Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 9

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„Miss, ich kann Ihnen versichern, dass niemand, abgesehen von dem Personal, die Räumlichkeiten betreten hat“, beteuert die Krankenschwester zum tausendsten Mal. Ich ignoriere sie und stoße die Tür auf. Vanille. Qualm. Beides schlägt mir entgegen. „Bleiben Sie draußen“, befehle ich. Die Geräte piepen gleichmäßig. Die Proteste übergehe ich und schlage die Tür hinter mir zu. Ihre Stimme verstummt, wird durch das raue Lachen des Grauen Mannes ersetzt.

„Und da ist sie, wie ich sie gerufen habe. Mein Zeitreisemädchen. Miss Clark.“

Ich greife nach einem Glas und hebe es drohend. „Gehen Sie weg von ihm.“ Blind taste ich nach dem Lichtschalter. Selbst als ich ihn betätige, bleibt es finster. „Ich versichere Ihnen, Sie eliminieren zu lassen, wenn Sie nicht auf der Stelle von ihm wegtreten.“

Der Graue Mann gähnt demonstrativ. Er wirkt gespenstischer denn je in dem grünlichen Licht der Monitore. Dunkle, lange Schatten werden auf sein hageres Gesicht geworfen und spiegeln sich in den toten, schwarzen Augen wider. Seine Wangen scheinen eingefallener als zuvor, die Falten um ein Vielfaches tiefer. Wie ein unerklärlicher Nebel umgibt ihn der Qualm seiner Zigarre. Nie war offensichtlicher, dass er hier nicht hergehört. Weder in diese Welt noch in dieses Zimmer.

„Kalt wird dein Herz. Es friert unter meiner Gegenwart. Wirst du mich bitten, dich zurück zu dir zu führen?“ Seine Stimme ist kaum mehr als ein raues Kratzen, das amüsierter nicht klingen könnte. Er ist wie ein Kind, dem es Freude bereitet, einer Spinne jedes Bein einzeln auszureißen, um sie dann verzweifelt und lebensunfähig auf dem Fensterbrett liegen zu lassen, die dürren Beinchen in Sichtweite. Er ist wie ein Orkan, der Lebensgrundlagen nimmt mit einem spielerischen Vergnügen, in dem er die Häuser umherwirft und Bäume aus der Erde reißt.

„Ich schwöre Ihnen bei meinem Ruf und meinem Vermögen, wenn Sie nicht verschwinden, wird das Folgen haben. Sie haben genug angerichtet.“

Langsam nimmt er die Zigarre aus dem Mund und drückt sie auf seinem Handrücken aus. Stinkend verlieren sich die Rauchkringel in der Luft. Ein Ungeheuer, das seinesgleichen sucht.

„Der Ruf ist verschwunden und das Vermögen ist instabil.“

„Gehen Sie.“ Meine Finger krampfen sich um das Wasserglas. „Verschwinden Sie, sagte ich.“

„Ich höre“, kichert er und lehnt sich näher zu Anton. In dem grünlichen Licht streckt er die Hand nach ihm aus. Ich werfe das Wasserglas. Es fliegt einen perfekten Bogen, fast als hätte ich ihn vorgezeichnet. Einen Sekundenbruchteil bevor es den Grauen Mann berühren kann, verschwindet es in einem Rauchkringel, der sich im Raum verliert. Keuchend schlage ich auf den Lichtschalter. Es bleibt dunkel. Das Glas kann sich nicht aufgelöst haben! Klick, klack. Klick, klack.

„Verschwinden Sie!“ Ich fahre bei dem Klang meiner eigenen Stimme zusammen. Sie ist viel zu hoch und klirrend. Unbeherrscht. Das bin nicht ich. Den Zigarrenstummel in der Hand erhebt er sich. Lautlos fließt der graue Trenchcoat an ihm herab. Er ist wie ein Geist, der auf mich zugleitet, vollkommen geräuschlos und grünlich schimmernd. Unwillkürlich weiche ich von ihm zurück. Er ignoriert es. Der Gestank von verbrannter Vanille geht in Schwaden von ihm ab und erstickt mich. Die Augen beginnen zu tränen, meine Lungen wollen mir den Dienst versagen.

„So schön“, murmelt er. „So schön und zerbrechlich. Der Zeitenfänger wird sich in dir verlieren wie ein Narr.“ Als er meine Wange berührt, fahre ich zusammen, als hätte er mich geschlagen.

Unbeherrscht.

„Ich nehme dein Leben, du behältst es für immer. Für immer und immer. Besiegle es mit der Blüte und fühle dich erinnert.“ „Fassen Sie mich nicht an.“

Der Graue Mann lacht heiser. Sobald er die Hand sinken lässt, beginnen die Tränen zu strömen. Sie tropfen mir ruhelos das Kinn hinunter und verfangen sich in meinen Haaren.

„Ich will nicht dich oder deine Macht“, wispert er. „Nur deinen Verstand und mit jeder Stunde gibst du mir mehr davon. Was du auch tust, ich habe es gewollt. Zum Schluss wird nur noch eine Frage stehen: ein glückliches Leben oder ein gejagtes.“ Seine rissigen Lippen berühren mein Ohr. Ich bin kurz davor zu hyperventilieren. Sein Gestank ist erschlagend. Schwarze Punkte beginnen vor meinen Augen zu tanzen.

„Verschwinden Sie.“ Die Haut des Grauen Mannes ist eiskalt und so glatt wie Porzellan, als er mein Handgelenk umfasst und mich dazu zwingt, die Handfläche nach oben zu drehen. Die eingebrannte Vanilleblüte scheint in dem grünlichen Licht zu fluoreszieren.

„Wie denn, mein Kind? Du bist ein Teil von mir. Von uns. Wie sollte ich je verschwinden?“ Er platziert einen hauchzarten Kuss auf meinen Fingerknöcheln. Ich schreie leise auf. Mein Magen dreht sich und der Strick um meine Kehle zieht sich fester, bis ich keinen Atemzug mehr nehmen kann. „Lieb den Alchemisten, heirate den Juristen und versprich dich dem Spiel. Glück wirst du nicht auf allen Wegen finden.“

Mir wurde die Zunge gestohlen. Ich kann nicht mehr sprechen. Egal wie verzweifelt ich es versuche, mich um Worte bemühe oder mich daran erinnern will, wie man sie gebildet hat, ich bleibe stumm.

„Stirb den Tod des Verlierers. Nur so wirst du mein Sieger“, haucht er. „Ich will dich am Ende glänzen sehen. Deine Schönheit überstrahlt Tugend und Mut.“ Die Blume scheint sich durch mein Fleisch hindurch zu fressen und sich auf den Knochen zu drücken. Ich wimmere hilfesuchend auf und versuche meine Hand aus seinem Griff zu wenden. Er hält sie fester, als Fesseln es könnten. „Meine Göttin ist gefallen. Gott hat sich ergeben. Ein glückliches Leben oder ein gejagtes. Denk darüber nach.“

„Fahr in den Himmel oder ich lasse dich hier und jetzt in Flammen aufgehen.“ Dass ich noch immer mechanisch auf den Lichtschalter getrommelt habe, geht mir erst auf, als die Lampe aufflackert, nur um bei dem nächsten Schlag wieder zu erlöschen. Meine Muskeln zucken, als ich innehalte. Das Licht geht an. Endlich. Wie ein düsterer Schatten lehnt der Rektor an der Terrassentür, die Arme vor der Brust verschränkt. Nie hätte ich erwartet, mich über seinen Anblick zu freuen.

Der Graue Mann lacht heiser. „Mein gefallener Gott.“ So wie er die Worte spricht, klingt es beinahe zärtlich. „Den Teufel wirst du tun.“

„Oh ja“, wispert der Rektor und verzieht die Lippen zu einem Lächeln, das mich panisch verstummen lässt. „Den Teufel werde ich tun.“ Der Graue Mann gähnt nur, lässt aber von mir ab. Als wäre ich eine Marionette, deren Fäden er gehalten hat, falle ich in mich zusammen. Ein dumpfes Stechen jagt durch meinen linken Knöchel.

„Ein glückliches oder ein gejagtes Leben“, sagt Echnaton Ralowskowitsch sachlich, fast als zitierte er aus einem Vertrag. „Der Bruch meint den Tod.“

Der Rektor schlendert entspannt auf ihn zu. „Wie lange durfte ich deinen poetischen Ergüssen lauschen? Ich verrate dir ein Geheimnis, Benjamin. Es war eine Minute zu lang, als dass ich mich länger beherrschen könnte.“

Wieder ein kratziges Lachen, das mich den Kopf in den Armen vergraben lässt. Er ist das Böse. Dieser Graue Mann ist das personifizierte Böse.

„Fahr zur Hölle, Dämonenjunge.“

„Zuerst werde ich den Teufel tun.“ Nahezu gelangweilt schnippt er die Finger. Mir wird schwarz vor Augen, nur für einen Herzschlag, als eine Flamme über seinen Spitzen zu flackern beginnt. Mein Magen rebelliert. Schluchzend presse ich mich näher an die Wand heran. Er soll sich von Anton fernhalten und er auch. Alle beide! Wenn jemand seinen Tod beschließt, dann bin ich das. Keiner von ihnen.

Verächtlich schnaubt der Graue Mann. „Dir fehlt die Macht.“ „Dir der Verstand.“ Das Feuer kriecht langsam über seine Finger, ohne den Rektor zu verletzen. „Du vergisst, wer ich bin.“

„Ich weiß, wer du warst.“

Die Mundwinkel des Rektors heben sich langsam. „Dann solltest du laufen.“

„Skrupel“, schnaubt Echnaton Ralowskowitsch verächtlich. „So voller Skrupel.“

„Ich habe daraus gelernt.“ Der Rektor legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen, als bete er.

„Für wen sprichst du das Vater Unser, mein Missgeschick?“ Ohne die Augen zu öffnen, sagt der Rektor: „Deine Asche.“ Dem Grauen Mann bleibt keine Gelegenheit zu lachen. Das Feuer, das auf den Fingerspitzen des Rektors tanzte, verschwindet im Nichts. Eine einzelne Sekunde schlägt, dann brennt es aus dem Körper des Grauen Mannes heraus. Es ist nicht langsam, nicht quälend, sondern eine Naturgewalt, die keine Zeit für Gegenwehr lässt. Eine blaue Stichflamme steigt empor. Einen tiefen Atemzug, höchstens, dann wirbelt Asche auf und schwebt über den sauberen Boden. Regnet draußen von dem Balkon nieder, als habe jemand jede einzelne Flocke an die Hand genommen und vor die Tür geleitet. Der Rektor schüttelt leicht die Finger aus. Er wirkt … besorgt.

„Hoffen wir, dass er für ein, zwei Wochen dort unten bleibt.“ Zu Asche zerfallen. Nie wieder sollte der Graue Mann aufstehen. Ein fremdes Mädchen jagte ihm einst eine Kugel durch den Schädel und er stand wieder auf. Still kauere ich vor der Wand, kleiner denn je. Nie fühlte ich mich verletzlicher. Ein Fingerschnippen. Ein Fingerschnippen braucht der Rektor, um das Ende einzuleiten. Ein Fingerschnippen. Mein Puls rast. Einen verfluchten Moment. Nur kurz lässt er den Blick über mich schweifen, dann tritt er an Antons Bett. „Ich soll ihm ein Mittel von Adriana geben. Sie entschuldigt sich dafür, dass sie dir nicht Auf Wiedersehen gesagt hat, wo du doch so großen Wert auf diese Geste zu legen scheinst.“ Klare Tropfen fallen auf Antons leicht geöffnete Lippen. Ich zittere am ganzen Körper. Der Rektor hält weder ein Glas noch eine Flasche oder Phiole in der Hand. Ebenso lautlos wie der Graue Mann entfernt er sich von Anton und wirft mir einen tiefen Blick zu.

„Nimm es nicht persönlich, Chrona, aber wir alle beabsichtigen dich von nun an weitestgehend zu meiden. Wir haben das bekommen, was wir wollten.“ Er klopft seine Hände ab. Sie waren nicht schmutzig. „Bedauerlicherweise wird es kein Abschied auf ewig sein. Irgendwann fängt er uns alle wieder ein.“ Während er auf mich hinabsieht, ist sein Blick bar jeder Emotion. Der Rektor könnte kälter und gleichgültiger nicht wirken. „Danke mir nicht, dass wir gehen, und verfluche mich nicht. Womöglich begreifst du uns eines Tages und vielleicht ist es dann noch nicht zu spät.“ Ich verstehe kein Wort. Es ergibt keinen Sinn. Der Rektor dreht sich um und macht Anstalten auf dem gleichen Weg zu verschwinden, wie er gekommen ist. Auf der Türschwelle hält er inne. „Chrona, du schuldest mir einen Gefallen.“ Er kratzt sich an der Nase und ein schattenhafter Rosenkranz scheint sich um seine schmalen Finger zu winden. „Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.“ Mir ist übel. Ich möchte mich übergeben. Ich will nur ein einziges Wort über die Lippen bringen.

Mir wird schwarz vor Augen.

Ein lautes Krachen reißt mich aus meinem unruhigen Schlaf. Der Rücken schmerzt abscheulich und die Füße fühlen sich wund an. Ich liege in meinem Bett, die Decken über mir ausgebreitet. Ich rieche den minzigen Badezusatz und spüre die sanfte Kühle des Raumes an den Händen. Sie sind unversehrt, etwas rosig. In meinem absurden Traum hatte sich eine Vanilleblüte hineingebrannt.

„Ihr seid wach.“ Mein Zimmermädchen sitzt direkt neben mir und legt das Buch beiseite, in dem sie soeben noch gelesen hat. Über das Cover ziehen sich weiße Rosen. Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen. „Darf ich Euch einen Tee bringen? Oder einen Saft?“

„Die Unterlagen bitte und das obligatorische Wasser.“ Mit schmerzenden Muskeln werfe ich die Decke zurück.

„Wie Ihr wünscht, Miss.“ Sie knickst vor mir. „Das Krankenhaus hat angerufen. Der Patient, der auf Euren Namen eingeliefert wurde, ist wach.“

Ich halte mitten in der Bewegung inne. „Pardon?“

„Der Patient, der auf Euren Namen eingeliefert wurde, ist wach“, wiederholt sie und reicht mir ein Tablett gefüllt mit Papieren. „Wünscht Ihr Euer Wasser eiskalt oder eine Nuance wärmer?“

„Anton ist wach?“ Ich suche nach der Lüge in ihren Augen. Verschwommen erinnere ich mich an den schweren Gestank von Vanille in der Luft, den Rektor, der aus dem Nichts auftauchte und ihn ins Nichts verbrennen ließ. Chrona, du schuldest mir einen Gefallen. Damit hat er sich verabschiedet. Chrona, du schuldest mir einen Gefallen. Dann war mir schwarz vor Augen geworden. In Antons Zimmer.

„Wie bin ich hierhergekommen?“

Mein Zimmermädchen blinzelt überrascht. Irritiert lächelt sie mich an. „Ihr habt Euch die ganze Nacht hier aufgehalten. Ihr wart nirgendwo anders.“ Die Blüte ist von meinen Handflächen verschwunden. Die Finger sind nicht länger zerkratzt. Ich stinke nicht mehr nach verbrannter Vanille.

„Bring mich in das Krankenhaus.“

Meine Angestellte nickt und gießt gekühltes Wasser in ein hohes Glas. Es schwappt nach oben in sanften Wellen, bevor er vom Rand abperlt und sich im Mittelpunkt wieder sammelt. „Natürlich. Bis wann soll ich den Fahrdienst bestellen?“

„In fünf Minuten. Ich kleide mich an.“

Zu laut stellt sie die Flasche ab. „Miss, Ihr wolltet soeben noch…“

„Ich verlange, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Informiere meinen Verlobten darüber, dass er sich, wenn möglich, der Unterlagen am heutigen Tag annehmen soll. Ich bin beschäftigt.“ Mein Zimmermädchen lächelt tapfer und stellt die Flasche zurück auf den Tisch. Sie überreicht mir das Wasser.

„Selbstverständlich. In fünf Minuten wartet ein Wagen auf Euch. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?“ Stumm schüttle ich den Kopf und kippe die kühle Flüssigkeit herunter, als wäre sie hochprozentig. Ich werde mehr Mut und Nerven benötigen, als ich momentan aufbringen kann.

„Ruf den Wagen“, sage ich nur. Es fühlt sich ungewohnt an, den Schrank allein zu öffnen und selbst ein Kleidungsstück auszuwählen. Ich entscheide mich für ein luftiges Sommerkleid. Es bedeckt meine Schultern, ist durch und durch züchtig und wird Anton mit Sicherheit gefallen. Der Orangeton erinnert an den Sommersonnenschein. Es ist lang genug, um ihn nicht in Verlegenheit zu stürzen. Ich schlüpfe in flache Schuhe und betrete den Fahrstuhl. Mein Haar ist ein Chaos. Ich werde eine meiner Angestellten bitten, es während der Fahrt zu bändigen.

Meine Gedanken kreisen. Warum ist er wach? Es sah aus, als schlüge Anton nie wieder die Augen auf. Ich wollte für eine Grabstelle Sorge tragen, nicht für ein Eigenwohnheim. Er ist wieder bei Bewusstsein. Und ich? Ich war nicht da. Am liebsten würde ich mich verfluchen, stattdessen bleibe ich still, steige in den wartenden Wagen ein und lasse die verschwommenen Bruchstücke der vergangenen Nacht Revue passieren. Ich verschwand überstürzt zu Anton. Man hatte mir einen Brief übergeben, der mit Blut verziert war. Ein Brief des Grauen Mannes. Genau er hatte mich in Antons Zimmer erwartet. Alles danach? Es verschwimmt zwischen Panik, Sorge und einer diffusen Mischung aus Unruhe und Triumph. Ich erinnere mich an den Abschied des Rektors und an die bläuliche Stichflamme. Ich weiß um meine Hilflosigkeit und Antons Bewusstlosigkeit. Worüber der Graue Mann und ich aber gesprochen haben? Ich kann die Situation beim besten Willen nicht rekonstruieren.

Meine Angestellte hat mir die Haare soeben über die Schulter geflochten, als der Chauffeur hält. Ich warte nicht, bis er mir öffnet, stattdessen stolpere ich aus dem Wagen und haste die Treppen hinauf. Die sterilen Gänge des Krankenhauses sind mir inzwischen bekannt wie meine eigenen Räumlichkeiten. Ich eile hindurch, ignoriere diejenigen, die mich ansprechen. Anton ist wach. Was, wenn er inzwischen wieder das Bewusstsein verloren hat?

Die Traube Ärzte, die aus seinem Behandlungszimmer quillt, beweist das Gegenteil. „Lassen Sie uns allein“, befehle ich, noch bevor ich sie erreicht habe. Ein älterer Herr, wie sein Schild sagt, ein Chefarzt, dreht sich zu mir um. „Bitte warten Sie, Miss.“

„Ich bin Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark und ich befehle Ihnen, augenblicklich zu gehen oder mich zumindest durchzulassen.“ Als keiner der Anwesenden reagiert, schiebe ich mich durch die Traube hindurch, als wären es bedeutungslose Menschen des Mittelalters. Wenn es sein müsste, würde ich jeden von ihnen eigenhändig brandmarken, um zu Anton zu kommen. Ich muss mit eigenen Augen sehen, dass er wach ist. Dass er lebt. Wie er mich anlächelt.

Die verdammten Ärzte versperren mir den Blick auf ihn. Die Linien auf den Monitoren tanzen schneller und unregelmäßiger. Ich höre Anton leise sprechen und die Kugelschreiber auf den Klemmbrettern kratzen. Gedämpft werden Fragen gestellt, die er stockend beantwortet.

Rücksichtslos schiebe ich eine Krankenschwester beiseite – ich hätte meine Security anfordern sollen – und lehne mich zu Anton. Die Verbände von seinem Gesicht sind verschwunden. Die Lippen haben die bläuliche Farbe verloren, die Schwellung ist zurückgegangen. Seine Arme liegen frei, ohne Blessuren, völlig unversehrt. Während ich ihn ansehe, kommt mir die vergangene Zeit vor wie ein schlechter Traum. Er wirkt nicht wie jemand, der die letzten Tage ums Überleben gekämpft hat. Seine Wangen sind leicht gerötet. Die Augen hellwach. Anton ist zurück. In meinem Jahrhundert. Ein Traum.

Er wirkt überfordert von dem Andrang und regelt ihn dennoch mit einer Souveränität, die ihm in die Wiege gelegt wurde. Lediglich an dem verschreckt huschendem Blick kann man seine Unruhe erahnen. Selbst der Puls bleibt beinahe regelmäßig. Die Königsdisziplin. Ich habe Jahre benötigt, um das zu erlernen.

„Miss, ich muss Sie bitten, zu gehen“, sagt eine Ärztin. Ich ignoriere sie und strecke die Hand über das Bett. Behutsam berühre ich Antons Unterarm. Seine Haut ist warm, fast schon fiebrig heiß. Ihn anzufassen, ist vertraut. Es ist als würde jeder schlechte Gedanke der letzten Tage im Nichts verpuffen. Jeder Selbstvorwurf schmilzt dahin.

Meine Berührung ist nicht mehr als der Flügelschlag eines Schmetterlings, trotzdem zuckt er herum wie nach einem Stromschlag. Als er mich sieht, weiten sich seine Augen. Das Piepen wird für einen flüchtigen Moment unregelmäßig. „Hey“, hauche ich. „Wie geht es dir?“

Anton räuspert sich und antwortet einer Ärztin auf eine Frage, die ich nicht gehört habe. Mich ignoriert Anton. Er gibt Fakten ab, lacht hin und wieder leise, scherzt mit den Umstehenden.

„Anton? Hörst du mich?“

„Miss, ich bitte Sie zu gehen. Andererseits müssen wir Sie gewaltsam entfernen.“ Ich schüttle die kühle Hand des Arztes ab. „Mein Name ist Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark“, sage ich kühl. „Mich anzurühren, würde Ihren Posten kosten.“

Der Arzt seufzt leise. „Miss Clark würde kaum einen Kranken ohne Ihre Security aufsuchen.“ Ich presse die Lippen fest aufeinander. „Verlassen Sie den Raum selbst oder muss ich Ihnen behilflich sein?“ Das ist eine bodenlose Frechheit. Ich stehe kurz davor aus dem Zimmer zu stürmen und die Leitung heranzudiktieren. Aber dann müsste ich Anton aus den Augen lassen …

„Anton, könntest du den Anwesenden sagen, dass wir einander kennen? Wir sind Freunde“, erkläre ich der nahestehenden Krankenschwester. Sie räuspert sich nur schmallippig und greift nach ihrem Kommunikationsgerät.

Er dreht sich zu mir. Sein Lächeln verschwindet. Das sprühende Leben weicht aus seinen Augen. Ich fröstle. Erkennt er mich nicht?

„Sie ist eine Bekannte“, bestätigt er schließlich. Die Krankenschwester lässt das Gerät sinken und schreibt wenige Worte auf ihren Block.

„Ist sie tatsächlich die, die sie vorgibt zu sein?“, fragt der Arzt neben mir.

Anton zuckt die Achsel. „Wenn sie mich nicht belogen hat, dann ist sie das. Ja.“ Er tastet mein Gesicht mit Blicken ab. Nie wirkte er distanzierter. Seine Lippen sind zu einer weißen Linie zusammengepresst, in seinen Augen tobt etwas, das ich nicht einordnen kann.

Wortlos setze ich mich zu ihm aufs Bett und versuche, meine Finger mit seinen zu verschränken. Er entzieht mir seine Hand. Das Wasser stößt mir bitter auf.

„Könnten Sie die Dame bitte entfernen? Ich möchte sie nicht sehen.“ Seine Worte lassen ein dumpfes Klingeln zurück.

Verständnislos blinzle ich. „Pardon?“ Ich lache auf. „Warum sollte ich gehen?“

„Miss, wir bitten Sie, jetzt den Raum zu verlassen. Andererseits müssen wir den Sicherheitsdienst kontaktieren.“ Zweifelsohne. „Meine Anwälte werden sich um den Fall kümmern“, sage ich eisig. Anton setzt sich weiter auf. Eine der Schwestern reagiert sofort und schiebt ihm das Kissen hinter den Rücken. Er lächelt sie warm an. So wie er es bei mir tun sollte. Sie errötet leicht und lässt sich das dunkle Haar in das schmale Gesicht fallen.

„Wenn du dich von den Ärzten nicht ausweisen lässt, dann hoffentlich von mir. Sieh es als eine Art Wiedergutmachung an.“

„Was hast du wiedergutzumachen?“, entfährt es mir. „Anton, ich möchte mit dir sprechen. Es wäre um einiges logischer, die hier Anwesenden darum zu bitten, sich Wichtigerem zuzuwenden.“

Er fährt sich durch die dunklen Haare. Seine Finger zittern kaum merklich. „Deine Wiedergutmachung. Für die Strapazen, die du mir zugemutet hast.“

Ich blinzle. „Könntest du dich bitte klarer ausdrücken?“

Anton lehnt sich zu mir, bis ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre. Gegen meinen Willen gehen meine Lider auf Halbmast. Ich will ihn küssen. Ich muss wissen, dass alles in Ordnung ist, sonst verliere ich den Verstand. Warum war ich ausgerechnet heute Nacht nicht bei ihm? Unwillkürlich neige ich mich näher zu ihm. Anton weicht nicht zurück. Ich will die letzten Tage vergessen, einfach die Hände in seinen Haaren vergraben oder die Arme um seinen Nacken schlingen, die Augen schließen und vergessen. Ich brauche seine Nähe wie die Luft zum Atmen.

„Chrona, ich will dich nicht sehen“, sagt Anton langsam wie zu einem Kind. Ich spüre seinen Atem auf meinen Lippen, als er sich noch näher zu mir beugt. „Ich kann deine Nähe nicht mehr ertragen. Wir beide, wir sind fertig.“ Er lehnt sich ruckartig zurück. Eine eisige Kälte beginnt über meine Arme zu laufen. Durch meinen gesamten Körper. Die Nacht, in der mir der Abschied verwehrt blieb, scheint sich zu wiederholen. Nur dieses Mal stiehlt Anton sich mir selbst. Hat er nur den Hauch einer Ahnung, was er mir antut?

„Du weißt nicht, was du sagst.“

„Doch“, sagt Anton fest. „Doch, das weiß ich. Entweder du gehst oder du wirst rausgebracht. Tu mir einen Gefallen und besuch mich nie wieder.“ Er macht eine nachlässige Bewegung mit der Hand. Genau die, die er Daheim tat, wenn er die Tür schloss.

„Du weißt nicht, was du sagst“, wiederhole ich nur.

Anton seufzt schwer und wendet sich einer Ärztin zu. „Ich kann mich nicht an den genauen Genesungsprozess erinnern“, beantwortet er eine weiter zurückliegende Frage. Mich ignoriert er, als wäre ich nichts weiter als ein lästiges Püppchen. Das da … das ist nicht Anton. Selbst als er wütend auf mich war, hat er sich gefreut mich zu sehen. Er brauchte meine Nähe, ebenso wie ich seine. Warum … warum dreht er sich nun einfach fort?

„Ich bitte Sie ein letztes Mal diesen Raum zu verlassen“, sagt der Arzt neben mir. Seine Worte scheinen unangemessen laut. Ungedämpft. Ich straffe die Schultern und gehe, ohne Anton aus den Augen zu lassen. Er widmet mir keinen Blick. Sagt nicht auf Wiedersehen. Brüsk entlässt er mich und ich lasse es zu.

Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes

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