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Apanachi

Als Sammy erwachte, brummte sein Schädel ungefähr so, als hätte er drei Tage nonstop neben Brögelmanns voll aufgedrehten Boxen gestanden und keine Ohrstöpsel dabeigehabt. Ihn fröstelte. Wo war er? Was war passiert? Von tiefer Dunkelheit umgeben, versuchte er, sich aufzurichten. Eine sanfte Kralle hielt ihn zurück.

«Ruhig.»

So eine Stimme hatte er noch nie gehört. Eine dunkle, leicht rauchige Weibchenstimme. Sammy spürte, wie sich unter seinem Pelz eine Gänsehaut bildete. Die Stimme klang mehr als sexy! Wer mochte sie sein? Der Kater hob die Nasenflügel an, um seinen Geruchssinn voll entfalten zu können. Nicht schlecht: Chantal Nummer fünf. Klarinette Kussmaul hatte auch immer dieses Parfüm benutzt. Die umschwärmte Klassenschönheit zu Pelztieroberschulzeiten in Hannover. Die weiche Kralle streichelte ihm sanft über das Fell.

«Ganz ruhig. Hier sind Sie sicher! Sie haben Glück gehabt. Sie haben sich nichts gebrochen. Lediglich Prellungen und Blutergüsse, wenn auch am ganzen Körper. Die können wir gut heilen. Dauert nur etwas!»

Tatsächlich verspürte Sammy überall Schmerzen. Doch das interessierte ihn jetzt mit am wenigsten.

«Wer sind Sie?»

«Apanachi. Apanachi von Attendorn.»

Er versuchte erneut, sich aufzurichten. Diesmal mit Erfolg.

«Dann kennen wir uns noch nicht. Ich bin Sammy Kater. Nenn mich einfach Sammy.»

Sie lachte leise.

«Das trifft sich gut! Wir duzen uns hier sowieso alle in der Höhle!»

«In der Höhle?»

Sammys Augen hatten sich mühsam an die Dunkelheit gewöhnt, ohne dass er sein Umfeld vollständig erkennen konnte. Eine echsenartige Gestalt saß vor seinem Lager. Eine weitere näherte sich ihnen.

«Wo bin ich hier?»

Die Gestalt erreichte sein Krankenlager, begrüßte ihn ebenfalls und ergriff das Wort.

«Du bist in dem von Menschen unerforschten Teil der Atta-Höhle! Sonst hätten wir auch keine Ruhe.»

Sammy zuckte zusammen. Er war im unerforschten Teil der Atta-Höhle? Na, das konnte ja heiter werden.

«Wer bist du?! Um Bastets willen! Was ist passiert? Ihr seid keine Katzen, oder?»

Der Kater blickte verzweifelt in die Dunkelheit.

«Stimmt auffallend! Ich bin Horst», er erhob seine Stimme, «der Grottenolm Horst. Ich lebe mit meinen Artgenossen in dieser Höhle. Ich weiß, man sieht uns selten in der Oberwelt! Wir beiden Hübschen kennen uns allerdings schon!»

«Ich kenne keinen Horst und schon gar keinen Grottenolm!»

Ein schlangenartiges Wesen war inzwischen an seinem aus Zweigen und Moos bestehenden Krankenlager angelangt, so viel konnte Sammy erspähen. Das also war ein Grottenolm. Ein kleiner Fetzen Erinnerung blitzte vor seinem inneren Auge auf. Genug, um nun einschätzen zu können, in welchem Zusammenhang ihre Begegnung stattgefunden haben musste. Wie peinlich!

«Sorry. War nicht so gemeint!»

«Sah aber ganz so aus. Du wolltest mich gestern fressen. Das ist nun mal der Kreislauf des Lebens. Fressen und gefressen werden. Leider. Wir Olme machen da nicht mit. Wir sind schon von Natur aus Vegetarier. Apanachi und ich haben dir ein paar Beeren gesammelt. Damit kannst du deinen Hunger stillen. Wenn du versprichst, uns in Ruhe zu lassen, stelle ich dich den anderen vor.»

Apanachi reichte Sammy einige Früchte, die dieser gierig verschlang.

«Kein Thema. Ich richte mich da ganz nach euch! Nichts für ungut!»

Sammy spürte, dass sich seine Körperhaare vollzählig aufstellten. Wie unangenehm. Derjenige, den er noch kürzlich zum Mittagessen auserkoren hatte, schien ihm nach Lage der Dinge das Leben gerettet zu haben.

«Wird nicht wieder vorkommen.»

Mehr als diese Floskel fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

«Fände ich auch irgendwie blöd. Jetzt lasse ich dich mit Apanachi allein. Sie wird sich um dich kümmern. Hin und wieder werde ich vorbeikommen und schauen, ob die Zeit reif für deinen Besuch im Hauptwohnbereich unserer Grotte ist.»

Horst entfernte sich langsam, und der Verletzte blieb mit dem Weibchen zurück.

«Du heißt wirklich Sammy? Den Namen habe ich ja noch nie gehört!»

Ihre Stimme war wirklich der Hammer!

«Noch nie? Ganz viele Kater heißen so! Jedenfalls in meiner Generation.»

Er konnte ihre Bewunderung förmlich spüren. Das Weibchen schien nicht nur seinen Namen zu mögen, sondern hielt ihn darüber hinaus auch noch für exotisch! Das schmeichelte ihm. Bald konnten seine Augen mehr erkennen.

«Du siehst ja ganz anders aus als Horst. Bist du wirklich eine echte Grottenolmin?»

«Ich bin zur Hälfte Grottenolmin. Ein Elternteil von mir muss ein Salamander gewesen sein, wenigstens auch eine Lurchart. Herkunft ist hier in der Höhle leider viel wichtiger als Charakter oder so!»

Sie stöhnte.

«Genau weiß ich das mit der Abstammung aber nicht. Genau wie Horst bin ich als Findelei hier abgelegt worden. Da gab es schon die Grottenolm’sche Eierklappe. Bei Horst war das noch anders.»

Sammy erhob ächzend seinen Oberkörper.

«Grottenolm’sche Eierklappe? Davon habe ich ja noch nie gehört! Was ist das?»

«Wenn ein Weibchen abgelaicht hat und die Eier nicht ausbrüten kann – vielleicht weil sie krank ist und nach dem Schlüpfen der Kinder alleinerziehend wäre, weil sich der Vater schon vor dem Ablaichtermin aus dem Staub gemacht hat –, dann hat sie die Möglichkeit, sie in die Eierklappe zu legen. Auch unter Lurchen gibt es verantwortungsvolle Väter und andere. Dann übernimmt unsere Gemeinschaft diese Aufgabe – so wie bei mir.»

Sammy bewegte seinen Kopf hin und her.

«Und warum bist du dort abgelegt worden?»

«Keine Ahnung, aber eigentlich liegt der Grund doch auf der Klaue: Ich bin Wechselblüterin. Halb salamander-, halb grottenolmstämmig. Die Kombination kommt nicht oft vor und verstößt gegen sämtliche gesellschaftlichen Konventionen.»

«Ist Horst auch ein Wechselblüter?»

«Das schon, aber seine Geschichte wird er dir erzählen, wenn er will. Horst verfügt als Einziger von uns über volle Sehkraft. Wir anderen können lediglich hell und dunkel unterscheiden.»

«Ihr alle?»

«Ja, aber wir haben andere Stärken. Hören und fühlen zum Beispiel.»

Sie streichelte Sammy mit erstaunlich sanfter Kralle über das Fell.

Sammy atmete tief ein. Da konnte einem ja ganz anders werden! Die Halbsalamanderin hatte Gefühl. Schnell das Thema wechseln, bevor ihn Apanachis Anziehungskraft vollständig in ihren Bann gezogen hatte.

«Ich bin ein Säugetier und kenne mich mit dem Brüten nicht so aus. Interessierst du dich dafür, wie wir zur Welt kommen?»

«Nein. Was ist das: ein Säugetier?»

«Wir werden nicht ausgebrütet. Nach unserer Geburt sind wir direkt auf der Welt. Auch wir sind dann fast blind, aber nur die ersten paar Tage.»

«Ihr schlüpft nicht irgendwann aus eurem Ei und seid dann da?»

«Nein.»

Ab diesem Punkt profitierte Sammy von der Tatsache, im Biologieunterricht hin und wieder doch aufgepasst zu haben. Wenn er mal nicht unter der Bank «Der Kratzbaum – das Magazin für Pelztiereinrichtung und Lifestyle in Niedersachsen und Umgebung» oder montags und donnerstags den «Kleintier-Kicker» gelesen hatte. Auf Basis dieses Schulwissens erklärte er seiner Pflegerin die Mysterien der Geburt als Säugetier und alles, was ihm noch wichtig erschien, während Apanachi mit zunehmender Begeisterung seinen Erzählungen lauschte.

Immer wieder unterbrach sie seine Ausführungen mit Ausrufen der Begeisterung und des Erstaunens.

Das schmeichelte Sammy, und je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, desto stärker fühlte er sich zu ihr hingezogen. Während er redete und ganz in seinem Element war, streichelte Apanachi erneut mit sanfter Kralle über seinen Pelz.

«Ich stehe auf behaarte Männchen», säuselte sie mit sonorer Stimme. Jetzt war guter Rat teuer. Das ging ihm bei aller Anziehungskraft dann doch etwas zu schnell. Zumal sie rein optisch nicht im Ansatz sein Typ war. Er mochte ihre Stimme, auch ihr Parfüm, aber weder in seinen Träumen noch in der Realität hatte die Partnerschaft mit einer Lurchin jemals eine Rolle gespielt.

Jetzt hieß es Zeit gewinnen. Langsam näherte sich ihr Maul seiner Schnauze. Sollte er ihre Zuneigung vielleicht doch erwidern? Die Aussicht, den Weg außerhalb aller gesellschaftlichen Zwänge zu gehen, hatte durchaus ihren Reiz. Die Gesellschaft hatte er mit dem Ausscheiden aus der Fachhochschul-Community sowieso hinter sich gelassen. Der Kater sog den Duft ihres Parfüms ein. Apanachi war im Gesamtpaket keinesfalls unattraktiv. Je intensiver er darüber nachdachte, desto ansehnlicher wurde sie in seinen Augen. Außerdem hatte sie sich durch aufopferungsvolle Pflege verdient gemacht. Charakterlich war sie top. Sie gehörte einfach nur einer anderen Tierart an. Am besten, er ließ es einfach darauf ankommen. Langsam näherten sich ihre Schnauzen einander.

«Hallöchen», ertönte da eine Stimme aus dem Hintergrund.« Wie ich sehe, geht es dir besser, Sammy!»

«Ja-ha. Alles im grünen Bereich!»

Er hob den Kopf und stieß mit Wucht gegen etwas verdammt Hartes! Wie vom Blitz getroffen, prallte er zurück und landete auf seinem Krankenlager.

Horst lachte.

«Das war ein Stalaktit. Ganz schön finster hier. Im Inneren der Höhle wird es noch mal dunkler. Aber man gewöhnt sich an alles.»

Sammy spürte, wie sich binnen Sekunden eine unglaubliche Beule auf seiner Stirn bildete.

«Kleine Sünden bestraft Nihil sofort, große etwas später! Wer mich fressen will, kriegt seine Strafe schon!»

Horst lachte erneut.

Schien ja ein launiges Kerlchen zu sein, dieser Grottenolm! Andererseits hatte er ihm das Leben gerettet. Das war aller Ehren wert. Vor allem bei der Vorgeschichte.

«Was für ein Nihil?»

«Nihil ist unsere oberste Gottheit. Jedenfalls die der anderen! Ich bin da nicht ganz so sicher. Alle Grottenolme sind Nihilisten. Nihil wird von Eberhard unterstützt, seinem Assistenten. Ein Halbgott, der hauptsächlich die Urlaubs-und Krankheitsvertretung abdeckt.»

«Davon habe ich ja noch nie gehört! Ist dieser Nihil auch ein Grottenolm?»

«Die anderen glauben das. Ich habe da so meine Zweifel. In unserer Tempelgrotte steht eine angeblich originalgetreue Statue von ihm. Behauptet jedenfalls unser Priester. Nihil selbst soll sie ihm bei einem Ausflug an die Oberwelt übergeben haben. Aber die sieht ganz anders aus als wir. So richtig konnte ich mir noch keinen Reim darauf machen. Du wirst sie bald zu Gesicht bekommen. Tu mir bitte den Gefallen, und sage nichts! Bei uns ist der Weg vom akzeptierten Tier zum Nestbeschmutzer nicht weit.»

Im Laufe der Zeit wurde Sammys Gesundheitszustand besser. Zwar verlor der Kater in der Höhle jedes Zeitgefühl, doch es dauerte nicht so lange, wie er befürchtet hatte, um wieder auf die Beine zu kommen. Mit seiner Pflegerin verband ihn eine enge platonische Beziehung. So nah wie zu Beginn seines Höhlenaufenthaltes kamen sie sich nie wieder. Zumindest Sammy wurde im Laufe der Zeit klar, dass eine Beziehung keine Zukunft haben konnte, und auch Apanachi nahm Abstand von Aktionen, die über die reine Pflege hinausgingen.

Eines Tages erschien Horst bei ihnen. An sich nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich war der Anlass.

«Es ist an der Zeit», sagte der Olm. «Heute ist eine Feier in unserer Andachtsgrotte. Die anderen sind sehr gespannt auf dich. Ich werde dir die wichtigsten Bewohner unserer Höhle vorstellen!»

Leise stöhnend stand der Kater auf und folgte Horst und Apanachi in Richtung Höhleninneres. Während sich das Weibchen seinen Weg in die noch tiefere Dunkelheit souverän ertastete, hatte sich Sammy bei Horst eingehakt. Der Schwanzlurch selbst kannte solche Probleme anscheinend nicht. Nach einem verwirrenden Weg erreichten sie die Grotte. Sie traten ein, und Sammy erblickte bei spärlichstem Lichtschein durch zwei am Kopf des Raumes stehende Kerzenstumpen vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzig identisch wirkende, auch in diesem Licht deutlich fahler als Horst erscheinende Olminnen und Olme. Sie standen in Dreierreihen vor einer großen Figur.

Sammy hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken.

Die Figur war eine echte Überraschung. Gerade wollte der Kater das Missverständnis aufklären, da fielen ihm Horsts Worte ein: «Sag nichts!»

«Ist das die Nihil-Statue?»

Er stieß Horst in die Seite.

«Ja.»

Jetzt war guter Rat teuer. Das war keine Gottesstatue. Es war eine ganz gewöhnliche Schaufensterpuppe mit Sommerjacke und Strohhut, die zu allem Überfluss zusätzlich mit roten Wollsocken dekoriert worden war.

Horst führte ihn auf eine Art Bühne. So standen sie oberhalb der anderen Anwesenden, direkt neben der vermeintlichen Gottesstatue.

Ein grimmig blickender Grottenolm im weiten Gewand empfing ihn, um nach der ersten Berührung mit Sammys Pelz wie vom Blitz getroffen auf den Boden zu sinken.

«Ein Gesandter Nihils beehrt unseren heiligen Tempel!»

Auch die anderen Teilnehmer der Messe warfen sich nun ehrfürchtig vor ihn.

«Nihil sei gepriesen!», riefen sie. »Nihil ist groß! Nihil sei Dank, dass er uns ein Zeichen geschickt hat!»

Wie unangenehm! An eine peinlichere Situation konnte sich Sammy beim besten Willen nicht erinnern. Dabei hatte im Laufe der Jahre schon allerhand erlebt! Allein während der Zeit mit Brögelmann, der über die seltene Gabe verfügt hatte, selbst kilometerweit entfernte Fettnäpfchen mit brutalster Effektivität zu treffen.

«Steht auf, ich bin kein Gesandter eures Gottes! Ich bin Sammy Kater, ein ganz normales Pelztier aus Niedersachsen!»

Die Olme horchten auf, fuhren aber nach kurzer Unterbrechung fort.

«Nihil ist groß! Sei gesegnet, Fremder!»

Der grimmige Olm, anscheinend ihr Priester, wandte sich ihm zu. «Du prüfst uns, oh, Sammy Kater! Was ist das? Niedersachsen?»

«Nein, ich bin einfach Sammy. Ein ganz gewöhnlicher Kater aus Hannover oder Hagen-Haspe oder sonst woher. Lange Geschichte. Wo das liegt, tut nichts zur Sache. Steht erst mal auf! Habt ihr denn gar keine Ehre im Leib?»

Zögerlich erhoben sich die ersten Tempelbesucher. Nach und nach nahmen alle Schwanzlurche wieder ihre alte Position ein, während sich Sammy schnellstmöglich unter sie mischte. Als wäre nichts passiert, rappelte sich auch der Priester auf, reckte beide Ärmchen und erhob feierlich die Stimme: «Ich habe soeben Nihils Geist empfangen. Er ist bereit, zu euch zu sprechen.»

Wenige Sekunden später wurde Sammy Zeuge, wie ein winziger Olm aus der linken Grottenecke schlich, an der Schaufensterpuppe hinaufkletterte und im Hohlraum ihres Kopfes Platz nahm.

Unter Olmen

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