Читать книгу Die Selbstwertmanufaktur - Carsten Stier - Страница 15

2.1 Interview mit Torsten Hebel, dem
ründer der ['blu:boks] BERLIN

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Zur Person

Torsten Hebel, geboren 1965, lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Berlin. Nach einer Tischlerlehre absolvierte er eine Schauspielschule in den USA und studierte anschließend am Theologischen Seminar Rheinland. 2009 gründete er die ['blu:boks] BERLIN und leitete sie bis 2016. Zusammen mit Martin Schaefer ist er seit 2016 Geschäftsführer des ['blu:boks] Familien- und Bildungszentrums, welches die Kinder- und Jugendeinrichtung um eine Kita, ein Café als Begegnungsort für Familien und Senioren im Umfeld sowie eine Eventfläche und ein Beratungszentrum ergänzt. Torsten Hebel ist zudem mehrmals im Jahr mit Vorträgen und seinem eigenen Comedy-Programm im deutschsprachigen Raum unterwegs.

Sie sagen, die Vision der ['blu:boks] BERLIN ist aus Ihrer eigenen Not geboren worden. Was genau meinen Sie damit?

Torsten Hebel: Ich bin überzeugt davon, dass das, was uns am meisten umtreibt, die Brüche und Verletzungen im Leben sind, die uns später motivieren und antreiben. So war und ist es bei mir.

Meine Kindheit und Jugend war geprägt durch Systeme, die mir immer wieder gespiegelt haben: So wie du bist, bist du nicht gut! Mein Kernsatz war: „Das, was ich bin und tue, ist nicht richtig!“

Ich bin als Kind mit dem permanenten Bewusstsein aufgewachsen, nicht okay zu sein. Mein Vater hat unsere Familie sehr früh verlassen. Ich habe das damals als unglaubliche Ablehnung empfunden. Warum geht er? Warum liebt er mich nicht genug, um zu bleiben? Auch im Kontext meiner Kirchengemeinde hörte ich, dass man einen gewissen Standard erreichen muss, um Gott zu gefallen. Dies prägte mich als Kind und setzte sich in meiner Seele ab. Seither begleitet mich das als „innerer Kritiker“. Ich habe am eigenen Leib erlebt, wie schwierig es ist, auf dieser Grundlage einen gesunden Selbstwert aufzubauen. Ich bin irgendwann ins Jugendamt gegangen und habe gesagt, ich möchte etwas für Menschen mit Selbstwertdefiziten tun. Und ich schien genau den richtigen Zeitpunkt abgepasst zu haben, denn von der zuständigen Stadtteilkoordinatorin wurde ich auf die konkreten Nöte im Bezirk Berlin-Lichtenberg hingewiesen.

Wo sehen Sie Parallelen zwischen Ihrem Werdegang und dem der Kinder und Jugendlichen in Lichtenberg?

Torsten Hebel: Die Kinder, mit denen ich heute zu tun habe, haben eine sehr ähnliche Prägung und Erlebniswelt. Manche wachsen in einem Umfeld auf, in dem Elternteile die Familie verlassen haben. Sie empfinden sich von ihrem Umfeld abgelehnt. Sie fühlen sich nicht geliebt und geschätzt. Sie werden von der Breite der Gesellschaft nicht ermutigt und bedingungslos anerkannt und gefördert. Sicher haben diese Kinder und Jugendlichen ganz andere Erfahrungen als ich gesammelt, aber sie denken und fühlen permanent: „Ich schaffe das sowieso nicht. Ich bin nicht okay. Ich werde sowieso nichts aus mir machen können. Keiner interessiert sich für mich. Ich bin wertlos.“ Ich erkenne mich in diesen Kindern wieder. Das macht mich traurig und wütend zugleich.

Sie haben unterschiedliche Berufe erlernt und sind verschiedensten Tätigkeiten nachgegangen. Wie kam es schließlich zu der Entscheidung, eine sozial-kulturelle Jugendarbeit ins Leben zu rufen?

Torsten Hebel: Mein erster Beruf war Tischler, dann kam das Schauspielstudium und schließlich meine theologische Ausbildung. Meine Lehre zum Tischler war geprägt durch einen sehr harten Umgangston und viel Erniedrigung. Das erste Mal, dass mir andere Menschen bewusst Selbstwert und Zuspruch für meine Begabungen gegeben haben, war auf der Schauspielschule. Dennoch blieb ich nicht in dem Bereich, sondern studierte Theologie, da ich schon immer Pastor werden wollte. Doch auch am theologischen Seminar stieß ich aufgrund privater Rückschläge schnell auf Ablehnung und Grenzen. In den darauffolgenden Jahren habe ich viele überregionale Jugendevents gestaltet, die sehr erfolgreich waren. Teilweise kamen tausende Jugendliche zu meinen Veranstaltungen. Doch nach einigen Jahren begannen die Zweifel in mir stärker zu werden, inwieweit wirkliche Transformation im Leben der Jugendlichen passieren konnte. Ich wollte mehr begleiten und Beziehung nachhaltig leben. Ich habe mich hingesetzt und aufgeschrieben, was ich alles kann, welche Stärken und Schwächen ich habe und welche Träume. So entstand die erste Idee der ['blu:boks]. Ich habe mir gesagt, ich will einen Ort in der Gesellschaft schaffen, eine Oase, einen Erlebnisraum, wo andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Nicht die Gesetzmäßigkeit des Bewertens. Nicht die Gesetzmäßigkeit erst einmal etwas tun zu müssen, um Teil werden zu können. Sondern bedingungslose christliche Nächstenliebe. So verstehe ich Nächstenliebe: Nie wird jemand ausgeschlossen, bedingungslose Annahme wird immer gelebt und jeder darf kommen und jeder darf sein. Ich wusste, ich war kein Sozialarbeiter, aber ich habe noch andere Stärken als das Schauspiel. Ich wollte Menschen um mich sammeln, die diese ergänzende Fachausbildung hatten und im Team mit mir gemeinsam diesen Traum in die Realität umsetzen können.

Gab es noch weitere persönliche Einflüsse oder Umstände, die zur Entstehung der Vision ['blu:boks] BERLIN führten?

Torsten Hebel: Ja, die ungerechte Behandlung der Kinder in unserer Gesellschaft. Ich kann Ungerechtigkeiten nur sehr schwer ertragen. Wenn ich sehe, wie Kinder an vielen Stellen behandelt werden, macht mich das richtig wütend! Wenn ein Schwächerer ausgegrenzt wird oder Schutzbefohlene misshandelt werden, bricht es mir das Herz! Ich kann die Situation nicht grundsätzlich ändern, aber ich kann lindern, Kraft geben oder vielleicht heilen. Ich kann mithelfen, dass diese Kinder mit ihren Wunden lernen, aufrecht im Leben zu stehen und vorwärts zu gehen und wenn sie fallen, immer wieder aufzustehen. Und sie sollen schließlich lernen, irgendwann selber anderen Menschen zu helfen, in ihrer Persönlichkeit heil zu werden.

Wie gehen Sie mit der inneren Wut über Ungerechtigkeit um, wenn Sie gleichzeitig das Gefühl haben, nie genug tun zu können?

Torsten Hebel: Ich glaube, die innere Wut kommt ja immer aus dem Gefühl, nicht genug tun zu können. Diese Wut speist sich aus einer gewissen Hilflosigkeit. Man kann dann entweder verbittern und sich in eine Depression zurückziehen oder man kann aktiv werden und etwas in seinem eigenen Umfeld dagegen tun. „Selbst die größte Dunkelheit kann dich nicht daran hindern, eine Kerze anzuzünden“, heißt es in einem bekannten Spruch. Diese Kerze kann die ['blu:boks] sein oder irgendetwas anderes. Aber wir müssen etwas tun! Müssen aktiv werden!

Dennoch erleben viele Menschen Rückschläge in der sozialen Arbeit. Wie oft kann ein Visionär / eine Visionärin scheitern, bevor die Vision stirbt?

Torsten Hebel: Das ist natürlich individuell sehr unterschiedlich. Ich glaube sogar, man muss scheitern, damit die Vision, die man hat, sich an der Wirklichkeit zurechtstutzt. Ich kenne keinen einzigen Gründer, der nicht vorher gescheitert ist. Das gehört dazu. Die meisten Leute hören aber leider auf, wenn sie einmal gescheitert sind. Ich bin froh, dass ich anfangs gescheitert bin, weil ich sonst heute eine Arbeit hätte, die ich gar nicht wollte. Es ist wie bei einem Steinmetz: Bestimmte Dinge von meiner Vision wurden weggeschlagen, aber dadurch bekam sie erst Konturen. Das ist schmerzhaft. Aber ich wusste, was von der veränderten Vision übrig geblieben war, kann ich nun umsetzen. Meine Vision wurde immer kleiner und kleiner, weg von einem riesigen Zentrum, hin zu einer kleinen Arbeit, die dann stetig gewachsen ist. Jetzt sehe ich, dass das der richtige Weg war! Vor allem darf man sich nicht beirren lassen, von all denen, die es meinen, besser zu wissen, weil sie in verantwortungsvoller Position ähnliche Arbeiten leiten. Es mag sein, dass diese Menschen wertvolle Tipps geben können, aber die meisten haben selbst keine Arbeit gegründet oder ins Leben gerufen. Hätte ich auf all diejenigen gehört, die mir gesagt haben, dass die ['blu:boks] nicht funktionieren wird, ich wäre keinen Schritt vorangekommen.

Welche Haltung und Denkart braucht ein Visionär / eine Visionärin Ihrer Meinung nach?

Torsten Hebel: Erstens musst du dich als Visionär bzw. Visionärin ernst nehmen. Lass dich nicht von deinem Umfeld beeinflussen, das dich als Spinner abstempelt oder dir sagt, dass es sowieso nicht klappen wird. Am Anfang sagen sie dir alle, du solltest auf die sichere Seite wechseln, sollst an deine Rente denken und so weiter. Wenn du das überstehst, weißt du, du bist wirklich ein Visionär bzw. eine Visionärin.

Zweitens umgebe dich mit Leuten, die deine Kreativität und deine Träume beflügeln und die dich nach vorne bringen. Du musst ein Team um dich haben, oder zumindest einige Freunde, die dich bestärken und ein Teil des Weges mit dir gehen. Auf Dauer kann keiner nur mit Kritikern leben. Du brauchst ein Umfeld, das dich bestätigt und motiviert. Drittens empfehle ich, sich mit Biografien von Menschen zu beschäftigen, die einen harten Weg gegangen sind, als Visionäre und Weltveränderer. Ich habe viel über Nelson Mandela und Mutter Teresa gelesen. Solche Beispiele haben mich beflügelt. Man sollte sich an solchen großartigen Menschen orientieren. Das begeistert und nährt den inneren Kern eines Visionärs / einer Visionärin.

Wie wird aus einer Vision ein tragfähiges Konzept?

Torsten Hebel: Zuerst sollte man ganz viel Arbeit in die Idee und das Leitziel stecken, in einem Satz oder einem Wort formulieren, worum es geht. Was genau will ich verändern? Denn Jugendarbeit ist ein weites Feld. Nach einer Phase von vielen Gesprächen mit unterschiedlichen Fachleuten war mir klar, dass es um das Thema „Selbstwert“ ging. Mir wurde deutlich, dass wir zuerst erlebten Selbstwert brauchen, um dann all die anderen Dinge in Angriff zu nehmen. Deshalb wurde die Stärkung und Entwicklung von Selbstwert zum Leitziel für die Arbeit der ['blu:boks].

Daraufhin sollten nach dem Leitziel das Konzept, die Methoden und Maßnahmen festgelegt werden. Wie und womit wollen wir dieses Leitziel erreichen? Uns wurde deutlich, dass wir es über Kunst und ästhetische Bildung erreichen wollten, weil wir davon überzeugt waren, dass Kunst in sich selbst wirksam ist. Im nächsten Schritt folgten die einzelnen Arbeitsaufgaben. Wir wollten professionelle Anleitung in Workshops durch Berufstänzer, -musiker, -schauspieler usw. sowie einen Pädagogen als Lifecoach und einen Assistenten einsetzen. Diese Aufteilung wurde uns allerdings erst klar, als wir alle Schritte nacheinander gegangen waren und das Leitziel immer wieder überprüft hatten. Das ist ein sehr müßiger und komplizierter Prozess. Fünf Jahre lang hatte ich versucht, Ideen und Projekte umzusetzen, und habe Konzepte erarbeitet. Alle sind gescheitert oder wurden abgelehnt. Daraufhin habe ich mir professionelle Hilfe gesucht. Ich habe eine Agentur, die Projektmanagement für Bildung, Kultur und Soziales macht, beauftragt, mit mir das Konzept auszuarbeiten. Dort ist dann die ['blu:boks] zum ersten Mal auf dem Reißbrett entworfen worden.

Ich bin überzeugt, dass ein Konzept und das Leitziel der Arbeit moderiert werden müssen. Leitziel, Maßnahmen und Methode wurden für die ['blu:boks] in einer professionellen Beratung definiert. Das ist meiner Ansicht nach sehr wichtig für jede erfolgreiche konzeptionelle Arbeit!

Was sollte nach dem konzeptionellen Entwurf einer Kinder- und Jugendeinrichtung maßgeblich beachtet werden?

Torsten Hebel: Pragmatismus. Die erste Grundsatzentscheidung, die getroffen wurde, war, dass das Konzept für die Kinder und Jugendlichen da ist und nicht die Kinder und Jugendlichen für das Konzept. Das heißt, da, wo das Konzept nicht passt, muss es angepasst werden und nicht umgekehrt. Wir arbeiten immer sehr dynamisch: Was nicht funktioniert, wird geändert. Unsere Zielgruppe lag beispielsweise anfangs in der Altersstruktur 13 bis 17 Jahre. Es kamen anfangs aber nur Kinder von 8 bis 12 Jahren. Das Konzept musste logischerweise an diese neue Altersstruktur angepasst werden. Des Weiteren ist es wichtig, auch die Methoden immer und immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und an die aktuelle Situation anzupassen. Qualitätskontrolle und Evaluation sind unerlässlich. Wir haben eine ausgeprägte Feedbackkultur. Jeder Workshop wird jeweils von den Kindern, den Mitarbeitenden und den Lifecoaches ausgewertet. Daran erkennen wir, wie es tatsächlich in den Workshops läuft. Was funktioniert gut und was nicht. Zudem darf eine Konzeption nicht zu kompliziert werden. Weniger ist mehr. Es geht darum, in der Einfachheit der Dinge den Erfolg zu erzielen. Und diese Einfachheit gilt es konsequent durchzuziehen.

Hat Ihr Konzept in der Eröffnungsphase der ['blu:boks] BERLIN im Sinne der Vision funktioniert? Welche Erfahrungen haben Sie in den ersten Wochen gesammelt?

Torsten Hebel: Teil unseres Konzeptes war es, die sogenannte „Kick-Off-Woche“ als Startpunkt für die Arbeit zu setzen. Ein großes Zelt mit Bühne und Lichtshow wurde aufgebaut, es gab Workshops am Vormittag und eine „Open Stage“ am Abend. Das hat die Kinder und Jugendlichen angezogen. Kein Flyer, keine Einladung und kein Zeitungsartikel werden Kinder je so begeistern können wie die Erfahrung, auf einer Bühne zu stehen. Das allein reichte aus, damit sich die Arbeit im Bezirk herumsprach. Die ganze Woche über besuchten uns über 300 begeisterte Kinder und Jugendliche aus dem Bezirk. Und 85 kamen ab dann auch mit ihren Freunden in unsere regulären Workshops unter der Woche. Gleichzeitig hatten wir als Team aber nicht viel Zeit, den Erfolg und Misserfolg der ersten Wochen zu messen. Wir waren zu sehr damit beschäftigt, uns miteinander abzustimmen. Das erwies sich als schwierig und führte am Anfang zu erheblichen Problemen. Wenn einzelne Mitarbeitende das Konzept der Arbeit nicht mittragen oder das Leitziel verfehlen, dann funktioniert die Zusammenarbeit nicht. Da habe ich Fehler gemacht, zu lange an Menschen festgehalten und Dinge laufen gelassen, die nicht gut waren. Manche Wege mussten sich dann schmerzlich trennen. Aber in der Startphase einer Gründung reagiert man öfter, als dass man agiert!

Wie hoch ist die Gefahr, gerade in der schwierigen Anfangsphase die eigentliche Vision aus den Augen zu verlieren?

Torsten Hebel: Sicherlich groß. Visionäre, die eine Arbeit beginnen, sollten immer ein Netzwerk um sich haben, in welchem sie ergänzt werden und Rücksprache halten können. Sie sollten auch Freunde um sich sammeln, denen sie unabhängig von ihrem Arbeitsumfeld begegnen. Diese Beziehungen machen Mut und können in kritischen Situationen bestärken und richtungsweisend sein. Das kann eine Gemeinde sein oder eine andere motivierende Gruppe, aber ganz allein ist es schwer.

Es gibt überall Not auf der Welt. Woher weiß ich, wo ich mich am sinnvollsten engagieren kann?

Torsten Hebel: Auch da gibt es sicherlich etliche Antworten. Manchmal findet man die Not in seinem unmittelbaren Umfeld. Unabhängig davon, ob es mit einem selbst oder seiner eigenen Lebensgeschichte zu tun hat. Man kommt daran gar nicht vorbei. Da gilt es in dem Moment etwas zu tun und einzugreifen. Das sehe ich als meine Aufgabe als Mensch und Christ: dort zu helfen und diese akute Not zu lindern. Wie schon erwähnt, bedeutet mir das Thema Wertschätzung und Resilienz viel, weil es in meiner Biografie begründet ist. Es ist mein Lebensthema. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, heißt es in der Bibel. Wer ist dein Nächster? Wo sind die kürzesten Wege zur Not des Nächsten? Ich gehe davon aus, dass man andere nur anstecken kann, wenn man selbst brennt. Am leichtesten brennen wir für das, was uns wirklich begeistert oder angeht. Gerade wenn es schwierig wird, ist es gut, eine Vision zu haben, die mit einem selbst zu tun hat. Es geht letztlich immer darum, seine eigenen Ressourcen zu nutzen.

Die Selbstwertmanufaktur

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