Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 10

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Es hat mich in den Park gezogen, zwischen die zwitschernden Vögel und sich wiegenden Bäume. Man wirft mir schiefe Blicke zu. Die Menschen hier erkennen mich. Sie wissen um jede Schlagzeile, die mir zu Ehren verfasst wurde. So dreckig und verlogen sie auch sein mag. Für diese Menschen bin ich noch immer Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Für Antons behandelnden Ärzte? Nichts weiter als eine unwillkommene Stimme am Rande. Die Frustration darüber zerfrisst mich.

Auf der Bank neben mir spielen zwei Kinder Schach. Das Bein von dem Kleineren steckt in einem Gips, der sich bis zu dem Knie zieht. Es kann nicht allein gehen, nicht einmal stehen ohne Hilfe. Aber es lacht. Über das Schachfeld wehen winzige Flocken. Schnee? Asche. Der Verletzte lacht erneut und schnippt die Asche fort. Eine gewöhnliche Geste an einem gewöhnlichen Tag.

Die Asche kehrt zurück. Sie schmiegt sich an die Schachfiguren, als würde sie davon angezogen. Irgendwann hören die Kinder auf zu schnippen. Sie ignorieren das Spektakel und spielen weiter. Figuren werden vom Feld genommen. Springer werden gestohlen, Läufer fortgeschoben, Bauern von der Königin zerstampft. Die beiden amüsieren sich. Je länger ich zusehe, desto angespannter werde ich. Trotz des warmen Sonnenscheins ist mir eiskalt. Ein entspanntes Spiel.

Ich brauche eine Flasche guten Wein. Weit und breit ist kein Angestellter zu sehen. Angespannt schließe ich die Augen und presse die Lippen fest aufeinander. Riecht es nach Vanille? Der bloße Geruch schnürt mir die Kehle zu. Nein, kein Wein, Bourbon. Damit ich die verdammte Vanille wieder positiv besetzen kann.

„Ich habe deinen König“, ruft das vergipste Kind. „Schach Matt!“ Die Asche löst sich von den Figuren und wirbelt davon. Wie Flocken einer gerauchten Zigarre. Schaudernd erhebe ich mich. Das Gras fühlt sich weich unter meinen Füßen an. Wie ein luxuriöser Teppich. Ich werde veranlassen, einen meiner Räume damit ausstatten zu lassen.

„Wo finde ich die Angestellten dieses Krankenhauses?“, frage ich eine ältere Dame, die vorn über gebeugt in ihrem Rollstuhl sitzt, das Gesicht neutral und die dicken, weißen Haare auf dem Hinterkopf provisorisch zusammengesteckt. Meine Frage ist ihr lediglich ein raues Lachen wert.

„Finden Sie nicht“, krächzt die Dame und versucht sich aufzurichten. Ein lautes Knacken hallt durch den Park. Seufzend lässt sie den Kopf wieder sinken. Die Arme hängen kraftlos an ihren Seiten hinab, fast als versuchten sie, sich dem Boden entgegen zu strecken und dort einen Gegenstand aufzuheben, während ein Faden an ihrem Nacken sie in die Höhe zieht. „Fallen Sie einfach hin und rufen Sie Hilfe. Dann kommen sie schon.“

Ich werde mich nicht weiter vor diesen Menschen erniedrigen. Sollte ich am morgigen Tag meinen Namen googeln, werde ich bereits zahlreiche Artikel finden, die darauf hinweisen, dass ich mich von einem Kranken habe des Raumes verweisen lassen. Da benötige ich kein Foto, wie ich auf dem Boden liegend, um Hilfe bettle. Das habe ich in letzter Zeit ohnehin zu oft getan.

„Sie sind doch dieses Aktionärsmädchen“, fährt die alte Dame fort. „Die blonde Prinzessin. Was verschlägt Sie an einen Ort wie diesen?“ Sie lallt schwer und macht einen depressiven Eindruck, wie sie so in ihrem Rollstuhl hängt, mehr schlecht als recht, und die Augen leer auf ihre Knie gerichtet hat. Die Wirbelsäule ist aufs Furchtbarste verformt. Diese Frau wird nie wieder aufrecht gehen können.

„Nichts.“

„Sie sind aber hier.“ Mühsam dreht die Alte den Kopf. Eine dünne, schneeweiße Strähne fällt ihr in das Faltengesicht. Ich glaube, ihre unwirklich klaren, veilchenblauen Augen für einen Moment sehen zu können, bevor sie dem Druck ihres Körpers nachgibt und wie ein überspanntes Gummi zurück in ihre Ausgangsposition zuckt.

„So könnte man sagen.“ Ich setze mich auf die Bank neben ihr, nur weg von dem alleingelassenen Schachbrett. Die Figuren ruhen im Gras, beinahe verschlungen von den frischen, grünen Halmen. Ein Springer reckt hilfesuchend den Kopf in die Luft, als wolle er nicht in dem Grün ertrinken. Ein Bauer streckt sich der Sonne entgegen. Verlorene Gestalten. Nur vier Figuren stehen noch auf den weiß-schwarzen Feldern. Eine Königin, ein König, ein Springer und ein einsamer, schwarzer Bauer, die Arme entschlossen vor der Brust gekreuzt.

„Nicht sehr gesprächig“, murmelt die Frau und kratzt sich mühsam am Hinterkopf. Jede ihrer Bewegungen ist seltsam zuckend, fast als hätte sie ihren Körper nicht länger unter Kontrolle. Nachdenklich beobachte ich sie. Sie erinnert an ein kleines Kind, das erst noch lernen muss, mit seinen Gliedmaßen umzugehen. „Ich erzähle niemandem mehr etwas. Habe ja keinen mehr. Schau, Mädelchen, ich bin ganz alleine hier und niemand spricht mit mir. Ich bin die Alte, die nicht mehr laufen kann. Zu mir würde niemand kommen und mich nach dir fragen.“ Das klingt wahrscheinlich. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Obwohl nichts diesen Wunsch rechtfertigt, möchte ich über dieses Desaster sprechen. Über alles. Über Anton, den Abend, den Grauen Mann. Über mehr als alles. Meine Berater würden mir den Kopf abreißen, aber letzten Endes liegt die Entscheidungsgewalt bei mir. Obwohl die jüngere Zeit bewiesen hat, dass ich selbstständiges Handeln vermeiden sollte.

„Würde man uns bei einem Gespräch ablichten, wären Sie plötzlich von größtem Interesse“, sage ich kühl und halte weiter nach der weißen Uniform der Krankenschwestern Ausschau. Mehr Birken als Menschen. Ich hätte nicht übel Lust, einen Anklagepunkt gegen dieses Krankenhaus formulieren zu lassen und den Geschäftsführer und seine ignoranten Oberärzte zu entfernen.

„Ich bin doch stumm“, sagt die Alte. Ich sehe sie skeptisch an. Mühsam versucht sie, meinen Blick zu erwidern. Keuchend beendet sie ihre Bemühungen. „Seien Sie froh, dass Sie noch jung und gesund sind, Mädelchen, mit dem Alter kommen die Schmerzen. Ich kann nicht einmal mehr den Rücken gerade halten, schau.“

„Sie sind nicht stumm“, spreche ich das Offensichtliche aus. „Bin ich doch“, murrt die Frau. „Ich sage zu niemandem etwas. Ist man stumm, muss man nicht zu den Bingoabenden. Bin stumm und taub. Ist besser so. Ich bin zu alt, zum Kastanientierbasteln. Hier draußen ist es schöner, schau.“ Sie sieht kaum mehr als ihre Knie. Ich beiße mir auf die Zunge und lehne mich entspannt zurück.

„Ich müsste Sie unter normalen Umständen eine Verschwiegenheitsklausel unterzeichnen lassen.

„Ich kann nicht mehr schreiben. Die Hände sind so taub.“ Sie hebt sie wie eine Puppe. Die Handflächen zeigen schlaff nach unten. „Aber ich bin alt und halte mein Wort. Sag schon, Mädelchen, was treibt eine Prinzessin in dieses alte Krankenhaus?“ Ich schlage die Beine übereinander. Das orange Kleid bauscht sich über meinen Beinen auf und lässt einen wärmenden Lufthauch meine Haut hinaufwandern.

„Ein guter Freund“, sage ich schließlich.

Als ich schweige, versucht sie wieder den Kopf zu heben. Schnaufend dreht sie den Rollstuhl so, dass sie an der einen schneeweißen Strähne vorbeilinsen kann. „Warum bist du nicht bei deinem Freund, Mädelchen? Das macht man so, schau.“

„Er verlangt meine Abwesenheit.“ Ich versteife mich. Das ist die geschönte Formulierung der eigentlichen Tatsachen. Anton will mich nicht sehen. Er weigert sich, Zeit mit mir zu verbringen. Was hat der Graue Mann ihm eingeflüstert, dass er sich nun von mir fernhalten will? Hat er Anton gedroht, ihn zu töten, wenn er sich mir nähert? Oder mir Leid anzutun?

„Streitereien sind gut. Dann lernt man“, sagt die Alte. Ich ziehe nur eine Augenbraue nach oben und lasse die Sonne auf mein Gesicht scheinen. Sie ruiniert meinen Teint. Ich habe bedeutendere Probleme. Meine Visagistinnen werden jeden Anflug von unangemessener Bräune mit Leichtigkeit verschwinden lassen können.

„Es ist kein Streit, vielmehr ein Abschied.“

„Warum gehst du dann nicht einfach, Mädelchen? Prinzessinnen warten nicht in einem Krankenhaus.“ Nein, tun sie wohl nicht.

„Ich bin Aktionärin. Sobald etwas profitabel sein kann, lasse ich es nicht aus den Augen.“ Es fühlt sich an, als würde ich mit diesem letzten Satz alles verraten, was Anton und ich behüteten. Aber hat er nicht damit begonnen, indem er mich des Raumes verwies?

„Freundschaft ist nie profitabel“, schnaubt die Alte. „Schau, ich hatte auch einen guten Freund. Einen bösen Freund. Er war immer an meiner Seite, selbst als ich alt und hässlich wurde.“ Sinnierend starrt sie auf ihre schneeweiße Strähne, die schlaff aus der halbherzigen Hochsteckfrisur hängt. „Ein böser Freund“, fährt sie fort. „Aber geliebt hat er mich, ja, das hat er, Mädelchen.“

„Der, von dem ich spreche, er liebt mich nicht mehr.“

„Ihr Verlobter?“ Der Kopf der Dame zuckt höher. „Ist es Ihr Verlobter? Sind wir denn wieder bei der Zwangsheirat angelangt?“

Ich lache trocken auf. „Nein, sind wir nicht. Ich heirate ihn aus freien Stücken und er ist momentan gänzlich irrelevant.“ „Ach.“ Sie reibt mit den Händen in schwammigen Bewegungen über ihre Oberschenkel. Alles an ihr wirkt ungelenk und unbeherrscht. „Erzähl mehr. Ich habe so lange keinen Tratsch mehr gehört, es fühlt sich wie ewig an. Kennen Sie das? Wenn sich etwas wie ewig anfühlt?“

„Ja.“ Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, seitdem Anton mich das letzte Mal in den Armen gehalten hat. Seitdem ich stolz auf eine Entscheidung sein durfte, die ich getroffen habe. Es muss ewig her sein, seitdem ich mit Leichtigkeit einen Vertrag unterzeichnet habe, der auf dem Rücken Tausender lastet, mir jedoch mein neuestes Collier als Bonus ermöglicht. „Ja, das weiß ich.“

„Warum bist du hier, Mädelchen?“, fragt mich die Alte erneut. Ich schließe die Augen, fühle nur in die sanften Strahlen der Sonne hinein und bilde mir ein, dass sie sich in meine Knochen und meinen Geist legt und mich lebendig werden lässt. Auf die gleiche Art und Weise, wie Anton mir vor Ewigkeiten die Luft zum Atmen gegeben hat.

„Gelb ist die Sonne schön“, seufzt sie schließlich. „Orange macht sie einen krank. Kennen Sie Bilder der orangen Sonne?“ Stumm schüttle ich den Kopf. Lediglich Erzählungen, die für mich gänzlich irrelevant sind. „Sie war so kalt, können Sie sich das vorstellen?“ Ich zucke die Achseln. Diese hier wärmt, das ist alles, was zählt.

„Ist Ihr Freund auch hier?“, frage ich die alte Dame. Sie muss einmal schön gewesen sein mit ihren feinen, faltenbedeckten Gesichtszügen und den langen Wimpern, den vollen Lippen und den hellen, klaren Augen. Die Zeit frisst auch das letzte noch, was uns bleibt.

Langsam und gequält schüttelt sie den Kopf. „Lange schon nicht mehr. Als wir alt waren, da hat sein Vater ihn zu sich geholt, Mädelchen. Muss den Spieler vorbereiten.“ Sie seufzt schwer. „Schau, er hat mich so geliebt, dass er alles dafür getan hat, dass ich sterbe, wenn ich tot bin.“ Ich beginne den Grund zu verstehen, aus dem sie vorgibt zu schweigen. Kaum, dass sie den Mund öffnet, scheint sie den Verstand verloren zu haben.

„Sein Vater hat ihn geholt? Gott meinen Sie?“, frage ich skeptisch. Ich meine zu sehen, wie ihre Augenbrauen zusammenrücken.

„Nicht doch, nicht doch. Er war nicht göttlich, aber er hat mich geliebt. Liebt Sie Ihr Verlobter?“

„Ja.“ Eine Meise schwebt zu uns hinab. Kurz vor mir biegt sie ab und lässt sich auf das Schachbrett fallen. Leise kratzen die Füßchen darüber. Fröhlich hackt sie in alle Richtungen, bis der König strauchelnd zu den anderen Figuren ins Gras fällt.

„Ich hasse Schach“, murmelt die Alte.

„Ich bin grandios darin.“ Mutter hat es oft mit mir gespielt, als ich jünger war. Die Dame muss immer und zu jeder Zeit den Überblick behalten. Sie muss dem König den Rücken stärken und nur durch die klügsten Züge ist das möglich. Sie behauptete stets, unser Leben hätte viel mit diesem Spiel gemeinsam. Schlage ich sie auf dem Schachbrett, werde ich das auch im echten Leben tun. Bis heute liegt ihre Siegerquote über meiner, aber ich war eine eifrige Schülerin. „Dann wird er Sie als Figur lieben.“

Verständnislos sehe ich sie an. „Pardon?“

Die Alte rollt mühsam ihren Stuhl neben mich und lehnt sich ächzend zu mir. Ich erwarte den Gestank alter Leute zu riechen, stattdessen haftet kein Geruch an ihr. Als wäre sie nicht hier.

„Der Vater meines Freundes“, seufzt sie. „Ein grausames Wesen. Ein Leben ist ein Spiel und sein Spiel sein Leben. Nicht einmal mein Corell hat ihn verstanden.“

„Corell?“

„Mein böser, geliebter Freund.“ Sie versucht ihre Finger miteinander zu verschränken und scheitert kläglich. Schlaff fallen die Arme wieder auseinander, als zöge ein trotziges Kind an den Fäden. „Sein Vater ist die grausame Seite des Sterbens. Bist du tot, holt er dich. Lebst du, jagt er dich.“ Sie lacht heiser auf. Das Geräusch gleicht einem keuchenden Husten. „Und dieser Vanillegestank. Von Tag zu Tag verfolgt er mich noch hier. Verflucht mich, dass ich seinem Sohn den Kopf verdreht habe. Hat mir vor zwei Jahren den Rücken gebrochen, schau. Ist nie wieder ganz geworden.“

Gebrochen? Meine Gedanken wirbeln. Mir wird übel. Sollte Anton etwas ähnliches angetan werden? Ich erinnere mich daran, dass eine Schwester von einigen Frakturen an der Wirbelsäule sprach.

„Vanillegestank?“ Ich bin heiser. Eine Frau in weißer Uniform kommt auf uns zu. Die Alte nickt schwankend und krallt sich an den Rädern des Rollstuhls fest. Ein wenig Kontrolle kommt in ihren Körper, dann knicken die Arme wieder weg und sie baumelt kraftlos hin und her. Ein Pendel, das sich erst beruhigen muss.

„Ein grausamer Mann. Grau ist er, als hätte er nie die Sonne gesehen. Verrückt ist er. Das sage ich Ihnen. So verrückt.“

„Haben Sie einen Namen?“

„Viele.“ Mühsam reckt die Alte sich. Als sie die Krankenschwester sieht, fällt sie demonstrativ wieder in sich zusammen. Wortlos und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, legt die junge Frau die Hände auf den Rollstuhl der alten Dame und will sie fortschieben.

„Entschuldigen Sie bitte.“

Sie dreht sich zu mir um. Als sie mich erkennt, wird sie blass und lässt die Hände sinken. „Misses … Miss Clark, was für eine Ehre Sie hier begrüßen zu dürfen. Darf ich Ihnen etwas bringen?“ Ihr Blick huscht zu der älteren Dame. „Ich muss sie nur zum Essen fahren. Sie würde verhungern, wenn ich das nicht täte, nicht wahr, Lucinda?“ Die Alte rührt sich nicht. Stur starrt sie auf ihre Knie. Ebenso gut hätte die Angestellte schweigen können. Die Schwester räuspert sich. „Die werte Dame ist taub und stumm. Bitte entschuldigen Sie, wenn sie Sie belästigt haben sollte. Ich entferne sie sofort, Miss Clark.“ Diese Krankenschwester ist ein klassisches Beispiel einer hübschen, perspektivlosen Frau, die sich für die Altenpflege entschieden hat. Ein gutes Herz für alte Menschen, das sich von Jahr zu Jahr zunehmend verflüchtigt. Sie hat die braunen Haare äußerst sorgfältig nach oben gesteckt. Ich erinnere mich zu gut an die Frisur. Ich trug sie in einer Parfumwerbung. Diese Frau vergöttert mich. Ich könnte sie zu allem bewegen, was in ihrer Macht liegt. Das mag bedeuten, dass ich noch immer nicht zu Anton kann, aber wenigstens dieses Gespräch möchte ich beenden dürfen.

Als ich schweige, steigt ihr die Röte in die Wangen und sie neigt den Kopf, während sie nach dem Rollstuhl greift, um die ältere Dame davonzuschieben. Ich räuspere mich. Sofort habe ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Aufgeregt sieht mich die Krankenschwester an. „Ja, Miss? Kann ich etwas für Sie tun? Möchten Sie ein Wasser haben? Ich kann Ihnen aber auch einen Himbeersaft empfehlen, der ist noch besser. Oder… oder eine Obstplatte? Ich könnte Ihnen auch …“

„Bitte lassen Sie die Dame hier und bringen Sie mir einen Bourbon“, unterbreche ich sie mit einem freundlichen Lächeln.

Ihr Blick flackert nervös. „Ich darf hier keinen Alkohol servieren und Lucinda muss zum Essen. Sonst bekomme ich Ärger.“

„Würde es Sie den Job kosten?“, erkundige ich mich angelegentlich.

„Nein, natürlich nicht!“

„Gut.“ Ich entknote die Beine und stehe auf. Sie ist mindestens fünf Zentimeter kleiner als ich. Dabei trage ich bereits flache Schuhe. „Lassen Sie die Dame bitte hier und bringen Sie mir einen Bourbon. Im Wasserglas, bis oben gefüllt.“

Verzweiflung breitet sich auf dem Gesicht der Angestellten aus. „Miss, Sie verstehen nicht. Es ist mir nicht erlaubt. Ich bekomme wirklich großen Ärger.“

„Von mir erhalten Sie ein gemeinsames Foto und eine Unterschrift darauf. Außerdem dürfen Sie Ihrer Leitung gern mitteilen, dass Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark diese Wünsche äußerte und nur durch Ihr Entgegenkommen, Miss, davon absieht, dieses Krankenhaus ungeniert als solches Laientheater zu deklarieren, was es zu sein scheint. Falls die Leitung den Grund für meinen Unmut erfahren möchte, ist sie gebeten, sich bei ihren Oberärzten zu erkundigen. Wären Sie so gut, Miss?“ Ihre Augen sind kugelrund geworden. Mit zittrigen Beinen schiebt sie die alte Dame zurück neben meine Bank in den Sonnenschein und holt mit zittrigen Fingern ihr Smartphone hervor.

„Ich darf wirklich ein Foto mit Ihnen machen? Und ich bekomme ein Autogramm?“, haucht sie. Ich beäuge ihre Hochsteckfrisur. Sie ist in sich nicht gut genug gedreht. Vor dem gleichen Problem standen wir kurz vor dem Dreh der Werbung. Wenn man zu lockerlässt, wirken die Haare stumpf.

„Und außerdem einen Ratschlag, wie Sie ihre Frisur perfektionieren“, füge ich hinzu.

Die Krankenschwester steht kurz davor zu hyperventilieren. „Vielen, vielen Dank, Miss! Darf ich …“ Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Darf ich Sie Chrona nennen? Nur für die nächsten zwei Minuten?“, fügt sie hastig hinzu. Ich lächle sie an. Für diese alte Frau und ein Wasserglas voll Bourbon würde ich nahezu alles akzeptieren.

„Das ist … Danke, Chrona.“ Sie stellt sich neben mich. Aus dem einen Foto werden fünf, aus den fünfen zehn und aus der einen Unterschrift sieben. Eine für sie und sechs für ihre engsten Freundinnen. Ob sie nun wirklich für Bekannte gedacht sind oder für eine Versteigerung, das kümmert mich nicht. Zumindest eine Widmung wollte sie nur zu ihrer eigenen haben.

„Ich kümmere mich um Ihren Bourbon“, sagt sie hastig und lässt das Smartphone verschwinden.

Ich lächle matt. „Tun Sie das. Es würde mich freuen, nicht allzu lange warten zu müssen.“

„Natürlich, Chrona. Ich bin gleich wieder da.“ Ich will mich der alten Dame zuwenden, da dreht sich die Schwester noch einmal um. „Vielen, vielen Dank. Sie wissen gar nicht, was es mir bedeutet, Fotos mit Ihnen haben zu dürfen.“

„Ich gehe davon aus, dass Sie das für sich behalten, bis ich das Krankenhaus verlassen habe.“ Mein Tonfall duldet keinen Widerspruch.

Sie zuckt leicht zusammen. „Natürlich, Miss. Da verstehe ich Sie voll und ganz.“

Meine Mundwinkel kräuseln sich zu einem sonnigen Lächeln. „Das freut mich sehr. Einen Bourbon im Wasserglas. Füllen Sie es gut.“ Sie nickt eifrig und endlich, endlich verschwindet sie.

„Danke“, murmelt die Alte. „Mittwochsessen ist ungenießbar.“

„Ja. Die Namen?“

Irritiert sieht die Alte, Lucinda, mich an ihrer einsamen Strähne vorbei an. „Welche Namen?“

„Die des Grauen Mannes. Welche kennen Sie?“ Die Alte räuspert sich und schiebt den Rollstuhl ein Stück zurück, fast als wolle sie mich besser ansehen können.

„Sie nennen ihn Grauen Mann?“

Ich blinzle, ehe ich hektisch nicke. „Ja. Oder. oder Echnaton Ralowskowitsch. Als Capullio Benatoni hat er einen Brief an mich adressiert.“

„Capatio Burattinaio“, verbessert mich die Alte leise. Ich nicke. Sie presst die faltigen Lider fest aufeinander. Ihr langer Hals ist der Traum einer jeden Frau. Ihr noch immer wohlgeformtes Gesicht. In jungen Jahren und ohne verrenkten Rücken muss sie eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen sein. „Sie sind oft bei ihm.“ Das ist keine Frage. Ich zucke die Achseln. „Ist Ihr Freund wegen ihm hier? Fühlen Sie sich schuldig, Mädelchen?“ Ich presse die Lippen fest aufeinander. Irgendetwas will mich glauben lassen, dass sie tatsächlich niemandem gegenüber ein Wort verlieren wird.

„Anton ist seinetwegen verletzt, aber nicht seinetwegen hier“, sage ich hastig, fast als wolle ich jedes Wort zurücknehmen, kaum dass ich es ausgesprochen habe. „Er will mich nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, ob des Grauen Mannes wegen oder weil ich einen ungeheuerlichen Fehler begangen habe. Ich werde daran arbeiten müssen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“

Die Alte starrt ausdruckslos auf ihre Knie und lässt die Arme baumeln. Schließlich stößt sie laut die Luft aus. „Sie spielen gern Schach?“, fragt sie mich dann.

„Ich bin gut darin“, verbessere ich sie.

„Ich nicht“, murmelt die Alte. „Corell hat mich besiegt. Er ist der geborene Spieler.“ Sie räuspert sich. Ihr Blick zuckt an mir vorbei. Jede Spannung weicht aus ihr. Die Fingerspitzen schleifen behutsam über das weiche Gras, fast als würde sie sich von ihm liebkosen lassen. Eine einzelne Ascheflocke, dick und schwer wie aus der Zigarre des Grauen Mannes, rollt auf Lucinda zu und legt sich gegen eine Fingerspitze. Zuckend schüttelt die Alte sie ab.

„Ihr Bourbon“, ruft die Krankenschwester euphorisch und stellt das Glas neben mich. Es ist randvoll mit der goldenen Flüssigkeit gefüllt. Der Duft von Vanille dreht mir den Magen um. Der Alkohol soll sich selbst betäuben. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Chrona?“ Ich sehe die Alte an, die mir einen kurzen Blick zuwirft.

„Das Schachbrett. Bringen Sie es bitte. Und alle Figuren. Ich wünsche eine Runde zu spielen.“

Die Krankenschwester blinzelt irritiert. „Aber Sie haben doch niemanden, gegen den Sie spielen können.“

„Bringen Sie mir das Schachbrett und die Figuren“, wiederhole ich. Das ist keine Bitte. Ein Befehl. Sie erkennt den Unterschied.

„Natürlich, Miss.“

„Und danach gehen Sie. Ich habe Geschäftliches zu erledigen.“ Sie nickt stumm. Die Alte lacht leise, kaum dass die Schwester außer Sichtweite ist und sich daran macht, die Figuren aufzuklauben. Sie aus dem erstickenden Grün zu retten.

„Eine Runde Schach also bei einem Glas Bourbon“, flüstert sie. „Wie in alten Zeiten.“

„Ich kenne Ihre alten Zeiten nicht“, sage ich angespannt und beobachte, wie die Krankenschwester zurückkommt, das Spiel schweigend abstellt und sich mit einem letzten Lächeln entfernt. „Darf ich erfahren, warum Sie eine Runde Schach spielen möchten, Lucinda?“

Die Alte rollt auf die andere Seite des fragilen Tischchens und hebt mühsam die Arme. Zitternd platziert sie die Figuren. Mir hat sie die schwarze Seite überlassen, ebenso wie es meine Mutter zu tun pflegt.

„Ich muss sehen, ob Sie gut sind, Mädelchen. Gut genug, damit der Graue Mann Sie sein Eigen nennen wollen könnte.“ Ich presse die Lippen fest aufeinander. „Das tut er bereits.“ Sie lacht keuchend und dreht die Königin so, dass sie mit dem Rücken zum Brett steht, ebenso wie der König. „Lassen Sie uns einen Deal machen“, sage ich. „Wann immer eine Figur geschlagen wird, darf derjenige, der sie aus dem Spiel genommen hat, eine Frage stellen. Es kommt mir vor, als würden Sie mir andererseits ausweichen.“

Die Alte verzieht die Lippen zu einem schmalen Grinsen. Zittrig reicht sie mir quer über das Spielbrett die Hand. „Schau, Mädelchen, ich habe nie ein Versprechen gebrochen.“

„Gut. Dann werde ich es in der folgenden Stunde ganz genauso handhaben. Ich wünsche, dass nur die Wahrheit gesagt wird.“

„Nur die Wahrheit“, bestätigt die ältere Dame. „Aber danach wirst du nicht klüger sein.“ Ich übergehe diesen Hinweis und setze den ersten Bauern. Wenn ich Teil des Spieles bin, bewege ich mich zuerst und die anderen ziehen nach. Die Alte protestiert nicht. Stumm startet sie mit ihrem Springer, fast als wolle sie mit dem ersten Zug ihre Niederlage besiegeln.

Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes

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