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Kapitel 3
ОглавлениеDurch meine Arbeit und das Geld, was ich dafür bekam, ging es uns richtig gut. Wir hatten es uns sogar richtig gemütlich eingerichtet. Ich fühlte mich richtig zu Hause. Die Männer um mich herum verhielten sich vorbildlich. Während der Ferien war ich auch viel mit Karsten unterwegs. Wir waren zusammen im Freibad und in der Eisdiele. Aus dem kleinen Bruder wurde langsam mein bester Freund, auch wenn er zehn Jahre jünger war als ich. Je älter er wurde, umso einfacher war es auch, uns zu treffen.
In der neuen Schule verzichtete ich darauf, irgendwas über mich preiszugeben. Es dauerte auch nicht lange, bis ich wieder Anschluss gefunden hatte. Doch nach weniger als einem Jahr ging es wieder von vorne los. Ich hatte keine Ahnung, wie es in der neuen Schule jemand in Erfahrung bringen konnte. Ich war in einem anderen Stadtviertel, niemand kannte mich in der Schule und aller Vorsicht zum Trotz begann meine Tortur wieder von Neuem. Meine neuen Mitschüler übernahmen sogar die alten Schimpfworte. Ich war wieder komplett niedergeschlagen, als ich aus der Schule kam. Wilfried sah es mir auf Anhieb an und statt etwas zu essen gab es ein intensives Gespräch. Erneut war ich wieder alleine. Über Umwege kam ich dem Geheimnis auf die Spur. Eine meine Mitschülerinnen verbrachte ihre freie Zeit außerhalb von Bochum auf einem Reiterhof, auf der zufällig auch eine meiner ehemaligen Freundinnen reiten lernte. Diese beiden kamen untereinander auch ins Gespräch und stellten fest, dass ich von der einen Schule auf die andere gewechselt bin. Wenigstens blieb das andere Geheimnis im Dunkeln. Meine Erzeugerin kam nicht einmal auf die Idee nach mir zu suchen. Ihr war es auch völlig egal, wo ich jetzt lebte und was ich aus meinem Leben machte. Sie war glücklich, mich los zu sein, und verschenkte ihr Leben an den Alkohol. Das Letzte, was ich von ihr erfahren habe, war, dass sie sturzbetrunken bei der Arbeit erschien und daraufhin gekündigt wurde. Dann lag sie nur noch auf ihrem Sofa und hat getrunken. Gesehen habe ich sie dann nicht mehr.
Meine Männer gaben mir so viel Rückhalt, um das letzte Schuljahr noch zu überstehen. Trotzdem kamen in mir selbst immer wieder Zweifel auf, warum ich mir das überhaupt noch antun sollte. Was hatte ich denn davon? Egal wohin ich auch in Bochum wechseln würde käme es über kurz oder lang wieder zu einem verdammten Zufall und das ganze begann gerade wieder. Trotz aller Widrigkeiten machte ich meinen Abschluss und suchte mir eine Lehrstelle. Vorsichtshalber aber in einem ganz anderen Stadtviertel, weit weg von dort wo ich aufwuchs. Da ich gut mit Zahlen umgehen konnte, entschied ich mich zu einer Ausbildung als Bankkauffrau.
Der Weg zu meiner Arbeitsstelle war extrem lang und ich brauchte dafür dringend eine annehmbare Lösung. Lothar brachte mich auf die Idee ein oder zwei Monate den weiten Weg, in Kauf zu nehmen und mir in dem neuen Stadtviertel eine günstige Wohngelegenheit zu suchen. Es fiel mir schwer, die Jungs alleine zu lassen. Sie waren wie eine Ersatzfamilie für mich geworden und ich hatte ihnen viel zu verdanken. Aber sie erklärten mir, dass es nicht um sie ging, sondern um mich und mein Leben. Sie kämen auch ganz gut ohne mich und die finanzielle Unterstützung zurecht. Ich ließ mir von ihnen versprechen, dass sie mich hin und wieder besuchen würden. Es war ein schwerer Schritt in die Unabhängigkeit und die Einsamkeit. Zum ersten Mal in meinem Leben wohnte ich ganz alleine in einer kleinen Wohnung mit nur einem Zimmer. Das Geld meiner Ausbildung reichte gerade so, um mich über Wasser zu halten. Um ein bisschen mehr Geld zu haben und mir auch mal etwas leisten zu können fing ich an für einen Prüfungsnachweis nach § 34a der Gewerbeordnung zu lernen. Damit war es mir dann möglich, trotz meiner geringen Größe am Wochenende im Sicherheitsdienst zu arbeiten. Also lernte ich tagsüber in der Bank meinen Job und am Wochenende arbeitete ich dann abends bis in die Nacht hinein im Sicherheitsdienst einer Diskothek.
Luxus war ich sowieso nicht gewohnt und brauchte es auch nicht. Ich schlief auf einer dünnen Schaumstoffmatratze auf dem Boden und benutzte Umzugskartons als Tisch. Teller hatte ich keine, aber ich besorgte mir für kleines Geld aus einem Kaufhaus Pappteller und benutzte sie gleich mehrmals, bevor ich sie dann wegwarf. Der kleine Herd in meiner neuen Wohnung hatte auch mehrere Zicken. Teilweise reagierten die Platten nicht oder ich stand im Dunkeln, weil die Sicherung durchbrannte, als ich ihn einschaltete. Zumindest hatte ich ein funktionierendes Badezimmer und eine Heizung. Man lernt, die kleinen Dinge zu schätzen, wenn man lange Zeit in einer alten und kalten Wohnung leben musste. Im Winter benutzte ich bei meinen Männern teilweise vier oder fünf Decken, um nicht zu erfrieren, wenn es draußen richtig frostig kalt war. In meiner ersten Winternacht in der Wohnung handelte ich aus Gewohnheit wieder so. Es dauerte keine zwei Stunden, bis ich schweißnass wieder aufwachte. Es war einfach viel zu warm.
Wenigstens bekam ich öfter Besuch. Wilfried, Nils und Lothar besuchten mich, so oft sie konnten, und blieben in den kalten Monaten auch mal gerne über Nacht. Jedes Jahr an meinem Geburtstag standen pünktlich alle mit kleinen liebevollen Geschenken vor der Tür. Ich ließ es mir nicht nehmen für die ganze Meute zu kochen. Auch Karsten, der angefangen hatte zu boxen, war öfter bei mir als zu Hause. Aus dem kleinen Jungen, der noch an meinen Beinen hing, wurde langsam ein richtiger Mann. Er wuchs zu einer imposanten Erscheinung heran. Ich bin irgendwann kurz über Zwergengröße einfach nicht mehr weiter gewachsen. Trotz seines jungen Alters von 12 Jahren überragte er mich schon um einen halben Kopf. Zu meinem 23. Geburtstag schenkte er mir auch noch eine Flasche Pflanzendünger. Auf der Karte stand liebevoll, ich solle damit duschen, dann würden aus den 156 cm vielleicht noch ein bisschen mehr.
Die Ausbildung in der Bank war allerdings auch nicht wirklich erbaulich. Die jungen Frauen an der Kasse waren auch nur geringfügig älter als ich und in den Pausenzeiten oder vor der Öffnung blieb immer noch viel Zeit über Privates zu reden. Außerdem haben mehrere junge Frauen auf einem Haufen immer die Angewohnheit extrem viel zu tratschen. Ich erfuhr mehr über das, was sie im Bett mit ihren Kerlen anstellten, als mir lieb war und fast jeden zweiten Tag hörte ich die Frage, ob ich mir auch einen angelacht hatte. Natürlich hatte ich nie einen Freund an meiner Seite. Was sollte ich auch mit einem. Ich empfand sie als abstoßend und es wäre mir im Traum nicht eingefallen mit einem etwas anzufangen. Brüste zogen mich magisch an, vor allem wenn die Dame, die sie vor sich hertrug, auch optisch eine Augenweide war. Aber ich war überaus vorsichtig, damit keine meiner Kolleginnen mitbekam, dass mich nur das eigene Geschlecht anzog.
Kurz vor Karstens 14. Geburtstag wurde auch er schwer verletzt. Er hatte sich in eine jüngere Mitschülerin verliebt und an einem Septembermorgen in der Schule ihr das auch gesagt. Eigentlich erwartete man ja nur zwei mögliche Reaktionen. Entweder wurde man abgewiesen oder das Mädchen empfand auch etwas Zuneigung. Er erlebte aber eine dritte Option, mit der niemand gerechnet hatte. Während der Sommerferien waren die beiden fast unzertrennlich gewesen. Ständig trieben sie sich zusammen in der Stadt herum, waren Schwimmen und kletterten auf die Kirschbäume, die es damals noch gab. Einen ganzen Monat lang war es fast unmöglich ihn alleine anzutreffen. Als er ihr aber seine Liebe gestand, brachte ihm das eine heftige Ohrfeige ein. Dann hat sie ihn einfach stehen lassen und ist fluchend verschwunden. Der Korb war also mehr als deutlich, aber sie hatte noch etwas viel Gemeineres für ihn auf Lager. Sie beachtete ihn nicht mehr. Selbst als er noch einmal versuchte, mit ihr zu reden, behandelte sie ihn wie Luft. Meine Erfahrungen auf dem Gebiet der Liebe waren mit nicht vorhanden noch sehr wohlwollend umschrieben. Allerdings war es nicht ungewöhnliches in jungen Jahren und es hieß, man solle einfach einige Wochen warten und dann wäre das Thema erledigt, weil die nächste schon auf einen jungen Mann wartete. In seinem Fall allerdings half auch eine Wartezeit von sechs Monaten nicht. Ich versuchte, ihn zu trösten, aber das war vergeblich. Sie war weg und er konnte nicht aufhören sie zu lieben. Daran zerbrach er immer weiter. Von dem einstigen so fröhlichen Jungen blieb nur noch ein weinendes Häufchen zurück.
Aber auch bei mir lief es nicht mehr rund. Das Getuschel der Kolleginnen in der Bank wurde immer lauter. Es war viel zu ungewöhnlich, für eine Frau mit 24 Jahren noch nie mit einem Mann an der Hand gesehen worden zu sein. Die Vermutungen nahmen immer mehr zu. Auch meine Dementis änderten daran nichts mehr. Aber was hätte ich auch machen sollen? Mir irgendeinen zu suchen, der in mir weder etwas auslöste noch das ich ihn, als angenehm empfand und ihm etwas vorspielen? Mit Gefühlen spielt man nicht, den besten Beweis sah ich dafür in meiner Wohnung mit Karsten. Er war schon lange nicht mehr das, was er vor diesem Mädchen war. Aber je länger ich darauf hoffte, das Ganze würde sich mit genügend Zeit im Sand verlaufen, wurde es immer schlimmer. In den freien Minuten war das schon längst zum beliebtesten Thema avanciert. Jeden Tag hörte ich eine neue Geschichte, die durch die Bank wanderte.
Karsten brauchte dringend Abstand zu seinem gewohnten Umfeld. Seine Mutter, die mich noch immer als den Antichristen ansah, konnte nicht einmal etwas dagegen tun. Er packte ein paar Sachen zusammen und zog vorübergehend zu mir. Trotzdem wurde er nicht mehr der Alte. Karsten hatte seinen Lebensmut völlig verloren. So weit es mir möglich war, versuchte ich ihn etwas abzulenken, aber es war verdammt schwer ihn auf andere Gedanken zu bringen. Es war einfach nichts mehr da, auf das ich hätte aufbauen können. Auch meine Jungs halfen mit, ihn wieder ein bisschen in die Spur zu bekommen. Sie waren in diesen Dingen einfach viel erfahrener als ich. Viel gebracht hat es aber nicht.
Mit der Zeit wurde es bei mir auf der Arbeit zu einer richtigen Hexenjagd. Diese dauernden Verdächtigungen und Aussagen meiner Kolleginnen kratzten zunehmend an meiner Lust, dort zu arbeiten. Es wurde höchste Zeit für eine andere Strategie. Hilfreich war in dieser Zeit ausgerechnet Karsten, der mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hatte. Er animierte mich einfach die Flucht nach vorne anzutreten. Also keine Dementis mehr, sondern einfach nur noch Zustimmung. Egal, was sie auch vermuteten. Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht. Danach gab ich ihnen einfach recht. Was sie auch sagten, bestätigte ich einfach nur noch. Auf einmal war ich nicht nur lesbisch, arbeitete am Wochenende auf dem Strich, hatte ein eigenes Bordell und nahm mehr Drogen zu mir als eine komplette Rockband. Bluffen war ja nicht mein Problem. Durch meine Krankheit konnte ja niemand an meinem Gesicht ablesen, ob ich auch wirklich die Wahrheit sagte.
Dann begann ich aber damit einfach mein eigenes Ding durchzuziehen. Ich arbeitete nicht mehr nur durchgehend, sondern nahm mir auch Zeit auszugehen. Karsten half mir sogar dabei. Er hatte sich wieder einigermaßen gefangen und gab mir ein bisschen Hilfestellung. Er war gerade 16 geworden, sah mittlerweile aus wie Mike Tyson, wobei nur die Hautfarbe nicht ganz passte, und war relativ wortkarg. Die interessanteste Veränderung an ihm aber war seine wirklich beeindruckende Beobachtungsgabe. Zusammen mit seinem hervorragend funktionierenden Kopf eine richtig gefährliche Kombination. Logik war einfach unbestechlich und er war darin zu einem Meister mutiert. Durch seine Beobachtungen und die Logik seines Kopfes erkannte er die Geschichte hinter einem Menschen.
Ich nahm mir die Sonntage frei und ging in die einschlägigen Bars. Mit der Zeit hatte ich immer weitere Treffpunkte für Homosexuelle entdeckt, die ich dann an den Wochenenden besuchte. Der Erfolg blieb leider in den meisten Fällen aus, aber es war für mich eine Wohltat mit Frauen zu sprechen, die den gleichen Anfeindungen wie ich ausgesetzt waren. Daraus entstanden auch ein paar schöne Freundschaften. Plötzlich war das alles nicht mehr so schwierig für mich. Aber mein Leben hatte strikt etwas dagegen mir etwas Liebevolles zu schenken. Meine privaten Besuche in den Bars blieben nicht wirklich lange geheim und ich fand mich in der gleichen Situation wie bereits zweimal zuvor. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer. Trotz des Zuspruchs meiner Jungs und Karsten entwickelte ich eine tief sitzende Depression. Da man mir nicht ansehen konnte, wie ich mich fühlte, blieb den meisten verborgen, dass ich viel zu häufig an Suizid dachte. Karsten war interessanterweise der Einzige, der es ziemlich schnell herausfand. Dann therapierten wir uns fast gegenseitig. Ich half ihm über seine Dämonen hinweg, zumindest dachte ich das bis dahin und er trieb mir meine bösen Gedanken aus.
Trotzdem musste etwas passieren. Es konnte so einfach nicht mehr weitergehen. Bochum war zwar nicht gerade klein, aber ich konnte ja nicht in schöner Regelmäßigkeit alle paar Monate das Stadtviertel wechseln. Außerdem waren ja nicht mehr so viele davon übrig und mein Name machte auch schon langsam die Runde. Das war meine schwerste Zeit. Ich konnte den Menschen, denen ich zum ersten Mal begegnete, direkt ansehen, was der Name Catharina Rehberg auslöste. Teilweise konnte ich, nachdem ich meinen Namen genannt hatte, auch einfach wieder gehen, ohne meinen Gesprächspartner etwas sagen zu hören. Ich sah es ihnen an den Reaktionen schon an, dass sie diesen Namen schon öfter im Zusammenhang mit den wildesten Geschichten gehört hatten.
Ich fühlte mich mit zunehmender Zeit einfach immer schlechter. Auch Karsten merkte mir das deutlich an. Nach einem langen, sehr anstrengenden Arbeitstag in der Bank kam ich nach Hause und fiel einfach nur noch auf die Couch. Ich wollte nicht mehr. Nie mehr! Karsten ließ mir mehr als zwei Stunden Zeit, um herunterzukommen. Er kochte, stellte mir das Essen auf den Tisch und brachte mir, etwas Kühles zu trinken. Sogar die Badewanne ließ er für mich einlaufen, damit ich mich irgendwie entspannen konnte. Erst am späten Abend sprach er mich an.
»Cat, du bleibst morgen hier. So geht das nicht mehr weiter!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht zu Hause bleiben. Wie stellst du dir das vor? Ich muss arbeiten!«
»Hör auf, mich anzulügen! Entweder du bleibst morgen hier auf dem Sofa, oder ich gehe mit dir zur Arbeit und baue eine Bank um. Deine Entscheidung!«
»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«
»Du brauchst einen Neuanfang, das ist das Einzige, was noch hilft, ansonsten gehst du daran kaputt.«
Ich wusste, dass er recht hatte. »Ich bin schon lange kaputt. So wie du auch.«
»Unerlaubter Tiefschlag, Cat«, brummte er, »Egal, was du hier auch noch versuchst, leidest du so wie ich. Das ist es nicht wert!«
»Wo soll ich denn hin?«
»Weg von hier, ganz egal wohin, nur einfach weg.«
Ich brauchte nicht zu lange darüber nachzudenken. Karsten hatte mehr als recht. Ich wäre daran zerbrochen, wenn er nicht gewesen wäre. Am nächsten Tag blieb ich wirklich in meinem Bett liegen und ging nicht zur Arbeit. Karsten kochte Kaffee und brachte mir sogar Frühstück ans Bett. Danach berieten wir mehrere Stunden und diskutierten einige Vorschläge. Ich wollte eigentlich in Deutschland bleiben. Eine andere Sprache konnte ich nicht. Das bisschen Englisch, was ich in der Schule gelernt hatte, reichte nicht einmal für eine Bestellung in einem Lokal. Vor allem war es völlig falsch, aber zu meiner Zeit konnten nicht mal die Lehrer anständiges Englisch, wie sollten sie auch den Schülern die Sprache vermitteln. Karsten war dagegen. Trotz seiner jungen Jahre war er kopfmäßig viel weiter. Sein Vorschlag lautete Niederlande. Die Sprache dort war enger mit dem Deutschen verwandt und sie waren, was die Homosexualität anging, deutlich liberaler als alle anderen Staaten.
Ich war dagegen. Die Sprache würde ich in tausend Jahren nicht mehr lernen und die Niederlande hatten irgendwie nichts Schönes. Scherzhaft sagte er, man sollte mich in die Karibik schicken, das gäbe erstens Sonne und die Frostbeule Catharina bekommt nicht mal im Winter einen kalten Arsch. Irgendwie hatte er damit schon recht. Allerdings waren die meisten Länder nahe am Äquator weder liberal, noch passte die Sprache. Nur Französisch und Spanisch, aber kein Englisch. Was Sprachen anging, war ich eine Niete und französisch mochte ich schon vom Klang her nicht. Das war ein einziges Näseln und hörte sich immer an, als würde jemand über mich lästern. Zu Spanisch fand ich keinen rechten Zugang. Wir hatten damals zwar schon das Internet, aber das war damals tatsächlich noch Neuland. Karsten sprach dann von Grenada. Ich dachte die ganze Zeit über, er meint eine Stadt in Spanien, aber er hatte es von einer Insel in der Karibik, die unter englischer Verwaltung stand. Allerdings war England bei der Toleranz gegenüber Homosexuellen fast noch schlimmer als Deutschland. Nach einigen Nächten kam Karsten schließlich mit der kleinen Insel Saint Martin um die Ecke. Meine Ablehnung war ihm damit sicher. Kein Französisch, und was sollte alleine der Name schon vermuten lassen. Aber er hatte seinen Joker gezogen und mir erklärt, dass diese kleine Insel zweigeteilt ist. Der größte Teil gehört zu Frankreich, aber der südliche Zipfel des Eilands war eine niederländische Kolonie. Amtssprache war Englisch und noch etwas war besonders. Der französische Teil dieser Insel gehört offiziell zur EU, der niederländische allerdings nicht. Es gab keine Pass- und Zollkontrolle. Außerdem hatte ich als deutsche Staatsbürgerin den Vorteil meinen Wohnsitz, solange ich wollte, innerhalb der EU zu verlegen ohne ein Visum oder sonstigen Unsinn zu brauchen.
Je mehr wir über diese Insel in Erfahrung bringen konnten, umso besser gefiel es mir. Aber ich brauchte eine Menge Startkapital und natürlich musste ich die Sprache lernen. Die nächsten Monate habe ich tagsüber in der Bank gearbeitet, so viel Geld wie möglich gespart und mit Karsten zusammen abends die englische Sprache gepaukt. Eigentlich wollte ich meine Sachen mitnehmen, aber das ginge nur, wenn ich mein Eigentum in einen Container packen würde und den dann mit einem Schiff dahin schippern lasse. Alleine das würde mich aber schon einen Kleinwagen kosten. Das war einfach nicht drin. Ich brauchte alles an Geld, was ich bekommen konnte. Ich entschied mich daher alles, was ich hatte bis natürlich auf meine Klamotten und die persönlichen Wertsachen zu verkaufen. Das brachte mir mehr Startkapital und ich brauchte nicht sofort einen Job, bevor ich Pleite war. Kurz nach Karstens Geburtstag hatte ich mein Startgeld zusammen. Ich brauchte nur noch das Geld für den Flug, was aber auch noch einen Tausender erfordern würde. Ich stellte mich also gedanklich noch einmal auf mindestens ein halbes Jahr täglicher Folter ein. So lange würde ich mindestens brauchen das Geld für den Flug auf die Seite zu legen.
Eines Morgens, als ich aufstand, um zur Arbeit zu gehen, kam Karsten mit einem teuflischen Grinsen auf mich zu und reichte mir einen Umschlag. Als ich ihn öffnete, fielen mir zwei Flugtickets entgegen. Ausgestellt auf meinen Namen und bezahlt. Karsten hatte mir verschwiegen, dass er das Geld dafür irgendwie zusammengetragen hatte und dann auch gleich die Flüge gebucht hatte. Es war ein Geschenk für mich. Anstatt zur Arbeit zu gehen, setzte ich mich an den Tisch und freute mich wie ein kleines Kind, wenn Ostern, Weihnachten und Silvester auf ein und denselben Tag fallen würden. Am nächsten Tag ging ich noch einmal, in seiner Begleitung zu meiner Arbeitsstelle in der Bank. Die Gesichter meiner Kolleginnen werde ich nie vergessen, als ich mit Karsten in die Bank kam. Er sah aus wie mein persönlicher Bodyguard, mit seinen schwarzen Klamotten und den dicken Stiefeln. Dazu machte er ein Gesicht, das schon von Weitem signalisierte, dass ein Wort ausreichte, um eine Prügelei zu provozieren. Im Stillen genoss ich unseren Auftritt. Ohne Umweg gingen wir zum Büro meines Chefs und ich warf ihm meine Kündigung und meine Zugangskarte auf den Tisch. Dann packte ich meine Sachen auf meinem Schreibtisch in einen Karton. Eine Kollegin wollte noch etwas sagen, aber Karsten packte sie und warf sie auf den Schreibtisch nebenan. Dann ging ich, wie von einer schweren Last befreit nach draußen.
Karsten begleitete mich sogar nach Düsseldorf für meinen Flug nach Amsterdam. Von dort gab es einen Direktflug nach Sint Maarten mit der KLM. Am 3. November hob ich ab in ein neues Leben.