Читать книгу Die Dämonenschatz-Saga. Die Abenteuer von Bandath, dem Zwergling - Carsten Zehm - Страница 16
Konulan
ОглавлениеDie Bücherstadt erstreckte sich am Hang eines einzeln stehenden, sanft ansteigenden Berges. Südlich des Berges reichte ein dunkler Wald bis zum Horizont. Ihn würden sie auf ihrer Reise von Konulan nach Pilkristhal durchqueren müssen. Nördlich der Stadt zog sich, soweit das Auge reichte, eine Heidelandschaft hin, die von den Bürgern Konulans und den in der Umgebung siedelnden Bauern meist zu Weidezwecken genutzt wurde. Irgendwie war bisher fast jeder Krieg und jede bewaffnete Auseinandersetzung an Konulan vorbeigegangen – bis auf einen Bürgerkrieg vor einigen Jahren. Das hatte der Stadt die Chance gegeben, groß zu werden. Schön dagegen war Konulan nicht. Gut, es gab beeindruckende Gebäude innerhalb der Stadtmauern, die Bibliothek zum Beispiel. Riesengroß ragte sie mitten in der Stadt auf, überragte sogar den Tempel der Berggötter und den Palast der Fürstenfamilie. Auch Tempel und Palast waren groß und beeindruckend, ebenso viele der Bürgerhäuser. Aber schön? Für Bandath gab es bedeutend schönere Städte und Barella stimmte ihm zu, als er diesen Gedanken äußerte. Während sie zum nächstgelegenen Stadttor ritten, stellten sie eine Liste der Städte auf, die sie für schön hielten. Einig waren sie sich, dass sowohl Konulan als auch Flussburg weit hinten in dieser Liste lagen, Neu-Drachenfurt jedoch sehr weit vorn rangierte, auch wenn es eher ein sehr großes Dorf als eine Stadt war.
Wie üblich ließen sie Dwego und Sokah vor der Stadtmauer frei und die beiden verschwanden mit schnellen Sprüngen im Wald. Sie würden da sein, wenn Bandath und Barella sie brauchten.
Die Wachen am Stadttor stellten gelangweilt die üblichen Fragen nach dem woher und wohin, mehr am Wetter und ihrem baldigen Feierabend interessiert, als an dem Magier und der Zwelfe. Bandath führte Barella zu einer kleinen Herberge, die er von früheren Besuchen her kannte. Der Verirrte Wanderer war sauber, mit einer guten Küche ausgestattet, sah allerdings nicht preiswert aus. In der Wirtsstube, holzgetäfelt mit kleinen Fenstern, standen nur acht Tische. Alle waren voll besetzt und der Geruch nach leckeren Speisen zog durch den Raum. Bandath schob Barella zwischen den Stühlen hindurch direkt zum Tresen, hinter dem der Wirt, ein grauhaariger Elf, Gläser putzte.
„Zwei Bier und ein Zimmer, wenn’s recht ist“, sagte Bandath.
Mit lautem Hallo begrüßte der Elf den Magier, als sei dieser einer seiner besten Kunden. Er kam hinter der Theke vor und umarmte den Zwergling herzlich. Barellas Augenbrauen rutschten jedoch in die Höhe, als der Wirt die Bezahlung der Unterkunft ablehnte.
„Wann hätte ich je von dir Geld genommen, Bandath?“
„Oh“, der Zwergling lächelte. „Ganz am Anfang, Farutil. Als wir uns kennenlernten, hast du ordentlich kassiert.“
„Ja, da wusste ich auch noch nicht, was in dir steckt. Aber du weißt genau, Magier“, er sprach das letzte Wort mit Hochachtung aus, „dass ich seit damals nicht einen Silberling mehr von dir kassiere.“
„Damals?“, flüsterte Barella dem Magier zu, als sich der Wirt umdrehte und einen Knecht rief, um ihn zu fragen, ob das „gute Gästezimmer“ gereinigt sei.
„Ich half Farutil einmal bei einer kleinen Schwierigkeit, nichts Bedeutendes.“
„Nicht weniger bedeutend als mein Leben“, mischte sich Farutil in das Gespräch. Er hatte die letzten Worte des Magiers gehört. „Unsere Stadt mag seit Jahrhunderten keinen Krieg geführt haben, schöne Begleiterin meines Lebensretters, das heißt aber nicht, dass es hier keine Banditen gibt.“ Er beugte sich weit über den schweren Eichentisch, der als Theke diente. „Sie waren zu zwölft, hatten mein Haus überfallen, raubten die Gäste aus und hatten eine ganze Menge unangenehme Sachen mit den Damen des Hauses vor, als Bandath dieses bescheidene Geschäft auf der Suche nach einer Unterkunft betrat … Meine Frau und die Töchter sind dir noch heute dankbar.“
„Wo ist Tharwana?“, nutzte der Zwergling das Stichwort, um von der Geschichte abzulenken.
Farutil stellte zwei Bierkrüge vor den Reisenden auf den Tisch. „Tharwana ist in der Küche. Sie hat als heutige Spezialität baloranische Schildkrötensuppe vorbereitet. Ihr könnt die Suppe nachher kosten. Sicherlich wird Tharwana nach vorn kommen, wenn ich ihr sage, dass du mal wieder im Lande bist. Meine Töchter sind mittlerweile beide aus dem Haus. Ro’hanna, die Große, hat einen Kaufmann geheiratet und To’nella, die Jüngere, nun, du weißt ja, wie sie ist. Hat ihren Schultersack geschnürt und ist in den Süden aufgebrochen. Sie ist in Pilkristhal bei einem Waffenschmied in die Lehre gegangen. Alle vier bis fünf Mondzyklen kommt ein Brief von ihr.“ Er zuckte resigniert mit den Schultern. „Kinder eben, du weißt, wie sie sind. Wissen immer alles besser als ihre Eltern, erwarten mehr vom Leben und kehren doch hoffentlich ab und an wieder nach Hause zurück.“ Dann plötzlich, als käme ihm jetzt erst der Gedanke, huschte sein Blick zwischen Bandath und Barella hin und her.
„Äh, wollt ihr zwei Zimmer oder lieber eines mit einem großen Bett.“ Sein vorwurfsvoller Blick traf Bandath. „Du hast mir deine Reisebegleiterin noch gar nicht vorgestellt!“
„Ich komme ja nicht zu Wort bei dir.“ Der Magier berührte die Zwelfe sacht an der Schulter. „Das ist Barella, seit über einem Jahr meine Gefährtin.“
„Dann ist es wahr, was man sich erzählt? Ihr beide habt dort oben in den Drummel-Drachen-Bergen im letzten Sommer eine Katastrophe verhindert?“
Beide nickten und Farutil betrachtete Barella mit neuem Interesse. Plötzlich beugte er sich vor und strich ihr vorsichtig das wild gelockte Haar über dem Ohr zurück.
„Ich wusste es, als du diesen Raum betreten hast. In deinen Adern fließt neben dem Blut der Zwerge auch edles Elfenblut.“ Er musterte sie von oben bis unten. „Das Beste aus beiden Rassen. Wahrlich, wenn ich nicht so alt wäre und Bandath nicht mein Freund, ich würde alles daran setzen, dich ihm abspenstig zu machen.“
Barella lächelte kokett und der Magier spürte erstaunt einen kleinen, eifersüchtigen Stich im Herzen.
„Was würde deine Frau dazu sagen?“, flötete Barella.
„Nun“, kam eine Stimme aus dem Hintergrund. „Die würde wahrscheinlich in der Sprache der Bratpfannen mit ihm reden! Diese Sprache kann jede Frau sprechen, egal ob Elfin, Zwergin oder Menschenfrau.“
Die Tür hinter dem Elf öffnete sich und zusammen mit großen Schwaden appetitlicher Gerüche kam eine Elfe aus der Küche und schwang eine gusseiserne Pfanne in der Hand. Sie war genauso alt wie Farutil, schlank, aber kräftig und machte einen sehr energischen Eindruck. Barella dachte sofort, dass diese Elfe sich wohl gut mit Waltrude verstehen würde.
„Raspelt der Alte schon wieder Süßholz? Hör nicht auf ihn, Mädchen.“ Sie schob sich an ihrem Mann vorbei und spähte über den Tresen. „Ich möchte von einem Troll geknutscht werden, wenn das nicht der kleinste und fähigste Magier von hier bis zu den Drummel-Drachen-Bergen ist.“ Sie eilte um die Theke herum und schloss Bandath kurz, aber heftig in die Arme und küsste ihn auf beide Wangen. Danach musterte auch sie Barella intensiv. „Bist du die, von der in Elfenkreisen gemunkelt wird, sie wäre die Tochter Gilbaths, des arroganten, eingebildeten und überheblichen Elfenfürsten der Riesengras-Ebene?“
„Du hast anmaßend, hochmütig und selbstherrlich vergessen, als du meinen Vater beschrieben hast.“
Tharwana warf den Kopf zurück und lachte. „Du scheinst eine gesunde Einstellung zu haben, Mädchen. Kommt nach hinten in unser Esszimmer. Ihr sollt nicht in der Gaststube essen müssen.“
Eine halbe Stunde später hatten sie ihre Sachen auf das Zimmer gebracht – ein Zimmer mit nur einem, aber dafür sehr breiten und äußerst weichen Bett, wie Barella bemerkte –, sich gewaschen, einen großen Teller der leckeren Schildkrötensuppe gegessen und ein zweites Bier getrunken. Farutil hatte die Geschäfte hinter dem Tresen in der Gaststube vorübergehend einer Magd überlassen und sich zu Bandath und Barella gesetzt.
„Ihr müsst mir unbedingt alles erzählen, was im letzten Jahr passiert ist. Wir haben hier nur von dem gewaltigen Vulkanausbruch gehört und dass du den Vulkan zum Erlöschen gebracht haben sollst.“
„Ohne Hilfe hätte ich das nicht geschafft, aber dazu später. Zuerst brauche ich ein paar Informationen von dir.“
Farutil legte zustimmend den Kopf schräg. „Was immer du brauchst, Bandath.“
Der Zwergling erzählte ihm kurz von ihrem Vorhaben und den Informationen, die er in der Bibliothek von Go-Ran-Goh erhalten hatte.
„An eurer Stelle würde ich die Reise in den Süden verschieben.“ Farutils Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Irgendetwas geht da unten vor sich, aber keiner weiß etwas Genaueres.“
Barella lehnte sich auf den Tisch. „Kannst du mehr erzählen?“
„Es heißt, dass nie gesehene Kreaturen aus der Wüste kommen, Siedlungen überfallen, die Bewohner töten und wieder in der Wüste verschwinden. Eine Einheit Soldaten des Fürsten von Nithgohr soll gegen Wesen gekämpft haben, denen keine Waffen etwas anhaben konnten. Die Menschen befürchten jetzt bald Angriffe auf kleinere Dörfer oder Städte. Man munkelt von einem alten Fluch, der die Nachfahren des Herrschers von Cora-Lega treffen soll.“
„Gibt es denn Nachfahren von ihm?“, fragte Barella. Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie daran zweifelte.
„Jedes Fürstenhaus rund um die Todeswüste rühmt sich mit seiner direkten Abstammung von Ibn A Sil, dem Herrscher Cora-Legas. Zieht man darüber hinaus in Betracht, dass die männlichen Nachfahren des Herrschers alle mehrere Frauen und damit Dutzende Kinder hatten, die oft in kleinere, adlige Familien und bedeutende Handelsclans verheiratet wurden, dann gibt es wahrscheinlich Tausende Menschen rund um die Todeswüste, die als Nachfahren Ibn A Sils gelten können.“
Bandath lehnte sich zurück und grübelte. „Pass auf, Farutil. Erstens brauche ich jemanden, der mir sagen kann, ob ich irgendwo in der Stadt die Heyligen Schrifften eines gewissen Almo von Konulan über Profeten, Hell-Seher, Rufer und Wahr-Sager finde. Zweitens benötige ich dringend eine weitere Person, die Alt-Baldit spricht, oder ein Wörterbuch.“
„Weißt du etwas?“
„Bisher noch nichts Genaues. Ich bin auf der Spur einer Prophezeiung aus Pukuran. In ihr wurde der Untergang der Stadt und andere Dinge vorausgesagt, aber leider fand ich in der Bibliothek der Magierfeste keinen weiteren Anhaltspunkt, außer, dass die Zerstörung Pukurans, wie geweissagt, eingetreten ist. In der Offenbarung heißt es, eine Armee aus Sand würde kommen und die Nachfahren des Herrschers von Cora-Lega auslöschen. Leider ist der vollständige Text in dieser Quelle nicht niedergeschrieben worden, soll aber in den Heyligen Schrifften zu finden sein.“
„Und das alles ist auf Alt-Baldit geschrieben?“, fragte Farutil nach.
„Nein, ich habe eine weitere Schriftrolle gefunden, die auf Alt-Baldit geschrieben ist. In ihr berichtet ein Mann über seine Reise nach Cora-Lega.“ Bandath hob ratlos die Hände. „Leider kann ich diese Sprache nicht.“
Der Elf dachte nach. „Es gibt meines Wissens niemanden in Konulan, der Alt-Baldit spricht. Allerdings hat sich in der Südstadt ein Händler auf ausgestorbene Sprachen spezialisiert. Vielleicht findet ihr bei ihm ein Wörterbuch.“ Er beschrieb Bandath und Barella den Weg.
„Mit diesem Almo von Konulan kann ich dir nicht weiterhelfen. Aber vielleicht weiß Kaugos etwas.“
„Kaugos? Muss ich ihn kennen?“
„Kaugos ist einer der Bibliothekare in der Großen Bibliothek von Konulan“, erläuterte Farutil. „Er ist ein überheblicher Federfuchser, aber sein Spezialgebiet sind Prophezeiungen und Offenbarungen. Ihr könnt ihn morgen besuchen.“
„Genau!“ Tharwana setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Ich habe die Küche meinen Mägden überlassen. Du hast dich rar gemacht in letzter Zeit, Bandath. Da will ich es genießen, dass du hier bist.“
Bandath hob entschuldigend die Hände. „Ich hatte zu tun.“
Die Elfe kicherte. „Ich weiß. Du hast die Trolle und die Elfen hinters Licht geführt.“
„Nun, ganz so würde ich es nicht bezeichnen …“
Bandath begann, unterstützt von Barella, seinen Freunden die Geschichte des letzten Jahres zu erzählen. Es wurde ein schöner, erholsamer Abend, bei gutem Essen, gutem Bier und mit guten Freunden. Lange saßen sie beisammen, schwärmten von den alten Zeiten und genossen es, friedlich und entspannt zusammenzusitzen. Erst spät in der Nacht löschte Tharwana die Lampen, nachdem sie ihre Gäste zu ihrem Zimmer begleitet und ihnen eine gute Nacht gewünscht hatte. Für Bandath und Barella sollte es die letzte erholsame Nacht für eine lange Zeit werden. Aber das wussten sie noch nicht, als sie sich in dem weichen Bett aneinander kuschelten und Arm in Arm einschliefen.
Nach einem reichhaltigen und guten Frühstück machten sich Bandath und Barella am nächsten Morgen zu dem Händler auf, der sich laut Farutil auf ausgestorbene Sprachen spezialisiert hatte. Bandath führte Barella zügig durch Konulan. Wenn Bethga Konulan als Bücherstadt bezeichnet hatte, dann war das keine Übertreibung. Es gab in jeder Straße mehr Buchhandlungen als anderswo in einer ganzen Stadt. Buchbinder, Buchdrucker, Zeichner und Papierschneider priesen ihre Leistungen förmlich an jeder Ecke an. Es gab Läden, in denen man Farbe zum Drucken und Illustrieren von Büchern kaufen konnte. Federn und Hunderte verschiedener Pinsel waren im Angebot. Zwielichtige Gestalten boten „längst verschollen geglaubte“ Dokumente an, Schreiber ihre Dienste. Der Magier suchte einen Weg durch die verwinkelten, engen Gassen, der sie am Viertel der Papiermacher vorbeiführte. Trotzdem drang der Gestank der Lauge bis zu ihnen.
„Was stinkt hier so?“ Barella verzog angeekelt das Gesicht.
„Die Papiermacher lassen Lumpen faulen, um sie zu Papier zu verarbeiten. Das und die Lauge aus den Bottichen, aus denen das Papier geschöpft wird, ergibt ein unnachahmliches Parfüm …“ Bandath grinste, während er sie eilig in ein weiter entferntes Stadtviertel führte. Sie umrundeten dabei das Gebäude der Bibliothek. Gleich einem riesigen Findling, über den jemand einen Flickenteppich ausgebreitet hatte, strebte das unansehnliche Gebäude neben ihnen auf. Vor Jahrhunderten errichtet, war es irgendwann zu klein für die Schätze geworden, die es barg. Der seinerzeitige Fürst von Konulan beschloss eine Erweiterung und ein Baumeister ließ einen Seitenflügel anbauen. Bandath hatte einmal eine Zeichnung aus dieser Zeit gesehen und konnte nicht umhin, die damalige Schönheit des Gebäudes zu bewundern. Diese Schönheit jedoch war längst vergangen. Das ursprüngliche Gebäude und der berühmte Seitenflügel waren unter einer Vielzahl von Anbauten, Trakten, Nebenflügeln und Türmen verschwunden. Dabei hatte jeder Fürst und jeder Baumeister seinen eigenen Stil und seine Vorstellungen von einer Bibliothek durchgesetzt, sich aber keine Mühe bei der Gestaltung der Fassade gegeben. Das Ergebnis nach der vielhundertjährigen Bautätigkeit sah verheerend aus. Die Bibliothek beherrschte Konulan wie ein hässliches Geschwür und niemand konnte von außen erkennen, welch wertvolle Schätze sie barg. Denn im Gegensatz zu den Baumeistern bemühten sich die Bibliothekare, die dort arbeiteten, um den Schatz, den sie hegten, pflegten und vermehrten. Kundschafter der Bibliothek fand man ständig auf jedem großen Markt, in jedem Tempel und in jeder Stadt, immer auf der Jagd nach Büchern für ihre Bibliothek.
Vorbei an Schreibstuben und den Geschäften von Buchbindern gelangten Bandath und Barella endlich in die von Farutil beschriebene Gasse und fanden den Laden des Experten für ausgestorbene Sprachen. Der Inhaber, ein winziges Männlein, begrüßte sie wohlwollend. Erwartungsvoll die Hände reibend hörte er sich Bandaths Problem an und wuselte dann in den dunklen, um einige Stufen tiefer gelegenen Bereich seines Ladens. Er verschwand hinter einem bis an die Decke reichenden Regal voller alter Bücher und Papierrollen. Bandath kam sich beinahe vor wie in der Bibliothek von Go-Ran-Goh. Unwillkürlich huschte sein Blick zur Decke. Fast erwartete er dort, Bethgas Spinnengestalt zu sehen.
„Ich habe hier ein Alt-Baldit-Wörterbuch, ein einziges. Allerdings ist es auf Biluga geschrieben. Kannst du Biluga lesen oder sprechen, Magier?“, fragte der Besitzer mit einem Blick auf Bandaths langen Magierstab.
„Es geht.“ Biluga war eine der vier alten magischen Sprachen. Jedes der vier Grundelemente – Wasser, Erde, Luft, Feuer – hatte eine eigene, Biluga war die des Wassers. Bandath hatte sich während seiner Ausbildung nie sonderlich mit dem Erlernen dieser Sprachen beschäftigt, gerade genug, um die Magie zu beherrschen.
„Was ist?“, fragte Barella, als sie den Laden verließen. Bandath wog das Buch in der Hand, für das er, seiner Meinung nach, einen extrem überhöhten Preis bezahlt hatte.
„Meine Biluga-Kenntnisse sind nicht so toll.“
„Ich denke, das ist eine der magischen Sprachen, die ihr auf Go-Ran-Goh lernen müsst.“
„Nun, nicht unbedingt müssen. Du weißt doch, wie das ist. Wenn man der Meinung ist, dass ein anderer Kurs für einen wichtig ist, kann man gegebenenfalls einen Kurs …“
„… abwählen?“, unterbrach ihn die Zwelfe fassungslos. „Sag bloß, du hast die Sprachkurse abgewählt, damit du Hypnotisieren lernen konntest?“
„Nun“, rechtfertigte sich Bandath. „Es ging nicht nur um das Hypnotisieren. Da waren auch eine Reihe anderer interessanter Kurse …“
„Das darf doch nicht wahr sein!“, stöhnte Barella. „Bitte nicht schon wieder. Immer wenn wir deine Fähigkeiten als Magier brauchen, hast du gerade mal wieder diesen einen Kurs abgewählt.“
„Nun übertreibe nicht“, rechtfertigte sich Bandath schwach.
„Lass das bloß nicht Niesputz hören. Kriegen wir hier irgendwo ein Wörterbuch für Biluga?“
Bandath schüttelte den Kopf. „Die magischen Sprachen dürfen nicht in unsere Sprache übersetzt werden. Ich glaube, es ist noch schwieriger ein Wörterbuch dafür zu bekommen als für Alt-Baldit.“
„Das ist ja toll!“ Wütend stapfte die Zwelfe los und nahm Kurs auf eine kleine Gasse, die zu der übermächtigen Mauer der Bibliothek führte, die hinter den Häusern hervorragte wie der dunkle Schatten eines Albtraumes.
„Barella, warte!“
„Was ist noch?“, fauchte sie.
Bandath zog erschrocken den Kopf ein. „Wir müssen da lang.“ Er wies ängstlich auf eine andere Gasse. „Dort kommen wir zu dem Eingang, den Farutil uns genannt hatte.“
„Dann lass uns gehen.“ Erneut stapfte Barella los und Bandath fragte sich, ob ihre Mutter vielleicht irgendwie mit Waltrude verwandt gewesen war. Er würde bei Gelegenheit versuchen, es herauszufinden.
Kaugos erwies sich, nachdem er endlich erschienen war, als Zwerg in einer dunkelbraunen Kutte. Barella und Bandath hatten mehr als zwei Stunden beim Pförtner warten müssen, bis Kaugos sich bequemt hatte, zu den Besuchern zu kommen. Der Magier staunte über das Alter des Zwerges, er war relativ jung für einen Bibliothekar. Bei früheren Besuchen hatte er nur alte Angestellte der Bibliothek kennengelernt, deren Haut die Farbe des Pergamentes angenommen hatte, das sie seit vielen Jahren behüteten, pflegten und ordneten.
„Almo von Konulan, also. Ja, von dem haben wir einige Bücher. Welches soll es denn sein?“
„Wir brauchen die Heyligen Schrifften des Almo von Konulan über Profeten, Hell-Seher, Rufer und Wahr-Sager.“
Kaugos kratzte sich an der Stirn. „Die Heyligen Schrifften? Von denen gibt es nur noch ein einziges Exemplar. Leider ist es so beschädigt, dass wir es nicht einmal von einem fähigen Schreiber abschreiben lassen können. Du kannst es gern für eine halbe Stunde im Lesesaal ansehen, Magier. Das kostet fünf Goldstücke.“
„Fünf Goldstücke?!“, riefen Barella und Bandath wie aus einem Mund. „Dafür kann ich mir unten auf dem Markt dreißig gute Bücher kaufen!“, ergänzte Bandath wütend. Das letzte Mal, als er hier ein Buch gelesen hatte, brauchte er „bloß“ ein Goldstück zu bezahlen und hatte es damals schon als sehr teuer empfunden.
„Das mag schon sein“, bestätigte Kaugos ungerührt. „Aber ihr wollt ein ganz besonderes Buch. Das werdet ihr unten auf dem Markt nicht finden. Der Unterhalt der Bibliothek ist teuer geworden. Wir planen einen neuen Anbau, haben noch ein paar Bibliothekare eingestellt … nun, und alles wird teurer, ihr wisst schon …“ Er wedelte mit der Hand, als würde das alles erklären.
„Was ist nun?“ Er sah die beiden Bittsteller auffordernd an. „Bezahlt ihr oder kann ich gehen? Ich habe nämlich noch mehr zu tun.“
Seufzend griff Bandath in seine Lederbörse und zahlte dem Zwerg die fünf Goldstücke. Dieser ließ das Geld in einer Tasche seiner Kutte verschwinden und führte sie daraufhin in einen Lesesaal unweit des Einganges. Unterwegs erklärte er: „Die Regeln sind einfach. Ihr bekommt das Buch für eine halbe Stunde. Jede weitere halbe Stunde kostet weitere fünf Goldstücke. Das Buch verlässt den Lesesaal nicht. Keine Abschriften, keine Notizen. Ihr steht die ganze Zeit unter Beobachtung eines Novizen. Klar?“
Bandath nickte grimmig, schwieg aber, genau wie Barella.
Der Lesesaal, in den sie Kaugos führte, war riesig. Bestimmt einhundert Tische standen ordentlich in Reih und Glied angeordnet und durch Sichtschirme voneinander getrennt, die ein ungestörtes Arbeiten ermöglichten. Verteilt über den ganzen Raum saßen vielleicht fünfzehn Leute, eifrig, aber leise in Büchern blätternd, die sich vor ihnen auf den Tischen türmten. Eine gedämpfte Arbeitsatmosphäre herrschte hier. In jeder zweiten Reihe saß ein Novize in hellbrauner Kutte, der die Leser vor ihm überwachte. Im Saal befanden sich doppelt so viel Novizen wie Leser.
„Kein Wunder, dass ihr so viel Gold verlangt. Die Hälfte eurer Novizen hat nichts zu tun. Sitzen in allen Lesesälen so viele Nichtstuer?“
„Es könnte möglich sein, dass plötzlich mehrere Leute in unseren Büchern lesen wollen. Wir müssen vorbereitet sein.“ Kaugos führte sie an die Seite und platzierte sie direkt vor einen Novizen, der sie uninteressiert musterte.
„Bin gleich wieder da“, murmelte Kaugos und verschwand durch eine hölzerne Tür. Sie schwiegen und der Novize vor ihnen blätterte in einem überdimensionalen Wälzer, der mehrere hundert Jahre alt sein musste. Bandaths Interesse für gute Bücher wurde wach. Wenn er an die Schätze dachte, die hier lagerten, unzugänglicher, als in der bedeutend kleineren Bibliothek von Go-Ran-Goh, dann kribbelte es ihn in den Fingern.
„Irgendwann gehe ich hier rein“, flüsterte er Barella zu, ohne dass es der Novize mitbekam, „und dann hole ich mir die besten Bücher raus, ohne dass diese eingebildeten Bibliothekare es mitbekommen.“
Barella sah sich um und grinste. „Ich kann dir auf Anhieb vier bis fünf Möglichkeiten nennen, hier einzusteigen.“ Sie war eine Diebin, hatte jahrelang mit Räubern gelebt. Bandath vergaß das immer wieder. Erstaunlicherweise dauerte es nicht lange, bis Kaugos zurückkam und ein kleines hölzernes Kästchen vor ihnen auf den Tisch legte.
„Was ist das?“, fragte Bandath. „Wir wollten das Buch.“
Kaugos nickte und schlug den Deckel des Kästchens zurück. Darin lagen etwa dreißig Blatt Papier, angesengt, eingerissen, zum Teil zerrissen oder gar nur halb.
„Das ist alles, was von dem Buch noch existiert. Ich sagte doch, es ist beschädigt.“
„Beschädigt?“, rief Bandath wütend und ignorierte die um Ruhe bittenden Gesten des Zwerges. „Beschädigt? Das hier ist kein Buch, das sind ein paar lose Blätter, kaputt und zum größten Teil unleserlich!“
„Dafür hast du fünf Goldstücke kassiert?“, zischte Barella, huschte um den Tisch herum, packte den Zwerg am Kragen seiner Kutte und drängte ihn gegen den Tisch des Novizen.
„Raus!“, krächzte Kaugos mehr ängstlich als wütend, auch wenn er versuchte, seiner Stimme einen energischen Klang zu geben. „Raus! Ihr verstoßt gegen die Ordnung der Bibliothek.“ Hinter ihm war der Novize aufgesprungen und hob hilflos die Hände.
Bandath knallte wütend das Kästchen zu, kam ebenfalls hinter dem Tisch hervor und zischte den Zwerg an: „Wenn ihr so weitermacht, dann könnt ihr eure Bibliothek bald zumachen.“ Kaugos erstarrte einen winzigen Moment, zwinkerte anschließend mit den Augen und stellte sich neben Barella. Der Zwergling drehte sich zu dem Novizen und musterte auch ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen. Verschüchtert starrte der erst zurück, setzte sich dann aber still auf seinen Stuhl und begann erneut, in dem riesigen Wälzer vor sich zu blättern.
„Wir gehen“, knurrte Bandath und drehte sich zum Ausgang. Der Vorfall war nicht unbeachtet geblieben. Als sie den Lesesaal durchschritten, gefolgt von dem eilig trippelnden Kaugos, senkten die anderen Novizen und Besucher erschrocken die Köpfe. Sie hatten zwar nicht mitbekommen, was genau Grund der Auseinandersetzung war, den heftigen Wortwechsel allerdings schon gehört. Immerhin aber hatten die Sichtschirme Einzelheiten vor ihnen verborgen. Bandath war darüber froh.
Als sie die Bibliothek verlassen hatten, spielte ein zufriedenes Lächeln um seine Mundwinkel.
„Und?“, fragte Barella. „Hast du es?“
Glücklich klopfte sich der Zwergling auf die Brust. Unter seinem Umhang knisterte es verräterisch.
„Werden sie nicht merken, dass es fehlt?“
„Oh“, er schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Beide habe ich einer kurzen, aber recht intensiven Hypnosemagie unterzogen, die die Ereignisse der letzten Stunde in ihrem Kopf durcheinanderbringt. Sie werden sich nicht daran erinnern können, ob wir Krach geschlagen haben, weil nur ein paar Blätter in dem Kästchen lagen oder weil da überhaupt nichts mehr darin war. Verstehst du?“
Barella nickte. „Sie werden denken, dass das Buch schon vor unserem Erscheinen verschwunden ist.“ Jetzt musste auch sie grinsen. „Wahrscheinlich haben sie deshalb anstandslos die Gebühr an uns zurückgezahlt.“ Sie öffnete ihre linke Hand und zeigte Bandath fünf Goldmünzen.
Er schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich!“
„Ich weiß!“ Beide brachen in lautes Gelächter aus.
Ihre kleine Verstimmung wegen des abgewählten Sprachkurses war vergessen.
Auf dem Weg zu Farutil kehrte Bandath noch in einen Bücherladen ein, den er „von früher her“ kannte, wie er Barella versicherte. Eine Stunde später verließen sie das Geschäft wieder – um fünf Goldstücke erleichtert. Dafür hatte Bandath gut zwei Dutzend Bücher gekauft, die der Händler über Boten direkt nach Neu-Drachenfurt schicken wollte. Bandath wusste, dass er sich darauf verlassen konnte.
Am Nachmittag verabschiedeten sie sich von Tharwana und Farutil. Sie hatten das Gefühl, dass es trotz der Hypnose-Magie eventuell besser wäre, Konulan für die nächste Zeit erst einmal den Rücken zu kehren.
Die Elfen gaben Bandath einen Brief für ihre Tochter To’nella mit, da er ja sowieso „über Pilkristhal reisen“ würde. Sie beschrieben dem Magier, wo er in Pilkristhal ihre Tochter finden könnte („Sie arbeitet in der einzigen von Elfen betriebenen Waffenschmiede der Stadt!“). Und so machten sich Barella und Bandath – beladen mit frischem Proviant und vielen guten Wünschen – auf den Weg von Konulan nach Pilkristhal, um, wie sie hofften, Korbinian, Rulgo und Niesputz zu treffen.