zu bringen. Sie haben Angst im Fegefeuer zu landen, wenn sie nicht zum Bischof stehen. Doch einige sind einfach nur Dummköpfe, denen ein Krieg fehlt, in dem sie ihre Kräfte messen und ihren Blutdurst stillen können“, war die Erklärung des Wirtes.
„Und beide Sorten sind gefährlich“, stimmte Frederic dieser Analyse zu. „Vor allem, wenn sie von den entsprechenden Männern angeführt werden.“
Es wurde Zeit die Reise fortzusetzen. Er dankte dem Wirt für sein Vertrauen und wünschte ihm Glück, bevor er die Damen zur Kutsche begleitete.
„Gnädiger Herr?“
Frederic drehte sich noch einmal um.
„Wenn ich Euch, oder den Euren eines Tages von Nutzen sein kann, dann zählt auf mich.“
Der Fürst trat auf ihn zu und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter. „Halte deine Ohren offen! Wenn du etwas von Wichtigkeit hörst, dann lass es mich wissen!“
Der Wirt verneigte sich noch einmal und sie fuhren ab.