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Prolog

Wenn das Pelztier zwölfmal bimmelt

Ding-Dong.

Es klingelte.

Das war eine Überraschung. Seit dem Auszug meiner Partnerin Inkompetentia Becker vor knapp drei Jahren hatte ich keinen Besuch mehr bekommen. Ein Paket oder eine Pizza standen auch nicht in Erwartung. Hermes und der Pizza-­Palast waren derzeit meine üblichen sozialen Kontakte. Heute aber hatte ich es mir nach dem Mittagsmahl bei Peters Pommes-Paradies vor dem Fernseher bequem gemacht. Eine Dokumentation über marodierende Flamingo-­Populationen in der Mark Brandenburg fesselte meine Aufmerksamkeit.

Ding-Dong. Ding-Dong. Ding-Dong.

Da war aber jemand ungeduldig.

Ich stellte mein Rotweinglas zur Seite und schlurfte absichtlich gemessenen Schrittes zur Tür.

Ding-Dong.

Ich öffnete und schaute zu dem Störenfried hinunter. Ein Pelztier, wahrscheinlich katzenartiger Abstammung. Grau getigert, weiße Pfoten. Mein Hirnkasten arbeitete auf Hochtouren. Für den Erstkontakt war Sturmklingeln eher keine gute Lösung. Die schwarze Schirmmütze mit dem Logo von Hannover 96 auf dem Kopf meines Besuchers stimmte mich jedoch wieder milder, war ich doch selbst Fan der «Roten» aus meiner ursprünglichen Heimatstadt. Dennoch gingen mir zwei Wörter durch den Kopf: «Vorsicht» und «Falle!». Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Es hat schon seinen Grund, wieso ich nur dem Götterboten und dem Italiener vertraue.

In der rechten Pfote hielt das Tier eine Dose mit der Aufschrift «Deutsche Pelztiermission», in der linken ein Heft, das mir bekannt vorkam. Die Szenerie war nicht neu. Man darf sogar von einem Déjà-vu sprechen. Für einen Moment wurde ein Stück Vergangenheit vor meinem inneren Auge lebendig. Dann riss mich die erstaunlich tiefe, leicht knarzende Stimme des Winzlings aus den Gedanken.

«Bin ich hier richtig bei Carsten Wunn?»

«Blöde Frage!»

Ich zeigte auf das Klingelschild neben der Tür. Das Tier wirkte durch meine harsche Reaktion nicht sonderlich beeindruckt.

«Ich heiße Sammy», sagte es. Oder besser gesagt «er», wirkte mein Besucher doch keinesfalls, als würde sein Name von Samantha abgeleitet.

«Soso», antwortete ich, «und du sammelst also für die Deutsche Pelztiermission?»

Der Kater schaute verlegen zur Seite: «Ist eher eine Art Requisit, um deine Erinnerung aufzufrischen.»

Ich taxierte ihn genauer. Sammy war kleinwüchsig wie alle Katzen, doch er wirkte stämmig und durchtrainiert. Eine Spur zu definiert für einen Angehörigen seiner Art. Bestimmt wusste er, wie ein Fitnessstudio von innen aussah. Ich schaute an meinem Körper hinunter und blieb am Bauch hängen.

«Kniesel schickt mich», sagte er. «Viele Grüße aus der Messe- und Expo-Stadt!»

Ich war also auf der richtigen Spur gewesen.

Meine ehemalige Katze Kniesel lebte tatsächlich wieder in Hannover! Das war nicht selbstverständlich. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, fuhr sie gerade in den Himmel auf.

«Wie geht es ihr?», fragte ich.

«Gut.» Sammy sprang unruhig von einer Hinterpfote auf die andere. «Ähm. Hast du vielleicht ein Katzenklo? Ich bin schon sehr lange unterwegs.»

«Nein, nur ein Wasserklosett. Bitte hinsetzen und nachspülen!»

Ich trat zur Seite, sodass er vorbeischlüpfen konnte, und zeigte ihm den Weg.

Nachdem der Kater sein Geschäft erledigt hatte, bat ich ihn ins Wohnzimmer. Ohne zu zögern sprang er auf mein rotes Plüschsofa. Meine gute Erziehung zwang mich, die Wasserspur, die er hinter sich herzog, zu ignorieren.

Was sollte ich von diesem achtlosen Benehmen halten? Bei allem Ärger hatte ihn immerhin meine ehemalige Katze und Mitbewohnerin geschickt. Was hatte ich mit Kniesel vor Jahren nicht alles auf die Beine gestellt! Das ganze Land hatten wir bereist, einen fernen, nur von Paderborner Religionspädagogen besiedelten Planeten besucht und sogar das Ungeheuer von Heidelberg zur Strecke gebracht. Doch was wollte dieser Sammy von mir? Ein reiner Höflichkeitsbesuch konnte es nicht sein. Wir kannten uns nicht. Und lediglich Grüße von Kniesel ausrichten zu wollen klang doch stark nach einem Vorwand.

Sammy richtete den Oberkörper auf. In seinem Gesicht erschien ein merkwürdig süffisantes Lächeln.

«Du kannst gut schreiben», sagte er und warf mit lässiger Pfotenbewegung aus dem Gelenk heraus eine Mappe auf den Wohnzimmertisch. «Philosophische Betrachtung der kognitiven Ergotherapie im Landkreis Hannover des 14. Jahrhunderts.» Meine Diplomarbeit. «Klasse», sagte er, «ich habe jedes Wort verschlungen.» Ich beugte mich vor und nahm das akademische Papier in die Hand. Still betrachtete ich es, wie einen Boten aus tiefster Vergangenheit.

«Soll ich dir zurückbringen. Kniesel hat vergessen, sie dir wiederzugeben.»

War er wirklich nur hier, um mir meine Diplomarbeit zurückzugeben, von der sich noch locker tausend andere Exemplare auf dem Dachboden stapelten? Spätestens jetzt begann er, mir auf die Nerven zu gehen. Die Flamingo-Dokumentation im Fernsehen war längst beendet. Statt eleganten Federviehs saßen nun ein paar grauweiße Elefanten in Anzügen an einem halbrunden Diskussionstisch und machten sich gegenseitig Vorwürfe. Sehr häufig fielen die Begriffe «Fortschritt», «Investitionen» und «Wachstum».

«Ist das alles?», fragte ich.

«Nein», antwortete der Kater. «Ich möchte, dass du meine Geschichte aufschreibst – so wie du damals «Kniesel und ich» aufgeschrieben hast. Sie bekommt heute noch Fanpost. Und natürlich Drohbriefe von Leuten, die in dem Buch nicht so gut weggekommen sind. Jean-Jacques, der Hase, zum Beispiel. Aber das sei der Preis für ihre Prominenz, sagt sie.»

Ein Lächeln schlich sich in mein Gesicht. Ich verspürte den zarten Sog der Neugierde. Von «Kniesel und ich» lagert kein einziges Exemplar auf dem Dachboden. Anders als meine «Philosophische Betrachtung der kognitiven Ergotherapie im Landkreis Hannover des 14. Jahrhunderts» war das kleine, schwarze Büchlein ein Bestseller.

«Und was für eine Geschichte soll ich aufschreiben?»

«Ein Abenteuer, das ich mit den Olmen aus der Atta-Höhle erlebt habe. Du erinnerst dich an Horst?»

Ich horchte auf. Horst! Ihn hatte ich immer gemocht. Allerdings schuldete er mir noch elf Euro fünfundneunzig von einem Kirmesbesuch, bei dem er unbedingt drei zuckergussbeschriftete Lebkuchen erwerben musste. Für jede Freundin einen. Zwölf Euro hatte mich der Spaß gekostet, und gerade einmal fünf Cent hatte er mir nach langem Drängen und unter Protest zurückgegeben.

Ich bin nie kleinlich gewesen, aber mein Gedächtnis ist intakt. Bis heute. Vielleicht gab es wenigstens die Möglichkeit, über Sammy mein Geld wiederzubekommen.

«Hat Horst einen Job?»

«Klar.» Sammy nickte. «Jedenfalls behauptet er das.»

Das Pelztier knetete ungeduldig seine Vorderpfoten.

«Und? Schreibst du die Geschichte? Die wahre Geschichte des Grottenolms Horst? Es soll zu deinem Schaden nicht sein.»

Er stoppte die Pfotenkneterei für einen Moment.

«Wer weiß», säuselte er, «vielleicht wird es ein neuer Kniesel?»

Ich rieb meinen Bart. Es klang verlockend. Auf den Pizzen, die der Bote mir brachte, waren Lachs und echte Garnelen schon länger gestrichen. Von einem einzigen Roman kann auch der sparsamste Mann kein ganzes Leben zehren.

«Vielleicht erzählst du erst mal in groben Zügen, worum es geht.»

Mein Gegenüber ließ sich nicht lange bitten.

«Letzten Samstag habe ich Horst im Sexy Exxy getroffen, einer uralten Grottenolm-Kneipe in der Kluterthöhle in Ennepetal. Aus alter Verbundenheit gehe ich manchmal noch dorthin. Den einen oder anderen aus der Schwanzlurch-Szene kenne ich von früher. Horst hatte ich dort aber bisher noch nie gesehen. Zum Glück! Was für eine fürchterliche Begegnung! Früher war Horst eine Seele von Tier. Aber jetzt? Völlig abgehoben! Er wurde von zwei ständig kichernden Olmschnepfen begleitet. Eine im rechten, eine im linken Arm. Vor sich einen Caipirinha, Sonnenbrille auf dem Kopf. Nachts! Bei Regen! Er schmiss eine Lokalrunde nach der anderen und erzählte, er sei jetzt in der Lügendetektorbranche tätig. Als Tester. Er behauptet, in puncto Lügen könne ihm keiner was vormachen.»

Ich stützte mein Kinn auf die rechte Faust. Fürchterlich! Das klang so gar nicht nach dem Horst, den ich kannte. Auch der Name der Location klang etwas halbseiden.

«Wie kommt das? Ich habe Horst immer als freundliches, durch und durch sympathisches Tier erlebt. Er hat Kniesel und mich aus unserer Depression geholt, damals in Heidelberg …»

«Ich weiß. Und er wird mir auch immer sympathisch bleiben, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Aber seitdem ist viel passiert. Horst ist berühmt geworden, zumindest in Olm-Kreisen. Das kann einem zu Kopf steigen. Mit dieser Lebensgeschichte …»

«Was ist denn passiert? Woher kennt ihr euch überhaupt?»

«Weißt du wirklich nichts davon? Wo Horst herkommt? Seine wahre Identität? Hast du niemals etwas von der Grottenolm’schen Eierklappe in der Atta-Höhle gehört?»

Er schaute mir fest in die Augen. Seine Stimme sank erneut um zwei Oktaven.

«Vergiss alles, was du über Horst zu wissen glaubst! Ich kenne sein Geheimnis. Die wahre Geschichte des Grottenolms!»

Jetzt hatte er mich.

«Erzähl!»

Schon nach wenigen Sätzen zog mich Sammys Geschichte dermaßen in ihren Bann, dass ich die Zeit vergaß. Es war längst dunkel geworden, als wir uns verabschiedeten, nicht ohne vorher Adressen und Telefonnummern ausgetauscht zu haben. Trotz gewisser Zweifel an der Gewissenhaftigkeit seiner Ausführungen war ich sicher, mit Sammys Geschichte auf eine Goldader gestoßen zu sein. Der Lachs und die Garnelen würden auf die Pizza zurückkehren. Ich sah sogar schon das Verlagsessen vor mir, rund um die Buchmesse in Frankfurt. Ein golden erleuchtetes Restaurant mit Rundbögen und riesigen Dekorationsflaschen. Kaminfeuer, Dunkelbier und Rotwein, Lektorinnen und Kollegen. Der Kater und ich verabredeten eine enge Zusammenarbeit, die wir kurz darauf schriftlich fixierten.

Unsere Treffen waren lang. Tage. Nächte. Viele Pizzen. Unzählige Dosen Thunfisch in Gelee. Oft genug hatte ich Grund, den Wahrheitsgehalt der Ausführungen Sammys anzuzweifeln. Die meisten ließen sich ausräumen. Einige sind auch nach jahrelanger, knallharter Recherche bestehen geblieben und haben damit zur Verzögerung des Erscheinungstermins beigetragen. Danken muss ich Sammy für seinen genauen Blick darauf, wie ich als Autor seine Berichte dramaturgisch inszeniert habe. Oft hatte er Sie, die Zielgruppe, genauer im Blick als ich. Im Verlaufe des Buches gewinnen Sie, liebe Leserinnen und Leser, einen Eindruck von unseren hitzigen Debatten. Als Pause und Erholung ziehen wir die Kamera alle paar Kapitel aus dem Geschehen und schalten ins «Making-of». Gerne können Sie diese Passagen auslassen, wenn Sie von der Geschichte selber so fasziniert sind, wie ich es war, als ich Sammys Erzählung lauschte. Allerdings gewinnen Sie dann nicht den Einblick ins aktuelle Verlagswesen und die harten Anforderungen, die sich einem Geschichtenerzähler heute stellen. Vor allem wenn er sein Honorar mit einem sportlichen Kater teilt, der viel Appetit und höchste Ansprüche an sein Futter hat.

Sammys Wunsch, ihn selbst mit Rücksicht auf seine Freunde und Anverwandten anonym zu behandeln, bin ich selbstverständlich nachgekommen. Er wird deshalb durchgehend lediglich als Sammy Kater bezeichnet. Warum diese Anonymität für alle anderen Protagonisten nicht gelten soll, ist mir zwar schleierhaft, aber im Grunde egal. Die Hoffnung, Pelztiere irgendwann erschöpfend verstehen zu können, habe ich schon lange aufgegeben.

Carsten Wunn, im Januar 2020

Unter Olmen

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