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Kapitel 2

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Am 12. März er­leb­te ich mei­nen bis da­hin schlimms­ten Tag mei­nes noch jun­gen Le­bens. Vor Un­ter­richts­be­ginn hol­te mich mei­ne Klas­sen­leh­re­rin von mei­nem Stuhl und brach­te mich ins Leh­rer­zim­mer. Der Ge­stank nach Kaf­fee und kal­tem Rauch war ab­ar­tig. In dem Raum hät­te auch ein Af­fen­kä­fig aus dem Zoo nichts an der Luft än­dern kön­nen. Vor mir sa­ßen ins­ge­samt vier Leh­rer und der Di­rek­tor mei­ner Schu­le. Wie ei­ne Straf­ge­fan­ge­ne wur­de ich ver­hört, wie ich es hat­te wa­gen kön­nen ei­ne Mit­schü­le­rin zu küs­sen. Man be­schimpf­te mich als krank und ab­nor­mal. Die­se fünf Er­wach­se­nen vor mir re­de­ten fast ei­ne Stun­de wie auf ei­ne Schwer­ver­bre­che­rin auf mich ein. Durch mei­ne Krank­heit zeig­te sich na­tür­lich kei­ne Re­ak­ti­on auf mei­nem Ge­sicht, was ih­nen als Grund aus­reich­te, ein­fach wei­ter ver­bal auf mich ein­zu­schla­gen.

Je­de an­de­re wä­re wie ein wei­nen­des Häuf­chen in der Ecke ge­le­gen und hät­te dar­um ge­be­tet end­lich in Ru­he ge­las­sen zu wer­den. Da sich auf mei­nem Ge­sicht ab­so­lut nicht die ge­rings­te Re­gung zeig­te, von Reue oder ei­nem schlech­ten Ge­wis­sen ganz zu schwei­gen, ent­schied man sich da­zu, mei­ne Mut­ter an­zu­ru­fen und einen Ter­min für die klei­ne Ca­tha­ri­na beim Schul­psy­cho­lo­gen aus­zu­ma­chen. Mei­ne Mut­ti fiel na­tür­lich aus al­len Wol­ken als man sie be­reits mor­gens im Kauf­haus ans Te­le­fon be­stell­te und ihr na­he leg­te ih­re Toch­ter zum Psy­cho­lo­gen zu schi­cken.

An Un­ter­richt im klas­si­schen Sin­ne war an die­sem denk­wür­di­gen Tag nicht mehr zu den­ken. Wer aber glaubt, dass Er­wach­se­ne die Schlimms­ten sind und ver­bal auf jun­ge Frau­en ein­schlu­gen, hat noch nie die Gleich­alt­ri­gen ken­nen­ge­lernt. So­gar wäh­rend des lau­fen­den Un­ter­richts at­ta­ckier­ten mich mei­ne Mit­schü­ler. Ganz vor­ne mit da­bei mei­ne bes­te Freun­din Em­ma. Man glaubt gar nicht, wie schnell sich so et­was in der gan­zen Schu­le ver­brei­ten kann. Es dau­er­te ge­fühlt nur ei­ni­ge Se­kun­den, bis auch der letz­te Schü­ler auf dem Schul­hof über den kom­plet­ten Ablauf in­for­miert war. Selbst die nor­ma­len Mob­bin­gop­fer, die es an je­der Schu­le gab, hat­ten an die­sem Tag ei­ne Aus­zeit und wur­den in die Ge­mein­schaft auf­ge­nom­men. Ich war nur noch die kran­ke, völ­lig ver­rück­te klei­ne Sch­lam­pe, die mit Vor­lie­be Mäd­chen küsst. Zu mei­nem be­son­de­ren Glück stell­te sich auch noch die ein­zi­ge Lehr­kraft auf dem Schul­hof, die als so­ge­nann­te Pau­sen­auf­sicht, Strei­te­rei­en und An­fein­dun­gen von Schü­lern un­ter­ein­an­der un­ter­bin­den soll­te, auf die Sei­te mei­ner größ­ten Geg­ner.

So­gar die letz­ten Af­fen ka­men aus ih­ren Lö­chern ge­kro­chen und be­lei­dig­ten mich auf das Übels­te. Da­mals dach­te ich noch, es wür­de viel­leicht ein oder zwei Ta­ge dau­ern, bis sie sich wie­der be­ru­hi­gen wür­den und mich in Ru­he lie­ßen, aber auch nach ei­ni­gen Wo­chen än­der­te sich nichts dar­an. Ich war bis zu mei­nem Ab­schluss das be­vor­zug­te Op­fer al­ler At­ta­cken. Das be­zog sich aber nicht nur auf die Schu­le, denn im Pri­va­ten ging es di­rekt wei­ter. Dass man mich nur noch als die Kran­ke be­zeich­ne­te, setz­te sich die rest­li­che Schul­zeit fort. Ich durf­te je­de Wo­che an zwei Ta­gen nach der Schu­le zu ei­nem Psy­cho­lo­gen wan­dern, der mich hei­len woll­te. Ab­nor­mal war noch die harm­lo­ses­te Be­zeich­nung, die ich zu hö­ren be­kam.

Mei­ne Mut­ter zu Hau­se stand mei­nen Pei­ni­gern in nichts nach. Es­sen durf­te ich al­lei­ne. Mei­ne bis da­hin lie­be­vol­le Mut­ter wei­ger­te sich be­harr­lich, ih­ren Tisch mit ei­ner Ir­ren zu tei­len. Es dau­er­te auch nicht mehr be­son­ders lan­ge, bis ich mir mein Es­sen selbst ma­chen muss­te. Das fand sei­ne Fort­set­zung dar­in, dass ich mei­ne Wä­sche und al­les an­de­re al­lei­ne ma­chen durf­te. Ich war für mei­ne Er­zeu­ge­rin nur noch ein Klotz am Bein und sie ließ mich das auch je­den Tag spü­ren. Mein Ta­schen­geld be­kam ich ein­mal im Mo­nat in ei­nem Brief­um­schlag, den sie mir wie ei­ne schlech­te An­ge­wohn­heit auf dem Kü­chen­tisch lie­gen ließ.

Auch mei­ne sons­ti­ge Ein­nah­me­quel­le, die Ba­by­sit­ter­aben­de bei Kars­ten im Nach­bar­haus fie­len weg. Sei­ne Mut­ter woll­te ih­ren Sohn nicht ei­ner kran­ken Les­be über­las­sen. Der Klei­ne selbst hat­te aber an mir schon einen Nar­ren ge­fres­sen. Er be­schwer­te sich laut­stark über je­de an­de­re, die man ihm vor die Na­se setz­te. Ihm war es als Ein­zi­gem egal, ob man mich als krank be­zeich­ne­te. Der klei­ne Kars­ten, die­ser Gold­schatz, zeig­te al­len an­de­ren, dass ich nur ei­ne ein­fa­che jun­ge Frau war, die nichts Bö­ses ge­tan hat­te. Er war zu der Zeit noch im Kin­der­gar­ten ei­ni­ge Stra­ßen wei­ter und kann­te mei­ne Zei­ten wann ich, wo an­zu­tref­fen war. Im­mer wie­der dreh­te er es so, dass er ge­nau dann auf dem Spiel­platz sei­ner Mut­ter ent­wisch­te, wenn ich auf dem Weg nach Hau­se war. Dann rann­te er, so schnell er konn­te auf mich zu und drück­te mich an sich. Das wa­ren die ein­zi­gen schö­nen Mo­men­te, die ich noch hat­te.

Die­ses gan­ze Elend er­trug ich klag­los über ein Jahr. Mei­nen 15. Ge­burts­tag fei­er­te ich völ­lig al­lei­ne in mei­nem Zim­mer auf dem Bett. Von mei­nem Ta­schen­geld hat­te ich mir ein Stück Ku­chen ge­leis­tet, ei­ne Ker­ze an­ge­zün­det und den gan­zen Nach­mit­tag ein biss­chen Mu­sik lau­fen. Mei­ne Er­zeu­ge­rin, die be­trun­ken auf dem So­fa vor der viel zu lau­ten Flim­mer­kis­te lag, hielt es nicht für nö­tig einen Ton zu mir zu sa­gen. Ih­re ein­zi­ge Toch­ter hat­te Ge­burts­tag und ihr war es voll­kom­men egal. Sie ließ auch kei­ne Ge­le­gen­heit aus, mir im­mer wie­der Be­lei­di­gun­gen an den Kopf zu wer­fen. Selbst an mei­nem Ehren­tag be­zeich­ne­te sie mich noch als mensch­li­chen Ab­fall, den sie bes­ser ab­ge­trie­ben hät­te.

Als ich dann al­lei­ne in mei­nem Zim­mer saß und mei­nen Ku­chen an­starr­te, der mir nicht schme­cken woll­te, traf ich einen Ent­schluss. Ich war jetzt 15 Jah­re alt, mach­te mei­ne Haus­ar­beit al­lei­ne und muss­te mich, so gut es ging selbst ver­sor­gen. Was soll­te mich al­so noch hier hal­ten? Eben, es gab nichts mehr, was mich noch an die­sem Ort fest­hielt. Mei­ne Er­zeu­ge­rin lag so­wie­so nur noch im Al­ko­hol­rausch auf dem So­fa her­um und über­ließ mich mir selbst. Wie­so soll­te ich mir das ei­gent­lich noch län­ger an­tun. Sie gab mir ja so­wie­so nur noch zu ver­ste­hen, dass ich un­er­wünscht war. Ich öff­ne­te mei­nen Schrank und be­gann ei­ne klei­ne In­ven­tur. Die Klei­dung, die ich hat­te, pack­te ich in ei­ne Ta­sche und mei­ne per­sön­li­chen Wert­ge­gen­stän­de und klei­ne Erin­ne­run­gen, die ich be­hal­ten woll­te, lan­de­ten in ei­ner Tü­te. Bei­des leg­te ich ne­ben mei­ne Schul­ta­sche und leg­te mich dann schla­fen.

Am nächs­ten Mor­gen ging ich wie je­den Tag zur Schu­le, ließ mich wie­der be­lei­di­gen und an­fein­den, bis mei­ne Stun­den ab­ge­lau­fen wa­ren. Dann schrieb ich einen Zet­tel für den klei­nen Kars­ten und mach­te mich auf den Weg. Ich wuss­te, dass er an die­sem Tag auf mich am Spiel­platz war­te­te. Wie im­mer rann­te er fröh­lich auf mich zu und schloss mich in die Ar­me. Ich sah dem Jun­gen tief in die Au­gen und steck­te ihm mei­ne Nach­richt zu. Er ver­stand erst nicht, was das soll­te, aber ich er­klär­te ihm, dass auf die­sem Zet­tel mei­ne neue Adres­se stand. Kars­ten mach­te große Au­gen und hat­te Angst mich nicht wie­der se­hen zu kön­nen. Er war aber der Ein­zi­ge, den ich nicht al­lei­ne las­sen wür­de. Kars­ten ver­sprach mir, nie­man­dem zu er­zäh­len, wo ich war, und ich ver­sprach ihm im­mer wie­der an der Schu­le auf ihn zu war­ten. Dort hat­ten wir viel mehr Zeit und er brauch­te nicht sei­ner Mut­ter zu ent­wi­schen.

Als ich wie­der in die Woh­nung kam, stank es wie im­mer nach Bier und bil­li­gem Fu­sel, den mei­ne Er­zeu­ge­rin in rau­en Men­gen in sich hin­ein­schüt­te­te. Die Be­grü­ßung ließ nicht lan­ge auf sich war­ten. Der mensch­li­che Ab­fall, al­so ich, soll­te ver­schwin­den. Sie wuss­te gar nicht, wie schnell sich die­ser Wunsch er­fül­len soll­te. Ich ging nur kurz in mein Zim­mer, nahm mei­ne Ta­sche und die Tü­te und blick­te noch ein letz­tes Mal an die Wand mei­nes Kin­der­zim­mers. Dann ver­ließ ich die Woh­nung und mach­te mich auf zu mei­ner neu­en Adres­se. Das war ein al­tes Ab­bruch­haus, das schon seit ich noch Win­deln trug, et­was ab­ge­le­gen stand. Ir­gend­wann hat­ten wir das mal er­kun­det und es soll­te mei­ne neue Blei­be wer­den.

Be­tre­ten konn­te man es nur über ein Loch in der Au­ßen­mau­er. Die Fens­ter wa­ren mit Far­be be­schmiert und im un­te­ren Stock­werk roch es muf­fig und deut­lich nach Urin. Im obe­ren Stock­werk gab es ei­ni­ge Zim­mer, in de­nen Ob­dach­lo­se haus­ten. Die Räu­me, die leer stan­den, hat­te ich mir schon ein­mal an­ge­se­hen. Mei­ne Wahl fiel auf ein klei­nes Zim­mer an der west­li­chen Ecke mit ei­nem Aus­blick auf den ver­wil­der­ten Gar­ten hin­ter dem Haus. Dort be­gann ich mich häus­lich ein­zu­rich­ten. Ein Ob­dach­lo­ser sah mir da­bei in­ter­es­siert zu und frag­te mich, was ich denn hier woll­te. Ich er­klär­te ihm, dass ich ab so­fort in die­sem Zim­mer woh­nen wür­de. Lo­thar, so nann­te er sich, woll­te mir erst nicht recht glau­ben, aber als er sah, dass ich mir ei­ne De­cke als Nacht­la­ger aus­brei­te­te und mei­ne Schul­sa­chen in die Ecke stell­te, war er über­zeugt.

Wir un­ter­hiel­ten uns noch ei­ni­ge Stun­den. Er war sehr nett zu mir und spar­te nicht mit gu­ten Ratschlä­gen. Angst wä­re hier nicht be­son­ders hilf­reich. Ich er­klär­te ihm aus­führ­lich, dass ich un­emp­find­lich für Angst war. Mei­ne Krank­heit Ale­xi­thy­mie ver­hin­der­te ein Ang­st­emp­fin­den. Aber es gab auch Er­freu­li­ches zu hö­ren. Ein an­de­rer Ob­dach­lo­ser, der Har­ry hieß, und noch bis vor ei­ni­gen Mo­na­ten hier ge­lebt hat­te, war ein ehe­ma­li­ger Elek­tri­ker und sorg­te in ei­ner Nacht und Ne­be­lak­ti­on da­für, die­ses Haus wie­der mit Ener­gie zu ver­sor­gen. Heißt in mei­ner neu­en Woh­nung gab es so­gar ein biss­chen Strom für Licht und einen ge­mein­schaft­li­chen Herd, den sie vom Sperr­müll be­sorg­ten. Nur Was­ser war ein klei­ne­res Pro­blem. Das muss­te über Ka­nis­ter von ei­nem Brun­nen in der Stadt be­sorgt wer­den. Je län­ger ich mit Lo­thar re­de­te, um­so woh­ler fühl­te ich mich in mei­ner neu­en Blei­be.

Die ers­te Nacht war noch et­was un­be­quem und kühl. Schlaf be­kam ich nicht ge­ra­de viel. Drau­ßen war es be­reits kurz vor Mit­tag, als ich mich aus mei­ner De­cke schäl­te und in den Gar­ten sah. Es war An­fang März und die Son­ne war noch nicht stark ge­nug für ein biss­chen Wär­me zu sor­gen. Lo­thar war be­reits wie­der wach und rauch­te einen scheuß­lich rie­chen­den Zi­ga­ril­lo. Ich bat ihn, auf mei­ne Sa­chen auf­zu­pas­sen, wäh­rend ich weg war. Er be­ru­hig­te mich mit der Aus­sa­ge, dass hier nichts weg­kom­men wür­de, trotz­dem nahm ich die Tü­te mit mei­nen Wert­sa­chen vor­sichts­hal­ber mit. Ich hat­te ei­ne drin­gen­de Verab­re­dung mit dem klei­nen Kars­ten und woll­te ihn nicht ent­täu­schen. Gera­de noch recht­zei­tig er­reich­te ich die Grund­schu­le, be­vor der Un­ter­richt zu En­de war. Als er mich vor dem Schul­hof war­ten sah, blitz­ten sei­ne blau­en Au­gen. Sei­ne Ta­sche mit den Schul­sa­chen ließ er ein­fach fal­len und rann­te zu mir.

Auf der Stein­trep­pe re­de­ten wir län­ger mit­ein­an­der. Er woll­te wis­sen, was ich vor­hat­te und warum ich jetzt wo­an­ders woh­nen wür­de. Ich ver­such­te, es ihm so gut wie mög­lich zu er­klä­ren. Für ihn war ich im­mer noch die große Ca­tha­ri­na und er konn­te nicht ver­ste­hen, warum mich al­le für krank hiel­ten. Das Pro­blem war, dass ich es ihm selbst nicht rich­tig er­klä­ren konn­te. Ich er­zähl­te ihm, dass ich mei­ne Freun­din Em­ma ge­küsst hat­te, und dar­auf die Höl­le über mich her­ein­brach. Für Kars­ten war das ganz nor­mal. Mit sei­nem kind­li­chen Ge­müt er­klär­te er mir, das es doch ganz nor­mal sei, je­man­den zu küs­sen, wenn man ihn mag. Wel­ches Ge­schlecht spiel­te doch da­bei über­haupt kei­ne Rol­le. Er küss­te mich ja auch, weil er mich moch­te. Er konn­te noch nicht be­grei­fen, was jetzt so schlimm an ei­nem Kuss war. Ich be­glei­te­te ihn noch fast bis nach Hau­se. Dann mach­te ich mich wie­der auf den Weg zu mei­ner neu­en Be­hau­sung.

Dort war­te­te be­reits Lo­thar mit ei­ni­gen Freun­den auf mich. Sie al­le woll­ten die neue jun­ge Be­woh­ne­rin ken­nen­ler­nen. Sie wa­ren al­le über­aus nett zu mir. Wil­fried, ein an­de­rer Be­woh­ner des Hau­ses, ver­such­te zu er­fah­ren, was mich in die­se Ge­gend ver­schla­gen hat­te. Ich ver­such­te, ihm nur ein biss­chen mei­ner Si­tua­ti­on zu er­klä­ren, aber das ge­nüg­te ihm nicht. Ihm war nur auf­ge­fal­len, dass ich ganz an­ders war als die an­de­ren jun­gen Frau­en, die sich sonst mal hier­her ver­irr­ten. Es hat­te kei­nen Zweck ih­nen et­was vorzu­ma­chen. Sie wa­ren schon viel zu alt und er­fah­ren ge­nug um mich aus der Re­ser­ve zu lo­cken. Al­so be­gann ich zu be­rich­ten, was es mit mei­ner Flucht auf sich hat­te und wie sich al­les so weit ent­wi­ckel­te, bis ich schließ­lich hier in der Run­de der al­ten Män­ner lan­de­te. Lo­thar be­gann laut zu la­chen und die paar Zahn­stum­mel in sei­nem Mund wa­ckel­ten schon be­denk­lich. Je­der Ein­zel­ne von ih­nen konn­te mich nur zu gut ver­ste­hen. Nils, ein et­was jün­ge­rer Be­woh­ner, ver­drück­te ein paar Trä­nen. Er be­gann mich dar­über auf­zu­klä­ren, dass er, eben­so wie ich die fast glei­che Tor­tur über­ste­hen muss­te. Sein Pro­blem war aber sei­ne Spra­che. Man ver­höhn­te ihn Zeit sei­nes Le­bens als Stot­te­rer. Es war ihm nicht mög­lich, lang­sa­mer zu spre­chen, was dann den Sprach­feh­ler bei ihm aus­lös­te. Drau­ßen wur­de es be­reits wie­der lang­sam hell. An­statt zu schla­fen, hat­ten wir uns in der Run­de an­ge­regt un­ter­hal­ten.

Aber die al­ten Män­ner ver­such­ten auch nicht, mir mei­nen Weg aus­zu­re­den. Sie un­ter­stüt­zen mich eher, mel­de­ten aber ei­ni­ge Be­den­ken an. Ich war noch jung und un­er­fah­ren. Abstrei­ten konn­te ich das schlecht als ju­gend­li­che mit 15 Jah­ren. Sie schlu­gen mir einen an­de­ren Weg vor. Ich soll­te erst ein­mal hier­blei­ben, aber trotz­dem ir­gend­wie mei­ne Schu­le zu En­de brin­gen. Das Le­ben auf der Stra­ße war, be­son­ders in den Win­ter­mo­na­ten nicht ge­ra­de an­ge­nehm und vie­le sind schon dar­an ge­stor­ben. Dar­über hat­te ich mir in mei­nem blö­den Kopf na­tür­lich kei­ne Ge­dan­ken ge­macht. Der Früh­ling hat­te ge­ra­de erst be­gon­nen und dann käme der Som­mer, aber spä­tes­tens im Ok­to­ber wür­de es wie­der emp­find­lich kalt wer­den. Zu­min­dest nachts war es im Spät­jahr nicht ge­ra­de an­ge­nehm. Aber ich hat­te ja mei­ne Schul­sa­chen bei mir, da­mit könn­te ich ja ler­nen, oh­ne in die Schu­le zu müs­sen. Ich woll­te es mög­lichst ver­mei­den, wie­der den gan­zen Tag be­lei­digt zu wer­den, nur weil mich mein ei­ge­nes Ge­schlecht an­zog und mich von ei­ni­gen Psy­cho­lo­gen da­von hei­len zu las­sen.

Wil­fried zeig­te mir dann einen an­de­ren Weg auf. Ich soll­te ein­fach nach den Som­mer­fe­ri­en ei­ne an­de­re Schu­le be­su­chen. Mei­ne neu­en Freun­de wür­den mir da­bei hel­fen. Nils, der un­ge­fähr so alt wie mei­ne Er­zeu­ge­rin war, wür­de sich als mein Va­ter aus­ge­ben und das Auf­nah­me­ge­spräch an der an­de­ren Schu­le be­strei­ten. Al­les, was wir da­für be­sor­gen muss­ten, wa­ren ein paar an­stän­di­ge Kla­mot­ten und ein biss­chen Geld. Dusch­mit­tel könn­te auch nicht scha­den und einen ver­nünf­ti­gen Haar­schnitt warf ich noch in die Run­de. Mei­ne neu­en Freun­de muss­ten la­chen. Es war nicht ein­fach, sei­ne Klei­dung in Ord­nung zu hal­ten und re­gel­mä­ßig zu du­schen, so­lan­ge es drau­ßen noch kalt war. Hät­te mir auch selbst ein­fal­len kön­nen. Lo­thar bot sich an, Nils die Haa­re zu schnei­den. Er konn­te da­mit um­ge­hen und brauch­te nur einen ver­nünf­ti­gen Kamm und eben ei­ne gu­te Sche­re. Die hat­te ich aber zum Glück schon bei mei­nen Schul­sa­chen.

Ich wür­de dann bis En­de der Wo­che nicht mehr in die Schu­le ge­hen, einen Ent­schul­di­gungs­zet­tel schrei­ben, weil ich er­krankt war und dann die­ses Schul­jahr noch über­ste­hen müs­sen. Nur auf die Milch und das Bröt­chen auf dem Pau­sen­hof muss­te ich ver­zich­ten. Ta­schen­geld be­kam ich ja nicht mehr, aber Lo­thar und die an­de­ren wür­den mich schon noch ir­gend­wie er­näh­ren kön­nen. Sie be­ka­men über das So­zi­al­amt einen ge­wis­sen Ta­ges­satz an Geld. Ko­chen war ja in un­se­rer Woh­nung ein­ge­schränkt mög­lich und Wil­fried konn­te auch da­mit ein biss­chen um­ge­hen. Nur muss­te ich das al­les noch Kars­ten bei­brin­gen. Ei­gent­lich woll­te ich ihn ja nach der Schu­le täg­lich be­su­chen und mich mit ihm un­ter­hal­ten. Im­mer­hin war er der Ein­zi­ge, der zu mir hielt und mich nicht ver­ur­teil­te. Das war ich ihm ein­fach schul­dig.

Kars­ten war mir nicht bö­se, wenn ich nicht je­den Tag vor der Schu­le auf ihn war­te­te. Sei­ne ein­zi­ge Fra­ge war, auf wel­che Schu­le ich dann ge­hen wür­de. Das hat­te ich aber noch nicht ent­schie­den und muss­te ihn ver­trös­ten. Ob­wohl er ge­ra­de mal in der ers­ten Klas­se der Grund­schu­le war, ver­stand er mich bes­ser als je­der an­de­re. Der Klei­ne war ein­fach groß­ar­tig. Für die­se ei­ne Wo­che, die ich mir frei­ge­nom­men hat­te, durf­te er sich aber täg­lich auf mei­ne Be­su­che freu­en. Kars­ten freu­te sich je­den Tag aufs Neue, wenn er mich da vor sei­ner Schu­le ste­hen sah. Er war zwar nur der Sohn mei­ner ehe­ma­li­gen Nach­ba­rin, aber in mei­nen Au­gen war er so was wie ein klei­ner Bru­der, der für al­les, was ich mach­te, Ver­ständ­nis auf­brach­te.

Die nächs­te Wo­che be­gann für mich wie­der der blan­ke Hor­ror. Ich ließ Nils ei­ne Ent­schul­di­gung für mein Feh­len schrei­ben und fälsch­te die Un­ter­schrift mei­ner Er­zeu­ge­rin. Mei­ne Leh­re­rin ak­zep­tier­te den Zet­tel nach ei­nem kur­z­en Blick und küm­mer­te sich dann um den Un­ter­richt. In der Zwi­schen­zeit hat­te ich mich in dem Ab­bruch­haus schon ein­ge­lebt. Nur das Wa­schen, mor­gens be­vor ich los­muss­te, war schreck­lich. Ich hat­te zwar das Ba­de­zim­mer für mich al­lei­ne, aber das Was­ser war eis­kalt. Der Früh­ling hat­te ent­schie­den, noch ein biss­chen län­ger auf sich war­ten zu las­sen. Nachts la­gen die Tem­pe­ra­tu­ren nur leicht über dem Ge­frier­punkt und das Was­ser, das in dem Ka­nis­ter im Ba­de­zim­mer stand, könn­te auch im Kühl­schrank ste­hen. Ich ver­zich­te­te aus gu­tem Grund dar­auf, die Haa­re täg­lich zu wa­schen. Auf dem Schul­weg hat­te ich je­des Mal da­nach das Ge­fühl, als wür­den sie mir ab­frie­ren. Al­ler­dings wa­ren mei­ne Män­ner furcht­bar lieb zu mir. Sie ver­such­ten wirk­lich al­les mir die Ta­ge so an­ge­nehm wie mög­lich zu ma­chen.

Wenn ich nach dem täg­li­chen Hor­ror­trip wie­der nach Hau­se kam, stand Wil­fried schon am Herd und hat­te et­was zu es­sen für mich fer­tig. Nils und die an­de­ren spar­ten von ih­rem täg­li­chen Geld vom So­zi­al­amt im­mer wie­der klei­ne­re Be­trä­ge, da­mit ich mir auf dem Schul­hof ei­ne Milch kau­fen und ein­mal in der Wo­che in ei­nem Wasch­sa­lon mei­ne Klei­der wa­schen konn­te. In der frei­en Wo­che war ich noch ein­mal in mei­nem frü­he­ren Um­feld, als mei­ne Er­zeu­ge­rin bei der Ar­beit war. Ich nahm mei­nen Ra­dio­we­cker mit, plün­der­te den Kühl­schrank und such­te mir ein biss­chen Geld zu­sam­men, was sie in ih­rem Schrank ver­steckt hat­te. Au­ßer­dem ge­noss ich ei­ne war­me Du­sche. Wenn ich schon mal da war, konn­te man das auch aus­nut­zen. Dann fiel mir ein, dass ich nur ein Hand­tuch ein­ge­packt hat­te, als ich so über­stürzt ver­schwun­den war. Al­so steck­te ich noch ein paar wei­te­re ein und ließ den Föhn auch noch in mei­ner Ta­sche ver­schwin­den.

Für ein paar Wo­chen ging es uns rich­tig gut. Lo­thar hat­te so­gar ge­nug Geld zu­sam­men­ge­spart, da­mit wir uns einen Was­ser­ko­cher kau­fen konn­ten. Ab da konn­te ich mich vor der Schu­le mit war­mem Was­ser wa­schen und brauch­te die Haa­re nicht aus­zu­spa­ren. Al­ler­dings brauch­ten wir ein biss­chen mehr Geld. Ich konn­te nicht die Män­ner in die Pf­licht neh­men. Sie ta­ten schon mehr als ge­nug für mich. Ich muss­te ih­nen ja auch mal was spen­die­ren. Im­mer­hin leb­te ich ja nur auf ih­re Kos­ten. Ich be­sorg­te mir einen klei­nen Job und ver­teil­te don­ners­tags ei­ne lo­ka­le Zei­tung. Das brach­te auch deut­lich mehr Geld ein als mein frü­he­res Ta­schen­geld und den Ne­ben­ver­dienst als Ba­by­sit­te­rin für Kars­ten.

In den Som­mer­fe­ri­en be­rei­te­ten wir uns auf den Be­such in der neu­en Schu­le vor. Nils hat­te neue Kla­mot­ten, einen ver­nünf­ti­gen Haar­schnitt und war frisch ra­siert. Seit wir ge­nug war­mes Was­ser hat­ten, wu­schen sich auch die Män­ner. Nur Wil­fried ver­zich­te­te dar­auf, das Ba­de­zim­mer zu be­nut­zen. Er hat­te ei­ne an­de­re Mög­lich­keit für sich ge­fun­den. Hin­ter un­se­rem Haus war ver­steckt zwi­schen ei­ni­gen Bäu­men ein Teich. Im­mer­hin war es ja Hoch­som­mer und er be­nutz­te den klei­nen Tüm­pel ein­fach als sei­ne Ba­de­wan­ne. Das Auf­nah­me­ge­spräch mit dem Schul­lei­ter der neu­en Schu­le lief pro­blem­los und nach den Som­mer­fe­ri­en war ich dann mei­ne al­te Schu­le los.

Das Leben der Catharina R.

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