Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 6
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Leise wird die Tür geöffnet. Mit brennenden Augen sehe ich auf. Eine Angestellte bringt mir einen heißen Tee. Wortlos überprüft sie die piependen Monitore, ehe sie mich und Anton allein lässt. Ich lege das iPad beiseite und schließe die Ansicht. Die hämischen Schlagzeilen überrollten mich, sobald ich die erste Website öffnete.
Der Fall der Börsenkönigin.
Das war wohl ein Satz mit X, Miss Clark.
Mord auf Charityevent – die Ermittlungen laufen.
Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark spurlos verschwunden – ist sie tot?
Die Nachrichten schwanken zwischen schwachsinnig und beinahe unerträglich. Die Medien scheinen mich aus diesem kleinen, sterilen Raum kitzeln zu wollen, damit ich Stellung beziehe. Zu dem Desaster vor vier Nächten. Ich denke nicht daran, mich zu rühren. Die Presse kann warten, die Gerüchteküche brodeln. Verstreicht genügend Zeit, wird das Geschwätz sich legen. Solange Anton kein Auge aufgetan hat und sich die Vitalwerte nicht ändern, werde ich hier gebraucht.
Manchmal meine ich im Halbschlaf zu hören, wie das Piepen des Monitors, der seine Herzfrequenz aufzeichnet, sich beschleunigt. Wann immer ich die Augen öffne, lässt sich keine Veränderung erkennen.
Anton liegt da wie tot. Wann immer man seine Verbände wechselt, wird mir vorgeschlagen, mich frischzumachen oder einen Spaziergang zu unternehmen. Ich gehe selten auf den gut gemeinten Rat ein. Wenn Anton aufwacht, möchte ich bei ihm sein. Möchte ihm beweisen, dass ich ihn nie gänzlich allein gelassen habe. Zumindest diese Geste schulde ich ihm.
Von Tag zu Tag sparen sie mehr an Verbänden, allerdings nicht an antibiotischen Salben und Flüssigkeiten, die ich nicht zuordnen kann. Heute Früh haben sie sein Gesicht freigelegt. Die Augen sind zugeschwollen, die Lippen aufgerissen und ein pechschwarzer, handtellergroßer Abdruck zieht sich von seiner rechten Schläfe zu seiner Wange. Stumpf klebt ihm das Haar an der verkrusteten Stirn. Ich kann mir nicht ausmalen, was Anton durchleben musste.
Der Wunsch, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, raubt mir den Schlaf. Ich will sehen, dass der Graue Mann büßt. Er soll durchleben, wozu er Anton verdammt hat. Soll erahnen, was er mir antut.
Bedauerlicherweise könnte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht weiter davon entfernt sein, meine Rache zu genießen. Ich habe meine Berater angewiesen, Echnaton Ralowskowitsch zu kontaktieren oder ausfindig zu machen. Bisher scheiterten alle Versuche. Es scheint, als müsse ich mich damit abfinden, dass der Graue Mann nicht meinen Regeln folgt – sondern ich seinen. Eine neue Facette seines Psychospiels.
Langsam beginne ich zu begreifen, warum meine Arroganz bezüglich des Grauen Mannes den Rektor zur Weißglut trieb. Aus welchem Grund mir dieser ungebändigte Zorn entgegenbrandete.
Ich muss mir eingestehen: Der Rektor hatte Recht: Ich habe keine Vorstellung davon, wozu Echnaton Ralowskowitsch fähig ist. Und wie weit er bereit ist zu gehen.
Der beruhigende Duft von Salbei steigt mir in die Nase, als ich einen kleinen Schluck aus der dampfenden Tasse nehme. Die warme Flüssigkeit windet sich von innen durch meinen Körper. Ich genieße jede noch so sanfte Berührung. Seufzend lehne ich mich gegen die weiche Rückenlehne des Sofas und sehe an die Decke. In einem ständigen, mir nicht erklärlichen Lufthauch, schwingt die helle Lampe leicht hin und her. Rhythmisch, wie ein Pendel. Ich schlief ein um das andere Mal ein, während ich sie erschöpft betrachtet habe und darauf wartete, dass das Gedankenkarussell sich legt.
Das mechanische Piepen ist einschläfernd. Das leise Zwitschern, das durch das angelehnte Fenster schwirrt, auch. Wenn Anton aufwacht, wird er sich wie zu Hause fühlen. In dem Park nisten die Vögel in den Bäumen und bunte Beete wurden angelegt, an denen die Patienten die Zeit verbringen dürfen. Insofern es ihre Verfassung zulässt.
Selbst Kräuter haben sie angebaut, direkt unter Antons Fenster, behütet von einer schlanken Birke. Während Anton reglos in dem farblosen Bett liegt, male ich mir aus, wie er dort entlanghumpelt und behutsam über die grünen Blätter und zarten Blüten streicht. Sobald er sich auf den Beinen halten kann, wird niemand Anton davon abhalten können, den Park zu betreten und sich in dem Duft der Pflanzen zu verlieren.
Eine Amsel stakst durch das Blättermeer hindurch, den gelben Schnabel zum Boden gerichtet, während sie konzentriert die Erde mit Blicken aus den kleinen Knopfaugen abtastet. Ich meine das leise Rascheln, verursacht durch ihre Bewegungen, bis hierher hören zu können.
Neben den orangenen Blüten der Ringelblumen bleibt der schlanke Vogel stehen, neigt leicht das schwarze Köpfchen, bevor er in den groben Sand piekt. Konzentriert wischt die Amsel wenige Blütenblätter fort auf der Suche nach etwas Essbaren. Anton wird vom Krankenhaus versorgt. Momentan noch durch die Bauchdecke. Ein weiterer Grund, aus dem ich bei ihm sein möchte, sobald er aufwacht. Das hier ist neu für ihn. Auf eine gute Art und Weise? Wer weiß das schon.
Die Amsel macht ihren Fang und hält den Wurm für einen Moment wie einen Pokal in die Höhe. Dann verschlingt sie ihn, bevor ein anderer auf sie aufmerksam wird. Womöglich sollte man es so mit Siegen halten, egal wie klein sie doch sind. Wenn sie wahrhaft von Bedeutung sein sollen, muss man sie behüten wie den schönsten Schatz. Nichts davon darf an die Öffentlichkeit dringen. Andererseits folgen die Schlagzeilen. Ich bin sie so leid geworden. Mit jeder ein Stück mehr. Es scheint, als gäbe es nichts anderes als mich, worüber man sich das Maul zerreißen könnte. Man findet mein Gesicht auf jeder Zeitung, jeder Zeitschrift, in jeder Sendung. Nur nicht in dem Licht, in dem ich es sehen wollte. Ich nehme noch einen kleinen Schluck aus meiner Tasse, ehe ich mich auf meine winzige Wanderung zu Anton begebe. Von hier aus, der anderen Seite des Raumes, gegenüber seinem Fußende, sind es genau zwölfeinhalb Schritte, die ich täglich mindestens fünfzig Mal abgehe. Alle zwanzig Minuten. Hat sich sein bleicher Zustand verändert? Blinzelt er womöglich?
Hin und wieder spreche ich mit ihm, nur um sofort wieder zu verstummen. Es ist dumm und sentimental mit jemandem zu konversieren, der einen ohnehin nicht verstehen kann. Aber dennoch tue ich es. Von Zeit zu Zeit. Dadurch kommt Anton mir nicht ganz so fern vor. Nicht so verloren.
Ich genieße die absolute Ruhe, die mir das Krankenzimmer schenkt. Keine ungewollten Besucher, kein Lärm um nichts. Kein Achim.
Nur die Möglichkeit abzuschalten und an nichts zu denken. Ein Urlaub, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn dringend brauche.
Zwölfeinhalb Schritte. Ich stütze mich vorsichtig an dem Fußende ab und sehe Anton in das schlafende Gesicht. Sein Körper versucht krampfhaft die Kraft zu tanken, die ihm der Graue Mann geraubt hat. Die Anton dem bloßen Überleben widmete.
„Bist du wach?“, frage ich in die Stille hinein. Eine Frage, die nie mit Ja beantwortet wird. Nicht einmal mit einem Augenzwinkern. Auch dieses Mal bleibt er ruhig.
Ich warte an seinem Bett, bis meine Füße schmerzen, dann setze ich mich zurück an das Fenster. Der Tee ist nur noch lauwarm. Angewidert schiebe ich ihn fort. Man soll mir neuen bringen.
„Miss, würden Sie gern in den Park gehen wollen?“ Matt sehe ich zu der Schwester im weißen Kittel auf. ‚Bethany‘ steht in ordentlichen schwarzen Buchstaben auf ihrem Schildchen. Ich schließe demonstrativ die Augen und lasse mich wieder in die warmen, weichen Polster sinken. „Die Sonne würde Ihnen guttun.“
„Ich hatte um absolute Ruhe gebeten“, sage ich, ohne die Augen zu öffnen.
„Ich weiß, ja, Miss. Aber ich muss mich um die Verbände kümmern.“ Zwei Mal täglich. Früh und abends. Der fünfte Tag ist beinahe rum. Seit fünf Tagen kämpft Anton ums Aufwachen. Seit einer guten Woche bin ich nicht in der Zeit gesprungen zuzüglich der Tage, an denen ich nicht wusste, ob ich noch lebe oder die Kälte mich längst vernichtet hat.
In wenigen Tagen werde ich einen Mann heiraten, den ich momentan nicht ansehen kann. Besagter Verlobter hat mir am gestrigen Nachmittag den abgeänderten Ehevertrag zukommen lassen. Er wurde ausreichend gelockert, damit man auf ihn verzichten könnte. Dieses Pamphlet ist ein juristisches Friedensangebot. So dringend ich es auch versuche, es gelingt mir nicht, Achims ausgestreckte Hand anzunehmen. Nur einen Schritt auf Achim zuzugehen, würde sich falsch anfühlen. Menschen begehen Fehler, jederzeit. Auch uns sollte dieses Privileg vergönnt sein und schlussendlich kann ich seine Anwesenheit trotzdem nicht ertragen.
Also warte ich, lasse die Mails unbeantwortet und beobachte Anton beim Schlafen. Ruhe selbst, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Trinke Tee.
„Ich bleibe hier.“ Mein Tonfall duldet keinen Widerspruch.
„Kann ich Ihnen denn etwas zu Essen bringen? Oder einen Tee?“
„Einen Tee bitte und eine Obstplatte.“ Ich sollte versuchen, zu essen. Die letzten Tage habe ich die Aufmerksamkeiten der Küche unangetastet zurückgehen lassen. Der bloße Geruch genügte, um die Übelkeit zu wecken.
„Natürlich, Miss. Wollen Sie vielleicht auf den Balkon gehen?“
Ich öffne die Augen einen Spalt breit und linse zu der Glastür. „Sie ist verschlossen.“
„Oh, das ist kein Problem. Ich schließe Ihnen ganz schnell auf. Dann können Sie rausgehen und Ihren Freund beobachten.“ Der Kittel raschelt, als sie die Hände in den bestickten Taschen verstaut.
„Tun Sie das, Bethany.“ Ich lasse die Augen wieder zufallen. Die sanfte Dunkelheit schaukelt mich tiefer in die Schläfrigkeit.
Ich höre ihre leisen Schritte, als sie an mir vorbeigeht, die alte Tasse leise klirrend in die Hände nimmt und die Tür zu dem Balkon aufschließt. Allein, dass man sie mir nicht bereits am ersten Tag öffnete, ist eine Beschwerde wert.
Der Duft von frischer Luft drängt sich mir in einem Schwall entgegen. Ich atme tief ein. Die Wärme der Sonne scheint sich darin zu verbergen. Ich meine, sie auf der Haut zu spüren. Geht es Anton ähnlich?
Meine Tasse wird einer Angestellten übergeben. Sie solle mir frischen Tee bringen und die besagte Obstplatte. Ich höre keinen Widerspruch. Während ich in dem Sofa lehne und durch meine Wimpern hindurch zu Anton spähe, schlägt Bethany routiniert die Decke zurück.
„Sie sollten auf eine Hilfskraft warten.“
Die Schwester schenkt mir ein Lächeln, während sie behutsam die ersten Klammern zu lösen beginnt, um die Verbände abwickeln zu können. Ich mache mich auf den Gestank gefasst, der gleich folgen wird.
Antons Füße sind am furchtbarsten betroffen. An zwei Zehen wurden Haut und Fleisch bis zu den Knochen verbrannt, an anderen Stellen sind sie dermaßen mitgenommen, dass die Ärzte rätseln, ob die Wunden überhaupt vernarben werden.
Über den Heilungsprozess sorge ich mich nicht. Anton wird sich eine Tinktur brauen können, kaum dass er wieder bei Bewusstsein ist. Die Schmerzen, die ihn aktuell begleiten, sind es, die mir Albträume bereiten.
„Die meisten Verletzungen haben sich gut genug geschlossen, damit er sich in keiner unmittelbaren Gefahr befindet, sollte ich einen falschen Handgriff machen“, sagt die Schwester. „Ich habe seit Jahren keinen Fehler gemacht.“ Ein Zusatz, der mich wohl beruhigen sollte. Ich presse die Lippen fest aufeinander. Ist ihr lange Zeit keine Unachtsamkeit unterlaufen, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass es heute geschieht.
„Wenn Ihnen etwas an Ihrem Beruf liegt, sollten Sie absolute Vorsicht walten lassen“, sage ich nur.
Bethany wirkt nicht im Mindesten eingeschüchtert.
„Natürlich, Miss“, lautet ihre fröhliche Antwort, bevor sie seine Fußsohlen freilegt.
Das Wundwasser tritt noch immer aus, die entzündete Rötung hat sich kaum gelegt. Während die Schwester schweigend ihre Arbeit verrichtet, ohne eine einzige Frage zu stellen, schwanke ich zwischen dem Bedürfnis wissen zu wollen, was mit Anton geschehen ist, und der Freude darüber, dass ich durch den Grauen Mann nur eine vage Ahnung erhalten habe. Die Brandwunden ziehen sich wie grausige Mandalas über seine Sohlen. Es wird lange brauchen, bis Anton wieder laufen kann. Tage, wenn nicht Wochen. Bis er sich sein eigenes Heilmittel gebraut hat.
„Ihre Bestellung, Miss Clark.“ Das schüchterne Stimmchen einer jungen Frau lässt mich aufsehen. Sie kann noch nicht lange in dieser Abteilung arbeiten. Mein alleiniger Anblick, so erbärmlich er im Moment auch sein mag, bringt sie dazu, die Schultern nach oben zu ziehen. Ihre Hände zittern so sehr, dass der Tee überzuschwappen droht.
„Platzieren Sie beides bitte auf dem Balkon.“ Ich deute auf das fragile Tischlein. „Ich wünsche dort zu speisen.“ So schnell, wie es ihr mit einer vollen Tasse Tee möglich ist, huscht sie durch den Raum. Er schwappt wie ein tobendes Meer, gesperrt in einen winzigen Behälter.
Schwester Bethany bedeckt die Wunden mit Salben, dann mit Verbänden. Die Frequenz auf dem Monitor ändert sich nicht eine Sekunde. Die Angestellte eilt aus dem Raum, als Bethany sich an den zweiten Fuß macht. Er sieht ebenso grausig aus wie der erste. Rote Kreise, die sich bis ins Schwarze ziehen, unendlich aneinandergereiht, bis man vergisst, dass man einen Fuß vor sich hat. Und ich sehe die Verletzung nur aus der Ferne.
Als sie am Rumpf angekommen ist, beginnt die Schwester zu summen. Ich kenne die Melodie nicht. Eine beruhigende Wirkung hat sie dennoch.
Sie unterbricht ihr Summen erst, als sie an Antons rechter Hand angelangt ist. Schnitte ziehen sich über die Haut wie über ein Brotschneidebrett. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass es diese Momente waren, in denen Anton nachgab. Nichts liebt er mehr als seine Hände. Mit seinen Fingern braut er. Ohne seine Tinkturen ist er nur eine weitere vergessene Seele längst vergangener Zeiten.
„Möchten Sie ein Bad nehmen, Miss? Ich verspreche Ihnen bei Ihrem Freund zu bleiben und Sie zu rufen, sobald er die Augen aufschlägt.“ Mein Tee hat schon wieder aufgehört zu dampfen. Auf der Obstplatte haben sich Wespen niedergelassen. Das Abendessen ist offiziell beendet.
Ich lecke mir über die Lippen und stelle diese eine Frage, vor deren Antwort ich mich bitterlich fürchte. „Wann, glauben Sie, wird er in der Verfassung sein, aufzuwachen?“
Bethany zuckt die Achseln und massiert Anton behutsam Blut in die Finger. „Das ist schwer zu sagen, Miss. Wann immer er dazu bereit ist. Ich lasse Ihnen Kleidung in den Spa-Bereich bringen und rufe Sie, sobald er Anstalten macht, aufzuwachen. Ist das in Ordnung für Sie?“ Ich rieche an meiner Schulter. Der Duft des gestrigen Badezusatzes hat sich verflüchtigt.
„Ich möchte hier sein, wenn er aufwacht“, betone ich. Die Schwester nickt nur.
„Natürlich. Ich werde alles dafür tun, damit das auch so ist. Darf ich Ihnen eine russische Schokolade an den Whirlpool bringen lassen? Etwas für die Nerven“, setzt sie mit einem Augenzwinkern hinzu. Ich presse die Lippen fest aufeinander. Mein Körper benötigt diese Energie dringend. Also nicke ich.
„Veranlassen Sie das.“ Ich zupfe mir einige verirrte Strähnen aus dem Gesicht. „Und lassen Sie eine warme Suppe bringen und jemanden, der mir die Nägel manikürt und die Haare macht.“
Sie nickt, vollkommen konzentriert darauf, jeden Finger einzeln wieder einzuwickeln. „Natürlich, Miss. Wenn Sie wiederkommen, wird ein frischer Tee bereitgestellt sein. Genießen sie dann noch die letzten Sonnenstrahlen.“
Ich antworte ihr nicht. Es genügt, dass ich akzeptiere, wie Bethany mich des Raumes verweist.
Den schokoladenübertünchten Geschmack des Wodkas noch im Mund, die Hitze der Suppe und des Alkohols im Magen, betrete ich gut zwei Stunden später Antons Raum. Der Monitor piept gelangweilt vor sich hin, zeichnet die immer gleichen Linien auf. Eine sanfte, frühlingshafte Note liegt in der Luft. Durch die spaltbreit geöffnete Tür hat sich der Duft des Gartens geschlichen. Ob Anton gerade davon träumt, im Klostergarten zu liegen und sich die Sonne auf das Gesicht scheinen zu lassen?
Die letzten Strahlen verspiegeln die Glastür in einem wunderbar tiefen Orange. Seufzend schließe ich die Augen und lasse die abgestrahlte Wärme auf mich wirken. Womöglich sollte ich ein paar Schritte ins Freie wagen, bevor die kalten Wände mich ersticken. Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Anton trete ich auf den Balkon.
Die ersten Momente blinzle ich in die Helligkeit. Die Sonne steht auf Augenhöhe. Ich wende den Blick ab und suche nach einem der zwei Stühle. Der Duft von Salbeitee liegt in der Luft. Als ich mich endlich setze, haben sich meine Augen langsam an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Ein unterschwelliger Kopfschmerz sticht mir gegen die Schläfen. Ich bekämpfe ihn mit einem Schluck Tee. Er ist angenehm warm, nicht kochend heiß, bei weitem nicht kalt.
Seufzend lasse ich mich in den Stuhl zurücksinken und beobachte Anton durch die angelehnte Tür hindurch. Das Piepen des Monitors ist deutlich zu hören. Ich habe mich noch immer nicht entscheiden können, ob es einer Warnung oder einem Dank gleicht.
„Es ist wirklich schön hier, nicht wahr?“
Ich fahre herum. Mit einem gequälten Lächeln sitzt Jeanne mir gegenüber. Wie kommt es, dass ich sie nicht bemerkt habe? „Ich empfange keinen Besuch.“ Nur wenn er Adrianas Namen trägt und gewillt ist, zu helfen.
Die Frau des Rektors seufzt leise und stützt das Kinn in die Hände. „Du brauchst Ruhe, das verstehe ich.“
„Warum gibst du sie mir dann nicht?“ Meine Finger zittern kaum merklich. Ich stelle die Tasse ab, ehe ich den Tee verschütte. Als ich Jeanne das letzte Mal sah, lag sie dem Rektor weinend in den Armen und hat jeden Zentimeter seiner geschundenen Haut berührt. Ihr Blick war erschreckend intensiv gewesen, während die Finger sein mit Brandwunden übersätes Gesicht abtasteten, ohne es tatsächlich zu berühren.
Jeanne ist aus mehreren Gründen ähnlich unerwünscht wie Achim. Ich hätte ihren Mann geopfert. Sie weiß das ebenso gut wie ich. Wie sie mich das bezahlen lassen möchte, bin ich noch nicht bereit zu erfahren.
Jeanne darf wieder in den Armen ihres Mannes liegen. Er ist bei Bewusstsein und heilt. Anton schläft noch immer und niemand weiß, ob und wann er die Augen wieder aufschlagen wird. Und wenn es so weit ist, wie er mit dem, was er durchstehen musste, umgehen wird. Die Ärzte, mit denen ich gesprochen habe, machten keine vielversprechenden Diagnosen. Einige schlugen vor, Anton vorerst in psychologische Behandlung zu übergeben. Dabei ahnt niemand, dass Anton aus einer Zeit stammt, in der er an Verletzungen dieser Art mit Sicherheit verstorben wäre. In seinem Jahrhundert gibt es weder Gnade noch Wunder.
In meinem?
Womöglich. Sollte Anton die Augen wieder aufschlagen.
Dass Jeannes Mann eine Psychotherapie benötigt, wage ich zu bezweifeln. Als ich ihm vor wenigen Tagen gegenüberstand, wies er eindeutig Spuren der Folter auf. Berührt zu haben, schien ihn diese Form der Strapazen nicht. Weil dem Rektor unerträgliche Schmerzen bekannt sind? Der Graue Mann sei fantasievoller gewesen als sein großer Bruder…
Jeannes bloßer Anblick treibt mich zur Verzweiflung. Weil ich mich schuldig fühle. Weil die Eifersucht wie ein wildes Tier an mir nagt. Wie ist es möglich, dass sie und ihr Mann heil vereint sind, während ich in schwachen Stunden noch immer um Antons Leben bange? Nicht zu vergessen die Anspannung wegen der anstehenden Hochzeit.
Jeanne seufzt leise und pustet in ihren eigenen Tee. Man hat sie eingelassen, obwohl ich ausdrücklich auf das Gegenteil beharrte. „Ich dachte, vielleicht möchtest du mit jemandem reden.“
„Ich habe ausreichend Personen, die ich in diesem Fall kontaktieren könnte“, sage ich kühl. „Deine Sorge ist überflüssig.“ Ihr leicht verletzter und noch immer besorgter Blick, lässt mich absolut schrecklich fühlen. Ich trinke meine Tasse in zwei tiefen Zügen aus. Sie beobachtet mich unverwandt.
„Du kannst gehen“, betone ich, als sie sich nicht rührt. „Ich benötige keine Gesellschaft.“
„Du musst dich nicht schuldig fühlen.“ Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Was du getan hast, war das Richtige. Ich hätte es dir selbst dann verziehen, wenn er nicht zurückgekommen wäre.“
Ich glaube ihr kein Wort. Niemand kann über diese Form von Pragmatismus hinwegsehen. Nicht sie, nicht ich.
„Ich fühle mich nicht schuldig. Das war die richtige Entscheidung“, erwidere ich eisig. „Wenn du jetzt gehen würdest? Ich möchte meine Ruhe haben.“
Sie rührt sich keinen Zentimeter. „Die Erlöse deiner Wohltätigkeitsveranstaltung haben die Familien erreicht. Man beginnt mit den Arbeiten.“
Ich zucke die Schultern. „Das ist nichts, was mich momentan vordergründig interessiert.“ Wieder sehe ich zu Anton. Hat der Monitor für einen Moment schneller gepiept? Die regelmäßige Aufzeichnung straft mein Wunschdenken Lügen.
Jeanne folgt meinem Blick. „Möchtest du die Hochzeit verschieben?“, fragt sie leise. „Bis du die Dinge klarer siehst?“ Ich schüttle den Kopf. Die Ehe mit Achim ist vernünftig. Ich werde danach kaum etwas mit ihm zu tun haben. Wer weiß, womöglich beantrage ich sogar die alte Version des Ehevertrages, womit geregelt wäre, dass ich niemanden so selten zu Gesicht bekomme wie meinen Ehemann. „Chrona, du liebst ihn nicht. Das ist mehr als offensichtlich. Die Ehe sollte …“
„Du solltest nicht versuchen, etwas zu definieren, das du nicht begreifst“, sage ich und stehe auf. Die Sonnenstrahlen schieben sich sanft unter meine Haut und Wärmen das Blut. „Vertrauen muss ebenso wenig die Basis einer Ehe sein wie Liebe und Zuneigung“, zitiere ich meine Eltern, Achim. Monsieur Depót. „Gehorsam und Loyalität in jeder Lebenslage sind allein von Wichtigkeit.“
„Glaubst du das wirklich?“
Ich sehe sie mit nach oben gezogenen Brauen an. „Du siehst die Möglichkeiten nicht. In meinen Kreisen bedeutet eine Ehe nicht, dass man jemandem treu ergeben sein muss. Wen interessiert schon, was der andere Ehepartner treibt? Es geht um den Einfluss. Mit niemandem sichere ich ihn mir mehr als mit Achim.“
„Aber das möchtest du nicht länger, oder? Nicht wirklich.“ Ihre geflüsterten Worte verbannen den letzten Rest der angenehmen Wärme aus meinem Körper. Stocksteif klammere ich mich an das zarte Geländer im Jugendstil.
„Es gibt Zeiten, da spielt es keine Rolle, was man will und was nicht“, sage ich und beobachte die letzten Vögel dabei, wie sie sich einen Platz zum Schlafen suchen. „Die Ehe mit Achim ist am gesündesten für meinen Ruf. Mein Ruf ist meine oberste Priorität.“ Ich werfe Jeanne ein kühles Lächeln zu. „Nicht alle Mädchen können als Pfarrerstochter aufwachsen. Hin und wieder gibt es Menschen, die zu größerem bestimmt sind als zum bloßen Existieren.“
Leise zwitschert eine Meise, bevor sie zwischen den satten, grünen Blättern einer Buche verschwindet. Der Baum legt schützend die Äste um das kleine Tier.
„Ich dachte wirklich, du hättest dich verändert.“ Als Jeanne wieder spricht, klingt sie ebenso distanziert wie ich. Ich sehe sie skeptisch an.
„Verändert?“, spotte ich. „Inwiefern?“
„Dass du dich nicht mehr an erste Stelle stellst.“
Mit nach oben gezogenen Brauen sehe ich zurück in den Park. Dort hinten, direkt neben der Buche, plätschert ein kleines Bächlein paradiesisch vor sich hin. Anton würde es lieben. Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich in dem kristallklaren Wasser. Fast scheint es, als würden sie von dem Bach gefangen genommen werden, damit er bis in die späte Nacht leuchten kann.
„Für den Fall, dass es dir entgangen ist: Ich habe mich bemüht, über mich hinauszuwachsen. Wirklich und aufrichtig und mit ganzem Herzen. Aber es gibt Dinge, die haben in meinem Leben keinen Platz. Sich selbst hintenanzustellen, gehört dazu.“ Eine Lektion, die nicht nur ich schmerzhaft lernen musste. Auch Anton. Sobald man mehr besitzt als das Nötigste, ist Selbstlosigkeit nichts weiter als ein Schwert, das man gegen sich selbst richtet. Diese desaströse Wohltätigkeitsveranstaltung hat mich das gelehrt, wovor Achim mich schützen wollte, ebenso wie meine Eltern.
Einige Träume sind in meiner Position schlichtweg verboten. Für mich sind Diamanten und Immobilien erschwinglich, gekaufte Freunde und brillante Lebensmittel. Echte Hilfe, ein offenes Herz gehört nicht dazu. Ich habe eine Nacht zu lange gebraucht, um das zu begreifen. Es täte Jeanne gut, diese unumstößlichen Tatsachen zu verstehen, bevor etwas, das ihr viel bedeutet, verloren geht. Oder bevor eine Veranstaltung, die der Öffentlichkeit die Augen öffnen sollte, den Fokus auf einen unglücklichen Todesfall lenkt. Der mir zugeschrieben wird.
„Glaubst du das wirklich?“, fragt sie leise.
Ich verziehe keine Miene. „Selbstverständlich.“
„Warum?“
Weil das die einzige Wahrheit ist, bei der der Graue Mann nicht seine Finger im Spiel hat.