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Kapitel 1

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Da stand ich nun al­so in mei­nem neu­en Le­ben. Die­se klei­ne In­sel soll­te al­so mei­ne neue Hei­mat sein. Ir­gend­wie hat­te ich sie mir deut­lich an­ders vor­ge­stellt. Was ich sah, war ei­gent­lich nicht groß an­ders als in mei­ner al­ten Hei­mat, dem Ruhr­pott. Gut, das Wet­ter war deut­lich bes­ser hier. Es war An­fang No­vem­ber, und als ich in Deutsch­land ge­st­ar­tet bin, zeig­te das Ther­mo­me­ter fros­ti­ge 8 Grad un­ter null. In Bo­chum, wo ich ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen war, lag noch Schnee. Hier stand ich nun vor dem Flug­ha­fen und vor mei­nen Au­gen dreh­te sich al­les. Als ich aus dem ver­glas­ten Flug­ha­fen­ge­bäu­de in die Frei­heit trat, um­fing mich so­fort ei­ne un­glaub­li­che Hit­ze.

Drin­nen war die Tem­pe­ra­tur noch an­ge­nehm und auch mein Kreis­lauf mach­te nicht die kleins­ten Pro­ble­me. Die Tür nach drau­ßen war für mich wie der Schritt in ein neu­es Le­ben und so­fort zeig­ten sich die ers­ten Ver­än­de­run­gen. Mir wur­de schwarz vor Au­gen und ich stand plötz­lich nicht mehr ganz so si­cher auf mei­nen kur­z­en Bei­nen. War mein Ni­ko­tin­spie­gel da­für ver­ant­wort­lich? In mei­ner Hand­ta­sche such­te ich nach ei­ner Zi­ga­ret­te und mei­nem Feu­er­zeug. Das hat­te man mir zum Glück bei der Si­cher­heits­kon­trol­le be­vor ich in das Flug­zeug ge­klet­tert war ge­las­sen. Schon der ers­te Zug lös­te einen lan­gen nicht mehr er­leb­ten Hus­ten­reiz aus. An­statt das es mir bes­ser ging, wur­de es noch deut­lich schlech­ter. Ne­ben mir stand vor ei­nem Blu­menkü­bel ei­ne Holz­bank. Ich muss­te mich drin­gend set­zen, be­vor ich gleich an mei­nem ers­ten Tag hier um­kipp­te. Die Holz­stre­ben der Bank wa­ren von der Son­nen­ein­strah­lung deut­lich zu warm. Das mel­de­ten auch mei­ne Hin­ter­ba­cken durch die Jeans, die ich für den Flug an­ge­zo­gen hat­te.

Auf­ste­hen klapp­te trotz­dem nicht mehr. Mir war schwin­de­lig und konn­te mich auf ab­so­lut nichts kon­zen­trie­ren. Mein großer Kof­fer ne­ben mir stand noch in der pral­len Son­ne. Ich brauch­te ein paar Mi­nu­ten, bis ich wie­der halb­wegs nor­mal aus den Au­gen se­hen konn­te. Erst dann er­schloss sich mir, wo ich ei­gent­lich ge­lan­det war. In Deutsch­land, die Hei­mat, die ich hin­ter mir las­sen woll­te, war es schon Win­ter und eis­kalt. Hier saß ich in mei­nen lan­gen Jeans und dem di­cken Pull­over auf ei­ner Holz­bank vor dem Flug­ha­fen. Es sah nicht wirk­lich groß­ar­tig an­ders aus als noch in Bo­chum. Nur die we­hen­den grü­nen Pal­men und die far­bi­gen Blu­men pass­ten über­haupt nicht ins Bild. Ich muss­te den Pull­over aus­zie­hen, denn der Schweiß lief mir schon in strö­men übers Ge­sicht.

Das ist al­so die Ka­ri­bik. Mei­ne neue Hei­mat. Fühl­te sich noch nicht da­nach an. Aber wie kommt ei­ne jun­ge Frau, mit ih­ren ge­ra­de mal 26 Jah­ren da­zu sich ein neu­es Le­ben auf ei­ner klei­nen In­sel in der Ka­ri­bik auf­zu­bau­en. Die Ant­wort lag in mei­ner Ver­gan­gen­heit be­grün­det. Als ich am 10. März 1967 das Licht der Welt er­blick­te, hat­te ich ei­ne schö­ne Kind­heit vor mir. Mei­ne Mut­ter war schon lan­ge vor mei­ner Ge­burt von mei­nem Va­ter al­lei­ne ge­las­sen wor­den. Er brach­te sein Geld mit Pro­sti­tu­ier­ten und Al­ko­hol durch. Ich ha­be ihn nie ken­nen­ge­lernt, aber durch die Er­zäh­lun­gen mei­ner Mut­ter konn­te ich mir dann doch ein ganz gu­tes Bild ma­chen. Mit ihr ver­brach­te ich die ers­ten paar Le­bens­jah­re in ei­ner klei­nen Woh­nung in Bo­chum.

Wäh­rend ich noch nicht mit­be­kam, was um mich her­um pas­sier­te, war auch al­les in Ord­nung. Mei­ne ers­te Erin­ne­rung setzt ein, als ich zar­te drei Jah­re alt war. Ich spiel­te im Sand­kas­ten mit Plas­tik­förm­chen, wäh­rend mei­ne Mut­ter sich mit den an­de­ren Müt­tern in der Son­ne sit­zend un­ter­hielt. Mor­gens wur­de ich dann zu Oma und Opa ge­bracht und mei­ne Mut­ter ging zur Ar­beit in ein großes Kauf­haus. Da­nach schob man mich in den Kin­der­gar­ten ab, wo ich dann bis zum Nach­mit­tag blei­ben muss­te. Mir ge­fiel das nicht wirk­lich. Ich durf­te zwar spie­len, wie ich woll­te, aber da wa­ren viel zu vie­le an­de­re Kin­der, mit de­nen ich nicht un­be­dingt et­was zu tun ha­ben woll­te. Die wa­ren mir viel zu laut und schri­en den gan­zen Tag nur her­um.

Zu Hau­se durf­te ich bei mei­ner Mut­ter in der Kü­che mit Teig mat­schen oder das frisch duf­ten­de Es­sen um­rüh­ren. Sie set­ze mich da­zu ne­ben den Herd auf die Ar­beits­plat­te, drück­te mir einen lan­gen Holz­stiel in die klei­ne Hand und ich durf­te dann rüh­ren. Das mach­te mir sehr viel Freu­de. Im Hin­ter­grund du­del­te ein Ra­dio und mei­ne Mut­ti schnitt Ge­mü­se, Fleisch oder sons­ti­ges Zeug, wäh­rend sie mir ver­such­te, den Text der Lie­der durch Mit­sin­gen bei­zu­brin­gen. Sin­gen konn­te ich aber nicht. Aber mein Le­ben war ei­gent­lich schön.

Mit zu­neh­men­dem Al­ter kam dann der Zeit­punkt, an dem ich ei­ne große aus Pap­pe zu­sam­men­ge­kleb­te Tü­te in die Hand ge­drückt be­kam und mit den an­de­ren Kids, die ich be­reits aus dem Kin­der­gar­ten kann­te, vor ein großes Ge­bäu­de ge­stellt wur­de. Man nann­te es Ein­schu­lung und in der Tü­te wa­ren je­de Men­ge Sü­ßig­kei­ten. Aber das große Ge­bäu­de soll­te ich nicht sehr lan­ge in gu­ter Erin­ne­rung be­hal­ten, da konn­ten auch die gan­zen sü­ßen Sa­chen in der Tü­te nichts dar­an än­dern. Ich muss­te mich mit an­de­ren Mut­tis her­um­schla­gen, die mir Buch­sta­ben und wei­te­ren Un­sinn zeig­ten. Wenn es we­nigs­tens beim Zei­gen ge­blie­ben wä­re, aber ich soll­te sie auch noch sel­ber auf Pa­pier ma­len. Die­ser gan­ze Un­sinn dau­er­te gan­ze vier Jah­re und ich durf­te kaum noch das ma­chen, was mir Spaß be­rei­te­te.

Al­ler­dings fiel an­de­ren Leu­ten in die­ser Zeit noch et­was an­de­res an mir auf. Die­ses klei­ne Mäd­chen mit den schwar­zen Haa­ren und den brau­nen Au­gen war ganz an­ders. Wäh­rend an­de­re Kin­der schri­en und kreisch­ten, mit hoch­ro­tem Kopf auf Mö­bel und Ein­rich­tun­gen ein­schlu­gen, saß ich im­mer wie völ­lig un­be­tei­ligt da­ne­ben. Auch hat­te man sie nie wei­nen se­hen. Ir­gend­was stimm­te mit dem Mäd­chen nicht. Als mei­ne Mut­ter dar­auf an­ge­spro­chen wur­de, konn­te sie sich auch nicht dar­an er­in­nern, mich wei­nend oder schrei­end ge­se­hen zu ha­ben. Es kam ein­fach nie vor.

Mut­ti schleif­te mich als Nächs­tes zu mei­nem Kin­der­arzt. Der stell­te mich ein­mal auf den Kopf, um da­nach fest­zu­stel­len, dass mir nicht das Ge­rings­te fehl­te. Kör­per­lich war ich kern­ge­sund. Aber wenn man ge­ra­de da war, spricht ja nichts da­ge­gen das Kind gleich noch ge­gen ir­gend­was zu imp­fen. Al­so Sprit­ze in die Hand, und dann rein da­mit in den Obe­r­arm. Erst da­bei fiel auch dem Arzt auf, dass mit dem Mäd­chen auf der großen Lie­ge et­was nicht in Ord­nung war. Je­des Kind rea­giert zwar an­ders auf Sprit­zen und Na­deln in der Haut, aber ei­nes ha­ben sie al­le ge­mein­sam, sie be­gin­nen zu wei­nen. Nur das klei­ne Mäd­chen zeig­te sich völ­lig un­be­ein­druckt und ließ al­les oh­ne einen Ton über sich er­ge­hen. Al­so gleich noch ein­mal. Nächs­te Sprit­ze ab in die Arm­beu­ge und ein biss­chen Blut aus den Adern ge­holt. Aber auch hier zeig­te ich kei­ne er­kenn­ba­re Re­ak­ti­on.

Vie­le Ärz­te spä­ter stand dann die Dia­gno­se fest. Die klei­ne Ca­tha­ri­na litt un­ter ei­ner be­son­de­ren Krank­heit, die man in Fach­krei­sen Ale­xi­thy­mie nennt. Um­gangs­sprach­lich nann­te man das auch Ge­fühls­käl­te. Im al­ten Grie­chen­land be­zeich­ne­te man es auch als Ata­ra­xie, ein Zu­stand, in dem es ei­nem völ­lig gleich­gül­tig war, was um einen her­um pas­sier­te. Ca­tha­ri­na konn­te man nicht auf­re­gen, egal was man auch an­stell­te. Das war für die jun­ge Mut­ter und die Gro­ß­el­tern ein großer Schock. Das nächs­te Pro­blem soll­te aber noch um ei­ni­ges hef­ti­ger aus­fal­len. Ich brach­te die ers­ten vier Jah­re auf der Grund­schu­le zu En­de und wech­sel­te dann auf ei­ne Ge­samt­schu­le, um noch mehr zu ler­nen.

Ir­gend­wann be­gan­nen mich mei­ne Mit­schü­ler zu är­gern, merk­ten aber ziem­lich schnell, dass es un­sin­nig war, so et­was zu ver­su­chen. Das mach­te nur Spaß, wenn sich das Mäd­chen auf­reg­te oder ei­ne Re­ak­ti­on dar­auf zeig­te. Ich zeig­te aber kei­ne der all­ge­mein üb­li­chen Wir­kun­gen dar­auf, son­dern blieb völ­lig ru­hig und ent­spannt. Auch konn­te man an mei­nem Ge­sicht nichts ab­le­sen, was auf Ge­füh­le hin­deu­te­te. Das brach­te al­so kei­nen Spaß für die an­de­ren und man ließ mich in Ru­he. Trotz­dem schaff­te ich es ir­gend­wann, Freund­schaf­ten zu schlie­ßen. Die Schu­le war mir ei­gent­lich egal aber es mach­te mir Freu­de mich mit mei­nen Freun­din­nen zu un­ter­hal­ten.

Mei­ne Gro­ß­el­tern star­ben dann auch ir­gend­wann kurz nach­ein­an­der und Mut­ti hat­te ei­ne Men­ge zu tun. Sie muss­te sich um die Be­er­di­gun­gen küm­mern und ich hör­te sie sehr oft et­was tun, was mir nie pas­sie­ren wür­de. Abends im Bett heul­te sie die Kis­sen voll. Ich fühl­te zwar auch Trau­er um mei­ne lie­be Omi und den lus­ti­gen Opa, konn­te es aber nicht zei­gen. Mei­ne Mut­ter mach­te das fast wahn­wit­zig. Wäh­rend sie je­den Tag am Wei­nen war, zeig­te ich nicht ein biss­chen Mit­ge­fühl. In­ner­lich zwar schon, aber an mei­ner Mie­ne konn­te man das nicht ab­le­sen. Al­les war wie im­mer für mich. Al­ler­dings be­gann Mut­ti mit et­was an­de­rem. Sie be­täub­te ih­ren Schmerz im­mer öf­ter in Al­ko­hol. Nach der Ar­beit be­gann sie Bier zu trin­ken und erst am spä­ten Abend hör­te sie wie­der da­mit auf. Sie war zu die­ser Zeit sehr lau­nisch und auch nicht mehr wirk­lich gut auf mich zu spre­chen. Ich war zwar noch ih­re Toch­ter, aber sie zeig­te mir ei­gent­lich nur noch die kal­te Schul­ter, schrie mich an wie ein Ir­re oder igno­rier­te mich ein­fach.

Die Wir­kung auf mich be­ein­fluss­te das ei­gent­lich kaum. Tief in mei­nem In­ne­ren war es mir zwar nicht völ­lig egal wie sie mich be­han­del­te, aber nach au­ßen hin konn­te ich es ein­fach nicht zei­gen. Als ich dann äl­ter wur­de und sich lang­sam die Ver­wand­lung vom Mäd­chen zur Frau ein­setz­te, fin­gen ganz an­de­re Pro­ble­me an. Ich wuss­te ein­fach nicht, was mit mir los war. Mei­ne Freun­din­nen in der Schu­le be­gan­nen sich lang­sam ih­rem Al­ter ent­spre­chend für die Jungs zu in­ter­es­sie­ren. Sie ver­such­ten, mir zu ent­lo­cken, wel­cher Mit­schü­ler mir ge­fiel. Ich konn­te es aber nicht be­nen­nen. Da pas­sier­te ein­fach nichts. Die Mit­schü­ler wa­ren mir völ­lig egal. Es war kei­ner da­bei der mich in­ter­es­sier­te oder den ich ir­gend­wie toll fand.

Mei­ne Freun­din­nen gin­gen die ers­ten Be­zie­hun­gen ein, mach­ten ih­re ers­ten zar­ten Er­fah­run­gen mit dem an­de­ren Ge­schlecht und ich stand wie ein Stein da­ne­ben. Die Jungs auf der Schu­le hiel­ten auch einen ge­wis­sen Ab­stand zu mir. Es war ein­fach für sie nicht zu er­ken­nen, ob ich ir­gen­det­was für sie emp­fand. Ei­ni­ge ver­such­ten zwar, bei mir zu lan­den, und mach­ten sich da­für auch re­gel­mä­ßig zum Af­fen, aber sie blitz­ten al­le ab. Ei­ne Freun­din von mir hat­te ei­ne be­son­de­re Schwä­che für je­den Ein­zel­nen. So­lan­ge er einen ge­ra­den Satz her­aus­brach­te, war sie von ihm be­geis­tert. Da­bei war es ihr auch völ­lig un­wich­tig, wie er aus­sah oder wie er sich be­nahm. Wenn da Te­stos­te­ron durch die Blut­bahn floss, war er für sie ge­nau rich­tig. Mit mir pas­sier­te al­ler­dings et­was völ­lig an­de­res. Ich be­gann mei­ne we­ni­gen Freun­din­nen auf ein­mal mit an­de­ren Au­gen zu be­trach­ten.

Das, was sie in den Jungs sa­hen, ent­deck­te ich im Stil­len bei ih­nen. Ich ge­noss es re­gel­recht, wenn wir uns zur Be­grü­ßung in den Arm nah­men. Das war für mich im ge­hei­men das Schöns­te am gan­zen Tag. Sie be­merk­ten das na­tür­lich nicht, denn mein Ge­sichts­aus­druck war im­mer der glei­che. Ei­ne da­von ge­fiel mir be­son­ders. Sie hat­te sehr hüb­sche leicht grü­ne Au­gen und ein wun­der­vol­les Lä­cheln. Em­ma hieß sie und war erst seit Kur­zem in Bo­chum. Ih­re El­tern wa­ren von Dort­mund nach Bo­chum um­ge­zo­gen, weil ihr Va­ter ei­ne bes­ser be­zahl­te Ar­beit ge­fun­den hat­te. Ihr schi­en es auch nichts aus­zu­ma­chen, das ich ganz an­ders war. Wäh­rend sich die an­de­ren Freun­din­nen ih­ren ge­lieb­ten Jungs wid­me­ten, blie­ben wir bei­den meist al­lei­ne zu­rück.

Im Lau­fe der Zeit wur­de Em­ma mei­ne bes­te Freun­din. Wir spra­chen über al­les Mög­li­che, was die Mäd­chen und jun­gen Frau­en da­mals in­ter­essant fan­den. Mu­sik, Mo­de, in ih­rem Fall auch ein oder zwei Jungs, al­ler­dings war sie viel zu schüch­tern um sie an­zu­spre­chen. Es ver­ging kaum ein Tag, an dem wir nicht wie zwei Glu­cken auf­ein­an­der sa­ßen. Die Jungs fand ich nicht an­zie­hend, da­für aber Em­ma. Mit der Zeit ent­wi­ckel­te ich sehr in­ten­si­ve Ge­füh­le für mei­ne Freun­din. Im­mer öf­ter er­tapp­te ich mich selbst da­bei, da­von zu träu­men, sie ein­fach zu küs­sen. Das, was die Mäd­chen von ih­ren Freun­den er­zähl­ten und wie sie sich da­bei fühl­ten, traf in er­schre­cken­der Wei­se auf mich mit Em­ma zu. Das war al­les völ­lig neu für mich und ich konn­te es nicht zu­ord­nen. Was stimm­te mit mir denn nicht?

Wäh­rend die an­de­ren aus mei­ner Cli­que mit ih­ren Freun­den er­leb­ten, woll­te ich mit Em­ma er­le­ben. Ich hat­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, sie zu be­rüh­ren, zu um­ar­men oder zu küs­sen. Die gan­zen Jungs er­zeug­ten die­ses Ge­fühl­scha­os nicht in mir. Sie wa­ren mir zu­se­hends to­tal egal. Mei­ne Zeit ver­brach­te ich am liebs­ten mit Em­ma. Nach der Schu­le tra­fen wir uns bei ihr oder in der Stadt, hör­ten Mu­sik oder kauf­ten uns die Ju­gend­zeit­schrif­ten, die man in dem Al­ter eben so liest. Schlau­er wur­de ich da­durch aber nicht. Al­le Ar­ti­kel in je­der Zeit­schrift han­del­ten von Frau­en und Män­nern. Nir­gend­wo wur­de mir er­klärt, ob es die­se Ge­füh­le auch zwi­schen zwei Frau­en oder Män­nern gab. War das ein­fach nicht vor­ge­se­hen oder so­gar ver­bo­ten? Ich ver­such­te mit mei­nen, da­mals noch be­grenz­ten Mit­teln ir­gen­det­was, in die­ser Rich­tung zu fin­den, aber auch die Biblio­thek konn­te mir mei­ne Fra­gen nicht be­ant­wor­ten.

Kurz vor mei­nem vier­zehn­ten Ge­burts­tag wuss­te ich so ziem­lich al­les über mensch­li­che Fort­pflan­zung, aber nichts über mei­ne Ge­füh­le zu Em­ma. Ihr fiel das aber, auf­grund mei­ner Krank­heit, auch nicht auf, was ich für sie emp­fand. Ich durf­te al­so wei­ter träu­men, sie wie zu­fäl­lig be­rüh­ren und in den Arm neh­men. Um mir mehr Geld zu ver­die­nen, weil mein Ta­schen­geld sehr be­grenzt war, durf­te ich an Wo­che­n­en­den auf den vier­jäh­ri­gen Sohn un­se­rer Nach­barn auf­pas­sen. Der klei­ne Kars­ten war ein quir­li­ger Bur­sche. Wenn sei­ne El­tern un­ter­wegs wa­ren und ich auf ihn auf­pas­sen durf­te, um mir ein paar Mark da­zu­zu­ver­die­nen war ein rich­ti­ger Son­nen­schein. Er freu­te sich je­des Mal, wenn er mich an der Tür sah. Er wuss­te, dass sei­ne El­tern lan­ge weg wa­ren, und freu­te sich auch dar­auf, viel län­ger, als ge­wöhn­lich, wach blei­ben zu dür­fen.

Sei­ne El­tern durf­ten da­von na­tür­lich nichts er­fah­ren, aber Kars­ten war cle­ver und ver­lor kei­nen Ton da­von. Wir mach­ten vie­le Ge­sell­schaftss­pie­le, ver­such­ten uns an ei­ni­gen Puzz­les, de­ren Tei­le mit mehr Er­fah­rung auch klei­ner wur­den und spiel­ten Kar­ten. Dann mach­ten wir es uns auf der Couch ge­müt­lich und sa­hen fern. Ir­gend­wann konn­te er ein­fach nicht mehr die Au­gen of­fen hal­ten und schlief ein. Dann hab ich ihn ganz vor­sich­tig in sein Bett ge­tra­gen und zu­ge­deckt. Sei­ne Mut­ter war im­mer glück­lich, wenn ich auf ihn ach­te­te. Ihr raub­te er den letz­ten Nerv mit sei­ner stän­di­gen Fra­ge­rei und sei­nem Rum­ge­ren­ne in der Woh­nung. Mir mach­te das nicht das Ge­rings­te aus. Auf­re­gung war für mich ein Fremd­wort, das schaff­te auch der Kur­ze nicht. Mir mach­te das so­gar Spaß, auf ihn auf­zu­pas­sen und die paar Mark, die ich da­für be­kam, wa­ren mir auch sehr recht.

Am 10. März, mei­nem vier­zehn­ten Ge­burts­tag tra­fen mei­ne Freun­din­nen bei mir zu Hau­se ein. Mei­ne Mut­ti hat­te an die­sem Tag gnä­di­ger­wei­se so­gar auf Al­ko­hol ver­zich­tet, um nicht als schlech­te Mut­ter da­zu­ste­hen und so­gar einen Ku­chen für mich ge­ba­cken. Em­ma, die so­wie­so fast je­de freie Mi­nu­te mit mir ver­brach­te, war die Ers­te, die bei mir in der Tür stand. Sie schenk­te mir einen selbst ge­bas­tel­ten Ka­len­der und ei­ne Mu­sik­kas­set­te, die sie ex­tra für mich ge­kauft hat­te. Da wir al­lei­ne wa­ren und ich mich da­für be­dan­ken woll­te, drück­te ich sie an mich und gab ihr so­gar einen klei­nen Kuss auf die Wan­ge. Sie schrieb die­se große Ge­fühls­re­gung mei­nem Ge­burts­tag zu und dach­te sich nichts wei­ter da­bei. Für mich al­ler­dings war es et­was völ­lig an­de­res. Em­ma war für mich mehr, als nur ei­ne Freun­din, wie sie je­des Mäd­chen in dem Al­ter hat. Auch die an­de­ren Gäs­te tra­fen nach und nach ein. Wir hat­ten viel Spaß und fei­er­ten aus­ge­las­sen mei­nen Ge­burts­tag.

Der Tag soll­te aber für mich noch et­was ganz Be­son­de­res wer­den. Da ich wuss­te, dass Em­ma die Letz­te sein wür­de, weil sie den kür­zes­ten Weg nach Hau­se hat­te, woll­te ich sie end­lich küs­sen. Nach und nach gin­gen die an­de­ren, bis Em­ma und ich wie­der al­lei­ne wa­ren. Wir sa­ßen in mei­nem Zim­mer auf dem Bett, hör­ten ein biss­chen Mu­sik von der neu­en Kas­set­te und blät­ter­ten in ei­ner Zeit­schrift. Ich spür­te sie ganz eng ne­ben mir und be­kam lang­sam den Mut, den ich brauch­te. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten schenk­te sie mir einen wirk­lich auf­re­gen­den Blick aus ih­ren grü­nen Au­gen. Oh­ne noch wei­ter zu zö­gern, zog ich sie nä­her zu mir und küss­te ih­re Lip­pen. Al­ler­dings hielt das Glücks­ge­fühl in mei­nem In­nern nicht be­son­ders lan­ge an. Sie wich zu­rück, mach­te ein er­schro­cke­nes Ge­sicht und rann­te dann zur Tür hin­aus. Das ers­te Mal in mei­nem Le­ben hat­te ich ihr ge­gen­über mei­ne Ge­füh­le ge­zeigt und sie ließ mich al­lei­ne.

Da­mit be­gann aber ein ganz an­de­res Dra­ma, von dem ich noch kei­ne Ah­nung hat­te, wie sehr es mich ver­let­zen wür­de. Am nächs­ten Tag, vor der Schu­le war­te­te ich wie im­mer auf mei­ne bes­te Freun­din Em­ma. Ich er­kann­te sie schon von Wei­tem, aber sie lief, oh­ne mich ei­nes Blickes zu wür­di­gen, an mir vor­bei ins Schul­ge­bäu­de. Was am Tag zu­vor noch mei­ne bes­te Freun­din war, ließ mich jetzt ein­fach ste­hen. Ich lief ihr hin­ter­her und rief mehr­fach ih­ren Na­men. Sie be­ach­te­te mich nicht mehr. So­gar in der Klas­se, in der wir di­rekt ne­ben­ein­an­der­sa­ßen, be­ach­te­te sie mich nicht mehr. Der schlimms­te Schlag folg­te aber erst noch. Als un­se­re Leh­re­rin her­ein­kam, mel­de­te sich Em­ma als Ers­tes und bat dar­um, sich um­set­zen zu dür­fen. Mir tat das furcht­bar weh, konn­te es aber na­tür­lich nicht zei­gen. Der Tag soll­te aber noch viel schlim­mer wer­den, als ich mir das hät­te aus­ma­len kön­nen.

In der großen Pau­se stand ich al­lei­ne mit mei­ner Milch und dem Bröt­chen auf dem Schul­hof. Mei­ne gan­ze Cli­que, mei­ne Freun­din­nen tu­schel­ten mit Em­ma und hiel­ten sich von mir fern. Ich war den gan­zen Tag al­lei­ne und mei­ne Freun­din­nen zer­ris­sen sich hin­ter mei­nem Rücken den Mund über mich. Schlim­mer konn­te es ei­gent­lich nicht mehr wer­den, dach­te ich bei mir. Aber be­reits am nächs­ten Tag wur­de ich ei­nes Bes­se­ren be­lehrt.

Das Leben der Catharina R.

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