Читать книгу Konzert der Mörder: 11 Strand Krimis - Cedric Balmore - Страница 11

1. Kapitel

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„Hey, sollen wir noch in die Geisterbahn gehen - oder ist das für den großen Big Jimmy DiCarlo unter seiner Würde?“

DiCarlo - ein kleiner, drahtiger Mann um die vierzig mit schwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und hervorspringendem Kinn grinste schief. „Willst du mich auf den Arm nehmen oder was soll das jetzt?“

Die großbusige Blondine an DiCarlos Seite überragte „Big Jimmy“ um einen halben Kopf.

Fünf breitschultrige Männer in dunklen Anzügen sicherten Big Jimmy DiCarlo von allen Seiten ab.

Unter den Jacketts der Bodyguards drückten sich ihre Waffen ab.

„Hey, was ist, Jim?“, fragte die Blonde jetzt und stemmte die Arme in die provozierend geschwungenen Hüften. „Ich habe das ernst gemeint mit der Geisterbahn!“

Sie streckte den Arm aus und deutete auf eine aufblinkende Neonschrift. „Very Loud Screams From Hell“ stand dort. Aus der Außenwand ragten in unregelmäßigen Abständen Knochenhände, die nach den Passanten zu greifen schienen und gerade eine Gruppe von Teenagern zum Kreischen brachte. Jimmy DiCarlo verzog genervt das Gesicht und verdrehte die Augen.

„Francine, das ist doch Kinderkram“, beschwerte er sich.

„Ach, Jimmy!“

„Ja, stimmt doch!“

Insgeheim wusste DiCarlo bereits, dass er verloren hatte. Er konnte Francine einfach nichts abschlagen - selbst wenn das bedeutete, dass sein Image als knochenharter „Captain“ im Syndikat der Marini-Familie aus Little Italy etwas litt, wenn sich herumsprach, dass er sich in einer Geisterbahn vergnügte.

Francine lachte ihn herausfordernd an. Ihre Stimme klang dunkel und verführerisch. „Hör mal Jimmy, wir sind hier in Brooklyn - da kennt dich keine Sau!“

Jimmy DiCarlos Blick wurde durch ihr tiefes Dekolleté abgelenkt und er dachte unwillkürlich: Sie hat eben andere Vorzüge als eine kultivierte Ausdrucksweise. Damit gehörte sie zwar nicht gerade zu der Art von Frau, mit der er vor seinem Onkel Harry Marini, dem gegenwärtigen Chef der Familiengeschäfte, hätte Eindruck machen können, aber solange sich Jimmy DiCarlo nur mit Francine vergnügte und weder beabsichtigte, sie zu offiziellen Familienfeierlichkeiten mitzubringen, noch sie zu heiraten, war das selbst für den Clan-Patriarchen in Ordnung.

„Es ist eine Schande“, fand Jimmy DiCarlo und schüttelte dabei energisch den Kopf, „wusstest du, dass Brooklyn noch in den Fünfzigern fest in italienischer Hand war?“

„Jimmy ...“

„Ist wahr!“

„Du lenkst jetzt nur ab, Big Jimmy.“

„Quatsch!“

„Tust du doch!“

„Heute haben Russen und Ukrainer das Sagen in Brooklyn - abgesehen von den Heights. Aber das kommt auch noch, du wirst sehen!“

In ihren Augen blitzte es.

„Wenn du mich allein in die Geisterbahn steigen lässt, erzähle ich allen, dass Big Jimmy DiCarlo Angst vor Gespenstern hat.“

DiCarlo verzog das Gesicht.

„Mach mich nicht wütend, Baby!“, knurrte er. Aber schon die Art und Weise, in der er das sagte, verriet, dass er es wohl kaum noch schaffen würde, richtig wütend zu werden. „Du weißt, wie zornig ich werden kann!“, meinte er und gab sich Mühe, die Mundwinkel weit genug unten zu halten.

„Du weißt, dass ich es mag, wenn du wütend wirst, Jimmy!“, gab Francine lachend zurück. Ihre makellosen Zähne blitzten dabei auf. Das Haar fiel ihr weit über die Schultern. Mit einer unnachahmliche Geste strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Schon allein für die Art, wie sie das tat, mochte Jimmy DiCarlo sie.

„Du hast das noch nie erlebt, Schätzchen...“

„Ach nein?“

„Nein!“

Jimmy DiCarlos Gesichtsausdruck veränderte sich in diesem Augenblick schlagartig.

Seine Züge erstarrten.

Die Augen wurde unnatürlich groß und traten aus ihren Höhlen hervor. Eine Maske des gefrorenen Entsetzens entstand innerhalb eines Sekundenbruchteils. Er hob die Hand, wie in einer instinktiven Abwehrbewegung.

Mitten auf seiner Stirn bildete sich ein kleiner roter Punkt, der rasch größer wurde. Francine ließ seinen Arm los und stieß einen Entsetzensschrei aus.

Jimmy DiCarlo schwankte noch einen Moment, eher er der Länge nach wie gefällter Baum zu Boden fiel und regungslos liegen blieb. Mit einem dumpfen Laut prallte sein lebloser Körper auf den Asphalt und blieb in unnatürlich verrenkter Haltung liegen.

Die Leibwächter bemerkten erst mit einer Verzögerung von ein bis zwei Sekunden, was geschehen war.

Sie rissen ihre Waffen heraus, duckten sich und stierten suchend in der Gegend herum. Zwei von ihnen beugten sich schützend über ihren am Boden liegenden Boss.

„Scheiße, Mann!“, rief der Größere von ihnen, der in geduckter Haltung neben dem reglos daliegenden Mann kauerte.

Er konnte gerade noch DiCarlos Tod feststellen, bevor es ihn selbst erwischte.

Ein Treffer in den Oberkörper ließ ihn über seinem Boss in sich zusammensacken. Die Kugel ging durch seinen Körper hindurch und riss ein blutiges Loch an der Stelle, an der sie austrat. Der Kleinere der beiden Leibwächter bekam einen Kopftreffer, der ihn augenblicklich tötete.

Ein Angriff aus dem Nichts – ohne auch nur den Hauch einer Abwehrchance.

Francine stand für ein paar Sekunden wie angewurzelt und mit offenem Mund da. Sie wirkte völlig erstarrt und wagte es kaum zu atmen. Der Schock stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben.

Innerhalb weniger Augenblicke sanken auch die anderen Leibwächter getroffen nieder. Noch ehe sie so richtig begriffen hatten, aus welcher Richtung eigentlich auf sie gefeuert wurde, ging ein Ruck durch ihre Körper – wie bei Marionetten die an ihren Fäden aus dem Spiel genommen wurden. Ihre Körper klatschten anschließend leblos auf den Boden. Aus keiner ihrer Waffen war auch nur ein einziger Schuss abgegeben worden, um diesen Angriff abzuwehren.

Eine vollkommen lautlose Attacke.

Kein Schussgeräusch war zu hören. Passanten blieben stehen, realisierten erst mit einer Verzögerung von mehreren Augenblicken, was geschehen war und stoben dann in Panik auseinander.

Schreie gellten mit einer Verzögerung von weiteren Sekunden und pflanzten sich in der Menge fort, wie in einem Dominoeffekt.

Nur Augenblicke später schwoll dieses Schreien zu einem so ohrenbetäubenden Lärm an, dass selbst die stampfende Musik aus den Lautsprechern der Fahrgeschäfte darin unterging.

––––––––




„DA IST ES!“, SAGTE Milo und streckte die Hand aus.

Wir hatten uns sehr beeilt.

Es war später Nachmittag, als Milo und ich den Jamaica Bay Fun Park im Westen Brooklyns erreichten. Er lag auf dem Gelände eines ehemaligen Einkaufzentrums, das sich gegen die harte Konkurrenz nicht hatte durchsetzen können. Ob dies bei den Fahrgeschäften, die jetzt auf dem Gelände am Spencer Drive um Kunden warben, anders sein würde, war höchst zweifelhaft. Als Disneyland für Arme hatten die lokalen Medien den Park schon verspottet, der wahrscheinlich vorwiegend von Familien frequentiert wurde, die im Westen Brooklyns und an den angrenzenden Gemeinden Long Islands wohnten.

Dass sich jemand von außerhalb hier her verirrte, war kaum anzunehmen. Dazu waren die Riesenräder und Achterbahnen, mit denen man sich hier vergnügen konnte, einfach technisch gesehen nicht innovativ genug.

Mein Kollege Milo Tucker und ich mussten den Sportwagen, den uns die Fahrbereitschaft des FBI zur Verfügung stellte, in einer Seitenstraße abstellen und die letzten fünf Minuten zum Tatort zu Fuß gehen. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Sämtliche Zuwege des Parkgeländes waren hoffnungslos verstopft.

„Die letzten Meter sind mal wieder die Schlimmsten“, meinte ich.

„Da heißt es, sich durchkämpfen, Jesse!“, gab mein Kollege Milo Tucker zurück.

Kollegen des New York Police Department versuchten, das Durcheinander aus in Panik geratenen Passanten, die das Gelände so schnell wie möglich verlassen wollten und den Einsatzfahrzeugen der Polizei und des Emergency Service so gut es ging zu koordinieren.

Worum es auf dem Jamaica Fun Park im Groben ging, darüber hatte man uns bereits informiert.

Jimmy DiCarlo, ein Unterboss des Marini-Syndikats, war mit fast einem halben Dutzend Leibwächtern ermordet worden und wir hatten Grund zu der Annahme, dass dies Teil einer größeren Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen des organisierten Verbrechens war. Geldwäsche, Drogen und Waffen – das waren Gebiete auf denen sich die Marini-Familie unseren Erkenntnissen nach geschäftlich betätigte. Und das mit großem Erfolg, denn Marini hatte sich in der Hierarchie der New Yorker Unterwelt schnell nach oben geboxt.

Aber die Konkurrenz schlief nicht.

Insgesamt drei weitere Unterbosse des Marini-Syndikats waren innerhalb der letzten Monate umgebracht worden. Da konnte wirklich niemand mehr an einen Zufall glauben, zumal in allen drei Fällen dieselbe Waffe benutzt worden war.

Es sah ganz so aus, als wäre Jimmy DiCarlo die Nummer vier auf der Liste dieses unbekannten Killers, der in der New Yorker Unterwelt aufräumte.

Fragte sich nur, für wen er das tat. Das Ganze war vermutlich als Teil einer sehr viel umfassenderen Auseinandersetzung unterschiedlicher Syndikate aufzufassen, die sich kompromisslos und bis aufs Blut bekämpften, um die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen.

Die Kollegen der City Police hatten den eigentlichen Tatort weiträumig abgesperrt. Milo und ich wurden gestoppt.

Ich zog meine ID-Card und hielt sie dem Kollegen entgegen.

„Jesse Trevellian, FBI“, stellte ich mich vor. „Dies ist mein Kollege Milo Tucker. Captain Rick Donovan vom 102. Revier hat uns angefordert.“

„Schön, dass Sie da sind. Sie werde schon sehnsüchtig erwartet“, sagte der Officer.

„Wir habe es leider nicht früher geschafft!“

„Kann ich mir denken. Um diese Zeit ist auf den Straßen der Teufel los, wenn man aus Richtung Manhattan unterwegs ist.“

„Das kann man wohl laut sagen!“

Der Officer deutete mit dem Arm und sagte: „Gehen Sie an dem Hot Dog Stand links bis zur Geisterbahn. Da ist es passiert.“

Ich nickte. „Danke.“

Wenig später hatten wir den eigentlichen Tatort erreicht. Außer den uniformierten Kollegen war dort noch etwa ein Dutzend Beamter vom 102. Revier anwesend. Dazu kamen noch die Ermittler der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, dessen Hilfe auch das FBI häufig in Anspruch nahm.

Zwei dunkle Vans des Coroners hatten es irgendwie geschafft, bis hier zu gelangen. Wahrscheinlich würde noch ein dritter Wagen gerufen werden müssen, um alle Leichen abtransportieren zu können.

Uns bot sich ein Bild des Grauens.

Die Toten waren zwar bereits in Leichensäcke eingepackt und zum Transport in die Gerichtsmedizin fertig gemacht worden, aber überall auf dem Asphalt ließen Spuren getrockneten Blutes erkennen, dass hier etwas Furchtbares geschehen war. Kreidemarkierungen zeigten uns, wo sie gelegen hatten.

Captain Donovan war ein rothaariger, etwas korpulenter Mann. Ich kannte ihn flüchtig. Wir waren uns hin und wieder begegnet, als er noch Lieutenant und stellvertretender Leiter der zweiten Homicide Squad des 12. Reviers in Downtown Manhattan gewesen war. Inzwischen war er Captain und hatte die Homicide Squad des 102. Reviers als Chief übernommen, nachdem der vorherige Amtsinhaber Captain Zach Gonella bei einer Schießerei ums Leben gekommen war.

Das war jetzt ungefähr ein Dreivierteljahr her.

„Hallo Jesse!“, sagte er und begrüßte auch Milo. „Nachdem wir die Identität eines der Opfers anhand seiner Papiere festgestellt hatten, war uns gleich klar, dass das ein Fall für euch ist.“

„So?“

„Schließlich gehört DiCarlo doch zum Marini-Syndikat und da liegt ein Zusammenhang dieses Mordfalls mit dem organisierten Verbrechen mehr als nahe.“

Ich nickte. „Jemand scheint systematisch Harry Marinis Unterbosse einen nach dem anderen ausschalten zu wollen“, stellte ich fest.

Er nickte. „Gangsterkrieg. Davon reden alle zurzeit.“

„Ja – und wahrscheinlich sogar erst der Anfang“, mischte sich Milo ein.

„Die Umstände der Tat sprechen für einen Profi-Killer“, meinte Donovan. „Er muss von irgendeinem erhöhten Ort aus in rascher Schussfolge punktgenau getroffen haben. Keiner der Leibwächter konnte sich noch in Sicherheit bringen. Bis wir das Kaliber herausgefunden haben, müsst ihr euch noch ein bisschen gedulden.“

„Ich wette, das Ergebnis deckt sich mit den Fakten, die wir aus den anderen Fällen dieser Serie kennen“, glaubte Milo.

Donovan kratzte sich an den kurz geschorenen roten Haaren seines Hinterkopfs. „Ich nehme an, ihr habt da so etwas wie die Ouvertüre zu einem ausgewachsenen Blutbad am laufen.“

„Das einzige was mich dabei wundert, ist, dass Marinis Reaktion bislang sehr ruhig ausgefallen ist“, gab mein Freund und Kollege Milo Tucker zurück. „Jedenfalls ist uns von einer vergleichbaren Todesrate unter den Mitgliedern der Konkurrenz-Syndikate nichts bekannt.“

Donovan grinste schief.

„Marini mag darauf aus sein, sein Image als sauberer Geschäftsmann zu pflegen und nicht mit diesem blutigen Sumpf in Verbindung gebracht zu werden – aber irgendwann kommt der Punkt, an dem er zurückschlagen muss, wenn er die Autorität in den eigenen Reihen behalten will.“

„Von wo aus wurde geschossen?“, fragte ich. Einen Moment lang wunderte ich mich darüber, wie gut Donovan über Marini Bescheid wusste. Das meiste von dem, was bisher über Marinis Organisation bekannt war, konnte über das Datenverbundsystem NYSIS von alle Polizeieinheiten abgerufen werden – also auch vom Chief einer Homicide Squad in Brooklyn. Schließlich nützte eine noch so gute Bekämpfung des organisierten Verbrechens nichts, wenn diejenigen, die als erste am Tatort waren, den Zusammenhang nicht erkannten, den ein Tötungsdelikt zu bestimmten Bereichen der organisierten Kriminalität hatte. Wiederholt hatten wir vom FBI wertvolle Zeit verloren, weil die Brisanz einer Tat vor Ort nicht schnell genug erkannt worden war.

Donovan konnte man in dieser Hinsicht nun wirklich nicht das Geringste vorwerfen.

Er war mehr als wachsam gewesen und hatte sich erstaunlich gut über die Hintergründe informiert.

Donovan streckte den Arm aus und deutete zu einem zwanzigstöckigen Gebäude hinüber, von dem der Rohbau fertig gestellt war und unmittelbar an das Gelände des Jamaica Bay Fun Parks angrenzte. „Wir nehmen an, dass aus diesem Gebäude da vorne geschossen wurde. Jedenfalls muss es diese Richtung sein.“

Ich warf einen Blick hinüber und kniff die Augen zusammen.

„Muss aber ein guter Schütze gewesen sein – aus der Entfernung!“, stellte ich fest.

„Das sind schätzungsweise vierhundert Meter – falls von einem der höheren Etagen aus gefeuert worden ist - sogar noch mehr“, gab Milo zu bedenken.

„Falls der Kerl ein Scharfschützengewehr verwendet hat, ist das eine ganz normale Distanz“, meinte Donovan. „Und der Killer muss ein Scharfschütze gewesen sein. Die Schüsse folgten sehr schnell aufeinander, das er nur sehr wenig Zeit hatte, um zu zielen. Der Täter brauchte jeweils nur einen Schuss, um DiCarlo und seine Männer zu töten.“

„Das passt ins Muster“, stellte ich fest und wechselte dabei einen Blick mit Milo.

Bei den vorangegangenen Morden an Mitgliedern des Marini-Syndikats war immer dieselbe Waffe verwendet worden. Ein Spezialgewehr vom Typ MK 32, das nur in relativ kleiner Stückzahl hergestellt worden war. Die SWAT-Kommandos einiger Großstädte setzten diese Waffe ein. Außerdem hatte man kurzzeitig erwogen, die MK-23 für Scharfschützen in Spezialeinheiten von Army und Navy anzuschaffen. Böse Zungen behaupteten, dass dies an den besseren Beziehungen der Konkurrenz zum Pentagon gescheitert war.

Jedenfalls ging ich jede Wette ein, dass auch dieser Mord mit derselben MK-23 verübt wurde, mit der auch die vorherigen Morde an Unterführern des Marini-Syndikats begangen worden war.

Eine Bestätigung konnten wir dafür natürlich erst nach Abschluss der ballistischen Untersuchungen erwarten.

„Jimmy DiCarlo befand sich übrigens in Begleitung einer jungen Frau, wie mehrere Zeugen übereinstimmend ausgesagt haben“, berichtete Donovan. „Blond und großbusig. Eine Art fleischgewordener Männertraum. Wir haben ein Phantombild angefertigt“, Donovan seufzte hörbar, bevor er fort fuhr. „Sie ist verschwunden.“

„Mal sehen, wie schnell wir sie finden, wenn wir sie in die Fahndung geben“, meinte ich.

Donovans Handy klingelte in diesem Augenblick. Er sagte mehrfach „ja“ und beendete das Gespräch schließlich wieder. Anschließend wandte er sich Milo und mir zu.

„Das war Lieutenant Grosvenor. Er glaubt, den Standort des Schützen gefunden zu haben.“

„Dann sehen wir uns das doch mal an“, schlug ich vor.

Donovan wies einen seiner Detectives an, ihn kurzzeitig zu vertreten. Dann folgten wir ihm quer durch den Jamaica Bay Fun Park und erreichten schließlich das angrenzende Gelände, auf den der Rohbau des zwanzigstöckigen Gebäudes. Das Gelände war mit einem mannshohen Bretterverschlag abgegrenzt, der mit Plakaten überklebt war. Darunter auch ein Hinweis, dass hier ein Bürohaus errichtet wurde, dessen Mieten im Vergleich zu den Preisen in Manhattan geradezu lächerlich waren.

Die Kollegen der City Police hatten den vernagelten Zugang zum Gelände aufgebrochen. Offenbar wurde hier schon seit einiger Zeit nicht mehr gearbeitet.

„Wusstet ihr, dass Jimmy DiCarlo sowohl am Jamaica Bay Fun Park als auch an diesem Büroturm finanziell beteiligt war?“, fragte Donovan fast beiläufig.

„Rick, man könnte meinen, du wärst diesem DiCarlo seit Jahren auf der Spur“, meinte ich mit einer Mischung aus Anerkennung und Verwunderung. „Du fährst nicht zufälligerweise Doppelschichten und arbeitest nebenbei noch für die DEA oder das FBI?“

Donovan grinste schief. „Dies ist mein Bezirk, Jesse, vergiss das nicht.“

„Verstehe.“

„Und in meinem Revier weiß ich einfach gerne Bescheid. Das ist nun mal so!“

„Ich wusste nicht, dass DiCarlo so viel Kleingeld übrig hatte, um sich Projekte dieser Größenordnung leisten zu können“, gestand ich zu.

„Er wird als Strohmann für Marini tätig gewesen sein“, glaubte Donovan. „Zumindest dieser Fun Park kann unmöglich Gewinne abwerfen, das sieht doch ein Blinder, Jesse. Die Riesenräder und Autoscooter, die man hier sehen kann, gehören doch ins Museum.“

Etwas in der Art hatte ich mir schon gedacht.

„Also ein Geldwäsche-Projekt!“, schloss ich.

„Worauf du Gift nehmen kannst!“ Er seufzte hörbar und fuhr dann fort: „Ich habe es nicht gern gesehen, dass dieser DiCarlo sich hier breit gemacht hat und ich hatte gleich das Gefühl, dass es Ärger geben würde...“

„Na, zumindest DiCarlo selbst ist dazu jetzt nicht mehr in der Lage“, warf Milo ein.

„Warten wir es ab“, knurrte Donovan. „Vielleicht ist ein toter DiCarlo sogar noch schlimmer als ein lebender.“

„Mal den Teufel nicht an die Wand!“, meinte Milo.

Ich konnte mir denken, worauf Donovan hinaus wollte.

Schließlich war anzunehmen, dass DiCarlos Ermordung nur Teil einer viel größeren Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Gangstergruppen war, die wohl ihre jeweiligen Einflusssphären und Märkte neu unter sich aufteilten und dabei offenbar ihre Meinungsverschiedenheiten hatten.

Donovan führte uns in den siebten Stock des Rohbaus. Ein paar in weiße Schutzoveralls gekleidete Kollegen der Scientific Research Division begegneten uns. Zementgeruch hing in der Luft. Frischer Staub bedeckte den Boden.

Einer der SRD-Kollegen kam auf uns zu.

Er hatte lockiges, dunkles Haar. Donovan schien ihn zu kennen und redete ihn mit „Reilly“ an.

„Wir haben einen sehr deutlichen Fußabdruck der Größe 43“, berichtete Reilly. „Das Profil der sehr auffälligen Sohle war sehr gut im Zementstaub erhalten. Allerdings können wir nicht ganz ausschließen, dass es sich nicht um Spuren des Killers sondern eines Bauarbeiters handelt.“

„Tragen die nicht eigentlich Sicherheitsschuhe?“, wandte ich ein.

Reilly nickte. „Die Betonung liegt auf dem Wort eigentlich. Aber viel zu viele halten sich nicht daran – vor allem Aushilfskräfte.“

„Hier wird seit Wochen nicht mehr gearbeitet“, wandte Donovan ein.

„Je nachdem, ob vielleicht gerader ein heftiger Wind durch den Rohbau pfeift, können sich solche Staubspuren durchaus über mehrere Wochen hinweg erhalten“, erwiderte Reilly. „Aber es gibt noch eine wichtigere Spur, die sie sich am besten selbst ansehen.“

Reilly führte uns über einen Korridor in einen großen, kahlen Raum.

Eine etwa einen Meter breite Bahn aus Folie führte zur Fensterfront, von der aus man den Jamaica Bay Fun Park überblicken konnte.

„Bleiben Sie bitte auf der Folie“, wies uns Reilly an. „Wir haben zwar den gesamten Boden fotografiert und gründlich abgesucht, aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir im nach hinein doch noch etwas finden, was von Interesse ist.“

Ich war der Erste, der den Folienpfad beschritt. Etwa einen halben Meter von der Fensterfront entfernt war ein Kreuz auf dem Boden zu sehen.

Es bestand aus sieben Patronenhülsen.

„Ich glaube, da will uns jemand etwas klar machen, Jesse“, raunte mir Milo von der Seite her zu.

Es fragte sich nur, ob wir schon in der Lage waren, diese Botschaft richtig zu deuten.

„Entweder der Kerl ist gläubig oder sehr zynisch“, murmelte Rick Donovan.

––––––––




ZWEI STUNDEN SPÄTER waren wir zu Jimmy DiCarlos letzter Adresse unterwegs. Ich steuerte den Sportwagen gerade über die Manhattan Bridge, die neben der Brooklyn Bridge und dem Brooklyn-Battery-Tunnel eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Manhattan und Brooklyn ist. Unter uns glitzerte der East River im milchigen Licht des Spätnachmittags.

Am Manhattan-Ufer führte die gigantische Brückenkonstruktion über den Elevated Highway. An einem Punkt, an dem sich Bowery, St. James Place und Canal Street treffen, senkte sich die Manhattan-Bridge nieder, nachdem wir mit ihrer Hilfe die südwestliche Hälfte der Lower East Side überquert hatten.

Ich bog mit dem Sportwagen in die Canal Street ein. Little Italy und Chinatown trafen hier aufeinander, wobei Little Italy schon seit Jahren einem Schrumpfungsprozess durchmachte, während sich Chinatown immer weiter Richtung Norden ausbreitete.

Jimmy DiCarlo hatte ein Penthouse Ecke Mulbury/Hester Street bewohnt.

Das Haus, in dem die Wohnung lag, verfügte über eine eigene Tiefgarage, sodass uns die in Manhattan ansonsten meistens ziemlich aufreibende Parkplatzsuche erspart blieb.

Mit dem Aufzug fuhren wir hinauf, nachdem wir uns zunächst mit dem privaten Security Service in Verbindung gesetzt hatten, der im Haus für Sicherheit zu sorgen hatte.

In dem Korridor, der zu DiCarlos Wohnung führte, erwarteten uns zwei schwarz gekleidete Security Guards.

Wir zeigten unsere Ausweise.

Die beiden Guards trugen Namensschilder, wonach sie Gonzalez und Dexter hießen. An der Seite trugen sie Revolver vom Typ Smith & Wesson Kaliber .38 Special, die auch uns vom FBI lange Zeit als Standardwaffe gedient hatte, ehe sie durch die feuerstärkere automatische Pistole P226 der Firma SIG Sauer ersetzt worden war.

„Wir haben leider keine Möglichkeit, das elektronische Schloss zu decodieren“, erklärte Dexter, der größere der beiden Security Guards.

„Ich dachte, das ist aus Feuerschutzgründen Vorschrift!“, meinte Milo.

Dexter zuckte die Schultern.

„Dies ist eine ziemlich exquisite Adresse und da rangieren Mieterwünsche vor irgendwelchen Vorschriften. Tut mir leid, wir werden die Tür aufbrechen müssen, was angesichts der ziemlich aufwendigen Sicherheitstechnik, die hier installiert wurde, nicht so ganz einfach werden dürfte.“

„Immerhin wissen wir, was installiert wurde!“, ergänzte sein Partner Gonzales.

Glücklicherweise hatten wir die Magnetkarte des Opfers bei uns. Die Kollegen der SRD hatten sie aus Jimmy DiCarlos Jackettinnentasche geborgen und gründlich nach Fingerabdrücken untersucht.

Ich nahm die Karte hervor und steckte sie in den dafür vorgesehenen Schlitz.

Die Tür öffnete sich.

Wir traten ein.

Schritten durch einen Korridor in das weiträumige Wohnzimmer, dessen Fensterfronten einem einen phantastischen Panoramablick über Little Italy lieferten.

Ein Geräusch ließ uns zusammenzucken und zur Waffe greifen. Innerhalb eines Augenaufschlags hatte ich die SIG in der Faust.

Die Tür zum Nebenraum – wahrscheinlich dem Schlafzimmer – stand halb offen.

Kein Laut war jetzt zu hören.

Ich bedeutete den Security Guards, die ebenso wie wir ihre Waffe gezogen hatten, ein Stück zurück zu bleiben.

Milo und ich pirschten uns an die halboffene Tür heran.

Wir wechselten einen kurzen Blick. In solchen Situationen verstehen wir uns ohne Worte. Dann weiß jeder, was der andere denkt. Eine besondere Art von Telepathie, wie sie wohl nur bei langjährigen Partnern im Dienst vorkommt.

Milo nickte mir zu.

Ich trat die Tür zur Seite und stürmte mit der Pistole in der Hand in Raum. Innerhalb von Sekundenbruchteilen sondierte ich die Lage. Ein großes Wasserbett, ein ultramoderner Kleiderschrank in Metalloptik, ein Airbrush-Gemälde, das eine nackte Frau zeigte, die auf einem Drachen ritt und das in leicht abgewandelter Form auf den Tanks von ungezählten Harley-Bikern zu finden war.

Auf dem Wasserbett befand sich eine Reisetasche.

Eine weitere Tür führte zum Bad.

Ich schnellte vor, hatte die Badezimmertür im nächsten Moment erreicht und traf dort eine junge Frau mit langen blonden Haaren an.

Ich senkte die Waffe und zog stattdessen meine ID-Card.

„Jesse Trevellian, FBI!“, stellte ich mich vor. „Wer sind Sie?“

Sie schluckte und brauchte wohl erst ein paar Sekunden, um sich vor dem Schrecken zu erholen. Der Beschreibung nach war sie jene Frau, die sich in DiCarlos Begleitung befunden hatte, als auf den Captain in der Organisation von Harry Marini geschossen worden war. Sie trug Jeans, T-Shirt und darüber einen Blouson, der eindeutig für den Outdoor-Bereich gedacht war. Zusammen mit der Reisetasche auf dem Bett legte das den Schluss nahe, dass sie ihre Sachen gepackt hatte und nun gehen wollte. Latexhandschuhe, wie sie in Erste-Hilfe-Sets üblich waren, bedeckten ihre feingliedrigen Hände.

Ich bemerkte einen Eimer mit schaumigem Wasser, auf dessen Oberkante hing ein Lappen.

Offenbar hatte die junge Frau noch einmal alles gründlich saubermachen wollen, bevor sie dieses Penthouse auf Nimmerwiedersehen verließ.

„Mein Name ist Francine Benson“, sagte sie. „Und was tun Sie hier?“, fragte sie. Ihre Haltung entspannte sich etwas. Sie stemmte eine ihrer Hände in die Hüften.

„Jimmy DiCarlo, der Eigentümer dieser Wohnung ist vor wenigen Stunden erschossen worden“ erklärte ich. „Aber ich glaube, das wissen Sie schon.“

„Jimmy?“, fragte sie. „Er ist tot?“ Ihre Stimme klang belegt. Sie schluckte. Aber ich hatte allenfalls das Gefühl, es mit einer drittklassigen Schauspielerin zu tun zu haben. Gesamturteil: Nicht gefühlsecht. Sie machte denselben Fehler wie viele Anfänger. Sie trug einfach viel zu dick auf, als das man ihr hätte glauben können.

Ich sah ihr ins Gesicht.

Sie wich meinem Blick aus.

„Sie waren am Tatort, als es geschah, dafür gibt es mehrere Zeugen“, erklärte ich sachlich und kühl. „Also können Sie mir vermutlich mehr über den Tatverlauf sagen als ich Ihnen.“

Sie erwiderte jetzt meine Blick für einen kurzen Moment und schluckte.

Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie begann zu schluchzen. Ich forderte sie auf, das Bad zu verlassen, was sie auch tat. Dann sank sie auf das Bett und saß dort wie zur Salzsäule erstarrt. Ihr Blick schien ins Leere zu gehen. Sie wirkte apathisch. Ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper.

Milo bedachte mich mit einem tadelnden Blick. „Fass sie nicht so hart an“, schien dieser Blick zu sagen.

Für mich war die Situation im ersten Moment ziemlich eindeutig gewesen. Die junge Frau hatte das Chaos nach Jimmy DiCarlos Ermordung genutzt, um sich möglichst schnell davon zu machen und sämtliche Spuren zu tilgen, die hätten beweisen können, dass sie jemals mit DiCarlo in Beziehung gestanden, geschweige denn, seine Wohnung betreten hatte.

Sie hatte etwas zu verbergen.

Etwas, das sie davon abhielt, sich bei der Polizei oder dem FBI zu melden und von sich aus auszusagen, was sie gesehen hatte.

Möglicherweise war sie eine Prostituierte und da ihr Gewerbe zwar als das Älteste der Welt bezeichnet wurde, im Staat New York aber nach wie vor illegal war, fürchtete sie vielleicht eine rechtliche Verfolgung.

Ich holte tief Luft. Milo bedeutete mir mit einem Handzeichen zu schweigen. Er wollte diese Vernehmung ganz offensichtlich in die Hand nehmen.

Ich zuckte mit den Schultern.

Vielleicht erwies sich mein Kollege ja als sensiblerer Vernehmungsspezialist.

„Hören Sie, wir sind vom FBI und nicht vom Vice Department - wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Ein Ruck ging durch ihren sehr weiblichen und nahezu formvollendeten Körper.

Sie hob trotzig den Kopf.

„Natürlich weiß ich, was sie damit sagen wollen“, gab sie spitz zurück. „Gnädigerweise würden Sie von einer Anzeige wegen Prostitution absehen, wenn ich zu ihrer Zufriedenheit mit Ihnen kooperiere. Das ist es doch, worauf dieses miese Spiel hinausläuft, oder?“

„Nein, ich wollte Ihnen damit eigentlich nur deutlich machen, dass wir an Informationen über Jimmy DiCarlo interessiert sind – und an sonst gar nichts“, erklärte Milo leicht gereizt.

„Ich bin – ich war – Jimmys Lebensgefährtin“, erklärte Francine. „Keine Bordsteinschwalbe von der Bowery. Und wenn Sie mir das nicht glauben, dann sehen Sie sich das hier an!“ Sie griff in ihre Jackentasche und holte eine Magnetkarte für das Türschloss hervor. Ich nahm sie an mich. „Jimmy hätte mir wohl kaum eine Karte für sein Penthouse gegeben, wenn er mich nur für ein paar Dollar von der Straße aufgelesen hätte!“

„Sie waren dabei, als DiCarlo starb“, sagte ich, diesmal etwas ruhiger. Es war eine Feststellung – keine Frage. „Oder müssen wir Sie erst mitnehmen und eine Gegenüberstellung mit dem Betreiber einer Geisterbahn organisieren?“

Sie atmete tief durch. Ihre vollen Brüste hoben und senkten sich dabei.

„Sie haben Recht, Agent...“, flüsterte sie schließlich.

„...Trevellian.“

„Ich bin mit Jimmy durch die Gegend gekreuzt und dann kam er irgendwie auf die Idee, zum Jamaica Bay Fun Park zu fahren.“

„Sie fuhren einfach nur durch die Gegend?“, fragte ich verwundert.

„Ja.“

„Ohne Ziel?“

„Mit Jimmys gelben Ferrari macht das einfach Spaß.“

„Dieser Ferrari wurde am Tatort nicht gefunden.“

„Ich bin damit zurück nach Manhattan gefahren, nachdem...“ Sie zögerte, ehe sie weiter sprach. „...es passiert ist. Ich war völlig fertig und stand unter Schock. In gewisser Weise trifft das immer noch zu. Ich kann das einfach noch nicht wirklich glauben. Plötzlich gehen Jimmy und seine Leibwächter einer nach dem anderen zu Boden. Es ging so verdammt schnell! Selbst seine Männer konnten überhaupt nichts tun, obwohl er immer nur Spitzen-Bodyguards engagiert hat.“ Sie atmete schwer und musste ein erneutes Aufschluchzen unterdrücken. Ihre Lippen zitterten dabei. Sie presste sie aufeinander und fasste sich nach einigen Augenblicken wieder.

Entweder sie hatte das Zeug zum Hollywood-Star, oder ich tat ihr mit meiner Einschätzung ein ziemlich großes Unrecht an und sie war von Jimmy DiCarlos Tod tatsächlich so mitgenommen, wie es den Anschein hatte.

Inzwischen war ich mir da nicht mehr sicher.

„Sie hatten keine Angst, selbst getroffen zu werden?“, hakte ich nach.

„Natürlich hatte ich das! Ich war einen Moment wie erstarrt. Dann ging ich hinter der Geisterbahn in Deckung.“

„Warum sind Sie nicht dort geblieben, bis die Polizei eintraf?“

„Weil...“ Sie brach ab, biss sich auf Lippe.

„Weil Sie schnell genug hier her kommen wollten, um in Jimmy DiCarlos Appartement jegliche Spuren Ihrer Existenz zu vernichten“, vermutete ich. „Darum tragen Sie die Latexhandschuhe. Oder können Sie mir einen anderen, halbwegs plausiblen Grund dafür nennen, dass Sie – kurz nachdem Ihr Lebensgefährte ermordet worden ist! – Ihre Sachen packen und anfingen, das Bad zu reinigen!“

„Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal so unter Schock standen, dass Sie glaubten, Ihr Kopf explodiert. Wahrscheinlich sind Sie durch Ihren Job so abgebrüht, dass es Ihnen nichts mehr ausmacht, wenn sieben Menschen vor Ihren Augen sterben.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich in all meinen Dienstjahren nie an derartige Dinge gewöhnen konnte“, erklärte ich ihr mit großem Ernst. „Ganz gleichgültig, wer auch das Opfer sein mag, ob Männer, Frauen, Kinder, ob Unschuldige oder Schuldige, ob Gangster oder Cops – ein Mord bleibt immer ein Mord und der jeweilige Täter muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“

Sie lachte heiser.

„Es hört sich eigenartig an, wenn Sie das sagen, Agent Trevellian, dann klingt das fast schon überzeugend. Aber die Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus. Ich glaube nicht, dass das FBI wirklich betrübt über den Tod von Jimmy ist! Sie haben ihn mit allen möglichen Verdächtigungen überzogen, ihm aber bis heute nichts nachweisen können, was vor Gericht Bestand gehabt hätte! Wer weiß, es würde mich nicht einmal wundern, wenn es einer Ihrer Leute gewesen wäre, der ihn auf dem Gewissen hat.“

„Das ist doch Unsinn.“

„Sie müssen so reden, Agent Trevellian. Aber noch kann ich sagen, was ich denke.“

„Wir können uns gerne noch einmal darüber unterhalten, wenn wir den Mörder von Jimmy DiCarlo hinter Schloss und Riegel gebracht haben.“

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

Milo wandte sich inzwischen an Dexter und Gonzales und sagte ihnen, dass sie gehen und uns sämtliche noch vorhandene Aufzeichnungen der Videoüberwachung heraussuchen sollten, die in diesem Haus auf sämtlichen Korridoren sowie in den Aufzügen und im Eingangsbereich angebracht waren.

„Wir werden sehen, was wir für Sie tun können, Sir“, versprach Dexter. „Allerdings werden die Aufnahmen in regelmäßigen Abständen gelöscht.“

„Das macht nichts“, erwiderte Milo. „Wenn wir erfahren würden, wer Jimmy DiCarlo in den letzten Tagen besucht hat, wäre das auch schon eine große Hilfe.“

„Wie Sie meinen, Sir.“

Die beiden Wachmänner verließen den Raum.

Ich nahm mir inzwischen die Sporttasche vor, die Francine gepackt hatte. „Haben Sie was dagegen, wenn ich mir die mal ansehe?“

„Ich wette, es hätte ohnehin keinen Sinn, wenn ich mich dagegen sträuben würde, Agent Trevellian.“

„Da haben Sie Recht.“

„Warum fragen Sie dann?“

Ich durchsuchte den Inhalt der Tasche schnell. Es waren ausschließlich persönliche Sachen. Kleidung vor allem. Ein paar Zeitschriften, Socken, Wäsche, ein paar T-Shirts und ein zusammengepferchtes Kleid aus einem Stoff, der das nicht ertrug. Sie hatte zweifellos in sehr großer Eile gepackt. Das war mehr als offenkundig.

Und für diese Eile musste es Gründe geben.

Die junge Frau hob jetzt das Kinn und sah mir geradewegs in die Augen. „Sie wollen also wissen, warum ich mich aus dem Staub machen wollte!“, sagte sie.

„Wenigstens versuchen Sie mir jetzt nicht mehr etwas anderes einzureden.“

„Hören Sie, Agent Trevellian. Ich habe Jimmy geliebt – aber er hatte Geschäftspartner, die ein äußerst unangenehme Auftreten hatten, wenn Sie verstehen was ich meine. Ich wollte keinem von denen begegnen.“

Ich hob die Augenbrauen. „Wollten Sie nicht vielmehr uns aus dem Weg gehen?“

Diesmal begegnete sie meinem Blick.

„Und wenn schon! Bringt es mir Jimmy zurück, wenn ich Ihre Fragen beantworte?“ Ihr Tonfall bekam jetzt eine ungewohnte Schärfe. „Aber wenn irgendjemand von Jimmys Partnern herausbekommt, dass ich mit dem FBI geredet habe, dann fragen die sich gleich, ob ich Ihnen nicht irgendetwas verraten habe, was...“ Sie verschluckte den Rest.

„Was wissen Sie über DiCarlos Geschäfte?“, fragte jetzt Milo.

Francine wandte den Kopf in seine Richtung.

„Das ist es ja. Ich könnte Ihnen noch nicht einmal etwas darüber sagen, weil ich nie etwas davon mitbekommen habe“, behauptete sie. „Das bedeutet allerdings nicht, dass ein paar andere Leute davon überzeugt sein könnten, dass ich sehr wohl etwas darüber weiß und an die Cops verraten könnte.“

Milo hob die Augenbrauen. Er gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen. „Und das sollen wir Ihnen wirklich glauben?“, fragte mein Kollege.

„Warum denn nicht? Jimmy hat mir nichts gesagt und ich habe auch nicht gefragt. Es reichte mir völlig, zu wissen, dass Jimmy jemand war, der die Taschen immer voller Geld hatte.“ Tränen rannen ihr über das Gesicht und ließen ihr Make-up schon wenig später wie ein Aquarell aussehen.

„Haben Sie eine Ahnung, wer ein Motiv gehabt haben könnte, Mister DiCarlo umzubringen?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

„Da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen“, behauptete sie.

Wahrscheinlich wollte sie uns auch gar nicht weiter helfen. Es fragte sich nur, ob das daran lag, dass sie selbst etwas mit dem Mord zu tun hatte oder ob sie wirklich Angst vor DiCarlos Familie hatte.

Ich schloss ihre Tasche und gab sie ihr. „Sie können gehen, aber wir brauchen Ihre Aussage noch schriftlich. Melden Sie sich in den nächsten Tagen im FBI Field Office New York. Kennen Sie das Bundesgebäude an der Federal Plaza?'

„Um ehrlich zu sein, war ich noch nie dort, aber ich werde es schon finden.“

„Wo können wir Sie erreichen?“

„Bei meiner Schwester. Ich gebe Ihnen die Adresse!“

„In Ordnung.“

Milo holte einen Notizblock hervor und reichte ihn ihr.

Sie war zunächst etwas unschlüssig und streifte dann die Latexhandschuhe ab und warf sie in einen Papierkorb. „Ich bin gegen die Putzmittel allergisch“, meinte sie, so als glaubte sie, unbedingt noch erklären zu müssen, weshalb sie diese Handschuhe benutzt hatte.

Anschließend nahm sie den Block und schrieb darauf mit zierlicher Handschrift die Adresse und Telefonnummer ihrer Schwester auf.

Ich überprüfte die Telefonnummer.

Eine gewisse Tyra Benson bestätigte mir, eine Schwester namens Francine zu haben. Ich gab das Handy an Francine weiter.

Diese kündigte an, gleich bei ihr einzutreffen und für ein paar Tage zu bleiben. Was ihre Schwester sagte, konnte ich natürlich nicht verstehen. Aber Francine sagte zweimal: „Später... Nein, später...“ Ich konnte mir schon denken, was da los war. Solange ich zuhörte, wollte sie auf die bohrenden Fragen ihrer Schwester offenbar nicht antworten und ich hatte mehr als nur ein unbestimmtes Gefühl, dass es sich mit Jimmy DiCarlos schöner Freundin so verhielt wie mit der berühmten Spitze eines Eisberges, von dem neun Zehntel unter der Wasseroberfläche verborgen blieben.

„Tja, das wär's dann“, meinte Francine anschließend.

„Wir werden uns sicher noch wiedersehen.“

„Soll das ein Versprechen oder eine Drohung sein?“

„Das hängt wohl ausschließlich von Ihnen ab.“

„Wie auch immer...“

Anschließend hatte es Francine ziemlich eilig, zu verschwinden.

Milo machte keine Hehl daraus, dass er unzufrieden mit mir war. „Warum hast du sie so hart angefasst, Jesse?“, fragte mein Kollege, nachdem Francine Benson das Penthouse verlassen hatte.

„Das fragst du im Ernst?“

„Ja!“

„Weil sie uns von vorne bis hinten angelogen hat, Milo. Das sieht doch ein Blinder! Leider haben wir nichts in der Hand, um sie festzuhalten. Einen Putztick zu bekommen, nachdem der Lebensgefährte erschossen wurde, ist leider kein Straftatbestand!“

Milo atmete tief durch. „Jesse, vielleicht stand sie nicht ganz so sehr unter Schock, wie sie versuchte uns vorzumachen...“

„Sie sollte es als Nebendarstellerin bei einer Soap versuchen!“, unterbrach ich meinen Kollegen.

„...und sehr wahrscheinlich hat sie alles so schön geputzt, um unseren Befragungen zu entgehen. Aber wenn sie tatsächlich ein Edel-Callgirl ist, so wie ich vermute, dann hat sie auch allen Grund dazu.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, da muss mehr dahinter stecken.“

„Und was schwebt dir da bitte schön so vor?“, fragte Milo.

„Überleg doch mal! Jemand muss gewusst haben, dass Jimmy DiCarlo im Jamaica Fun Park auftauchen würde. Schließlich hat der Killer im siebten Stock des Büroturms nur darauf gewartet, dass DiCarlo auftauchte.“

„Du denkst, dass diese Francine ihn dort hingelockt hat.“

„Natürlich, Milo!“

„Sie selbst hat es genau umgekehrt dargestellt!“, gab Milo zu bedenken.

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das würde ich an ihrer Stelle auch so machen“, erwiderte ich. „Tatsache ist jedenfalls, dass der Besuch des Jamaica Fun Parks kein spontaner Plan gewesen sein kann. Zumindest der Killer hat jedenfalls vorher davon gewusst, dass sich für ihn eine Gelegenheit ergeben würde, Jimmy DiCarlo umzubringen. Das dürfte anhand des Tatablaufs wohl feststehen.“

„Angesichts der Größe des Geländes kann man sich sogar fragen, ob der Killer nicht sogar genau wusste, dass Big Jimmy eine ganz gestimmte Geisterbahn aufsuchen würde“, ergänzte Milo. „Aber wir können Francine Benson bis auf weiteres einfach nicht beweisen, dass sie es war, die DiCarlo dorthin gelockt hat, damit irgendein Profikiller ihn und seine Leute über den Haufen schießen kann. Zumal es auch noch andere Gründe für ihn gegeben haben könnte, im Jamaica Bay Fun Park vorbeizuschauen.“

„Du meinst, er wollte sehen, was seine Geldwaschanlage so macht?“

„Wäre doch auch möglich, oder?“

„Ich weiß nicht.“

„Alte Ermittlerweisheit: Keine Ermittlungsrichtung vorschnell ausschließen.“

„Ich kenne da eine noch Ältere!“

„Ach, ja?“

„Alles ausschließen, was unwahrscheinlich ist, und das was übrig ist muss die Wahrheit sein. Und ich glaube, die Möglichkeit, die du gerade genannt hast, klingt einfach nicht besonders einleuchtend.“

––––––––




WIR DURCHSUCHTEN DIE Wohnung und forderten außerdem noch Unterstützung der Spurensicherung an.

Da die Kollegen der Scientific Research Division im Moment mehr als überlastet waren und sich die Untersuchungen rund um den Jamaica Bay Fun Park mit Sicherheit noch den Rest des Tages hinziehen würden, kamen in diesem Fall unsere eigenen Erkennungsdienstler zum Einsatz. Es handelte sich zum einen um Special Agent Sam Folder.

Er wurde begleitet von Agent Mike Roth, einem Computerspezialisten, dessen Aufgabe es war, den Rechner genauer unter die Lupe zu nehmen, den wir in DiCarlos Penthouse gefunden hatten.

Insgesamt fand sich so gut wie nichts in der Wohnung, was uns irgendwie weitergebracht hätte. Die Wohnung wirkte so steril, als wäre sie in letzter Zeit unbewohnt gewesen. Francine hatte offenbar ganze Arbeit geleistet.

Agent Roth fand heraus, dass Jimmy DiCarlo offenbar seinen Rechner hauptsächlich zur Teilnahme an Online-Rollenspielen benutzt hatte.

Auffällig war, dass offenbar eine Email gelöscht worden war, wie Roth herausfand.

„Und zwar zu einer Zeit, als Jimmy DiCarlo schon tot und Francine Benson höchstwahrscheinlich allein in dieser Wohnung war!“, berichtete unser Computerspezialist. „Festplatten sind wie Elefanten, sie vergessen so gut wie nichts.“

„Einen Grund, um sie noch mal zu befragen, hätten wir also schon“, meinte Milo.

Eine halbe Stunde später stießen wir auf einen Safe, der in die Wand eingelassen war und die Geschäftsbücher einer Im- und Exportfirma in der Nähe des alten Navy Yards enthielt, an der DiCarlo beteiligt war. Ich blätterte die Abrechnungen kurz durch. Darum würde sich Agent Nat Norton, unser Fachmann für Betriebswirtschaft kümmern müssen. Aber schon bei der oberflächlichen Durchsicht fielen mir die Abrechnungen über eine ganze Schiffsladung von Kinderkarussells, Achterbahnen und anderen Fahrgeschäften aus. Es musste sich um eine gewaltige Ladung handeln, von der jetzt der größte Teil wohl auf dem Jamaica Bay Fun Park in Aktion zu bewundern war.

Zwei Dinge waren merkwürdig.

Einerseits erschien mir der Preis sehr gering - aber da ich von diesem Markt nicht den Hauch einer Ahnung hatte, musste ich da erst einmal selbst schlau machen.

Die zweite Merkwürdigkeit war die Herkunft der Ware.

„Milo, hast du schon mal gehört, dass Spielgeräte für einen Vergnügungspark aus Usbekistan importiert werden?“

„Ich wusste gar nicht, dass man da so etwas überhaupt herstellt“, gab Milo zurück.

„Genau das meine ich. Und ausrangierte Geräte, die man nochmal flott machen kann, gibt es doch auch bei uns in den Staaten viel leichter zu besorgen, als ausgerechnet in der Steppe Zentralasiens!“

„Nur keine Vorurteile“, erwiderte Milo. „Kasachstan zum Beispiel soll sich erst vor ein paar Jahren eine ultramoderne neue Glitzer-Hauptstadt mitten in der Wildnis geleistet haben, wie ich in der New York Times gelesen habe. Ein Ort, der sicher auch einen Vergnügungspark bekommen hat.“

Irgendwie passten in diesem Fall ein paar Dinge einfach nicht so zusammen, wie es hätte sein sollen. Der Grund dafür war eigentlich immer derselbe: Wir wussten noch nicht alles. Wesentliche Informationen fehlten und dann ist es unausweichlich, dass man zu falschen Schlüssen kommt.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Krabben, die vor Labrador gefangen und auf dem Fish Market von New York verkauft werden, schickt man vorher nach Mexiko, um die Schalen entfernen zu lassen“, meinte ich. „Warum sollten also die Geräte eines Vergnügungsparks in Queens nicht aus Zentralasien kommen?“



Konzert der Mörder: 11 Strand Krimis

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