Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 12
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„Euer Wasser, Miss.“ Wortlos nehme ich es entgegen, während ich Antons Schopf von der Tür aus beim Wippen beobachte.
„Bringen Sie ihm den Tee. Er braucht ihn“, weise ich den Sicherheitsmann an. Er nickt.
„Kann ich für Euch noch etwas tun?“ Stumm schüttle ich den Kopf. Warum beruhigt Anton sich nicht? Seit bestimmt fünf Minuten ist er aus diesem Traum ausgebrochen, aber er verhält sich wie nach fünf Sekunden. Fast als wäre sein Geist in diesen grausigen Szenen hängen geblieben, die ihn jetzt verzweifelt wimmern lassen. Anton wiegt sich vor und zurück wie die Mutter ihr Kind. Anton hat, weiß Gott, in dieser Zeit niemanden, der ihn in die Arme nehmen könnte. Nur ich bin da und mich stößt er fort. Reicht die Enttäuschung über mein Verhalten so tief? Hat der Graue Mann ihn zu schwere Grausamkeiten spüren lassen, womöglich in meinem Namen?
Mir blieb keine Wahl. Anton sollte mich verstehen. Aber er wiegt sich vor uns zurück wie ein kleines, traumatisiertes Kind.
Die Schritte des Sicherheitsmannes hallen penetrant laut wider, als er den Raum durchquert und sich vor Anton hockt. Ich höre das leise Klappern von Keramik auf Linoleum, dann erhebt er sich und verlässt das Zimmer schweigend. „Wissen Sie inzwischen, von wem die Blumen geschickt wurden?“, erkundige ich mich angelegentlich, ohne Anton aus den Augen zu lassen. Bilde ich es mir ein oder wird sein Wippen langsamer?
„Natürlich, Miss.“ Er zieht einen kleinen Bogen aus seiner Brusttasche. „Der Umschlag war beiliegend. Die Schwester hat ihn vorerst an sich genommen. Sie war davon überzeugt, dass der Patient in näherer Zeit, nicht fähig dazu sein wird, zu lesen.“ Er händigt ihn mir aus. „Kann ich noch etwas für Euch tun?“
Stumm schüttle ich den Kopf. Das Papier ist unheimlich weich unter meinen Fingern, seidig, wie von Rosenblättern.
„Hat sie ihn geöffnet?“, frage ich schließlich doch.
Der Sicherheitsmann schüttelt den Kopf. „Nein. Darf ich Euch einen gut gemeinten Ratschlag geben, Miss?“
„Sie dürfen.“
Anton hat sich eindeutig beruhigt. Sein Kopf verschwindet kurz, als er nach der Tasse greift. Ich tippe auf Salbeitee. Er ist mit weniger negativen Erinnerungen verknüpft. Ingwer trank er an seinem letzten Tag.
„Geht nach Hause. Ihr könnt dem Patienten momentan nicht helfen. Ich habe Freunde, die in Kriegsgebieten eingesetzt wurden. Sie wiesen ähnliche Verhaltensmuster auf. Man nennt es posttraumatische Belastungsstörung. Ihr könnt gegen die Angstschübe nichts unternehmen. Quält Euch nicht mit so etwas. Es wartet Arbeit auf Euch.“
Das tut sie mit Sicherheit. „Wird das schnell wieder besser?“, frage ich gepresst. Wie ein verängstigtes Mädchen.
Stumm zuckt der Sicherheitsmann die Schultern. „Es kommt auf die psychische Konstitution an. In wenigen Fällen ist es nur vorübergehend und löst sich von allein wieder auf. Lasst uns das Beste hoffen, Miss.“
„Lassen Sie uns das beste hoffen“, wiederhole ich. „Sie dürfen gehen.“
Er schlägt die Fersen zusammen. „Miss Clark.“ Eine kurze Verbeugung, dann geht er und lässt mich im Rahmen stehend allein. Ich höre ein leises Schlurfen, ein unruhiges Klappern. Es scheint, als wäre der Tee heiß. Antons Kopf ragt wieder ein Stück über die Matratze.
Ich öffne den Umschlag. Eine Grußkarte, geschmückt mit winzigen Herzen. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. Die Schwester wird die Blumen doch nicht selbst haben kommen lassen. Trotz der beklemmenden Situation muss ich bei dem Gedanken beinahe lachen. Erbärmliches Wesen.
Leise entfalte ich die Karte.
Ich hoffe, dir gefällt die Vanille. Glaub mir, die Hölle ist erst der Anfang.
In Liebe,
Chrona
Ich sitze in eine Decke gehüllt vor dem großen Kamin und schiebe das brennende Holz wieder zur Mitte hin, obwohl die Karte längst verglüht ist. Rauch steigt in gelblichen Kringeln auf und verteilt sich in meinen Räumlichkeiten. Schwüle Kühle dringt verschwommen zu mir heran. Meine Angestellten haben die Fenster geöffnet, um den Gestank zu kompensieren. Man hat mir die Unterlagen gebracht, die am heutigen Tag bearbeitet werden sollten. Über die Stunden habe ich zwei Diagramme ausgewertet und mich mit einem Geschäftspartner aus Spanien in Verbindung gesetzt, um neu über die Aktien an dem aufstrebenden Juwelierunternehmen aus Nairobi zu verhandeln. Vier weitere Diagramme, neun Tabellen und zwei Emails stehen mir noch bevor. Ich sollte mich endlich von dem nutzlosen Feuer loseisen, die Bilder des Tages aus meinem Kopf verbannen und mich meinen Aufgaben zuwenden. Die Zahlen versprechen Zuverlässigkeit und Stabilität. Optimal, um die Sorgen zu vergessen.
Seufzend wickle ich mich aus der Decke und greife nach dem Ordner.
„Schließ bitte den Kamin.“ Eine Angestellte gehorcht mir aufs Wort.
Ich betrete den Konferenzraum, das Zimmer, das ich seit meiner skandalösen Wohltätigkeitsveranstaltung wie die Pest gemieden habe. Jetzt benötige ich mein Notebook, das in einen der Schränke eingeschlossen ist. Das für die Geschäfte mit den spanischen Partnern. Ich kann es mir nicht leisten, weniger als perfekt vorbereitet zu sein.
Es gibt wenig, was ich selbst verwalte. Diese Geräte gehören dazu. Unmengen an internen Daten sind auf jedem einzelnen gespeichert. Keiner meiner Angestellten sollte das zu Gesicht bekommen.
Während ich mich auf einen der Stühle setze, tickt die Uhr penetrant. Als ich das letzte Mal fragte, wie spät es sei, sagte man mir, kurz vor Elf. Seitdem dürfte eine Stunde vergangen sein, in der ich unermüdlich das Holz drehte, um die bereits verschwundene und pulverisierte Karte wahrhaftig ins Nichts aufzulösen. Sie zu vernichten, war ein impulsiver und dummer Schachzug. Man hätte sie womöglich gegen den Grauen Mann verwenden können. Aber nun ist sie weg. Es gelingt mir nicht, diese Tatsache zu bedauern.
Leise summend fährt das Gerät hoch, ich blättere zu den nächsten Diagrammen. Wenn ich ihre Inhalte verinnerlicht habe, lohnt es sich, mich den Tabellen zuzuwenden und danach bin ich fähig, die Mails zu verfassen.
Der leichte Geruch von Vanille liegt noch immer in der Luft. Wie gerne fände ich einen Weg, ihn ein für alle Mal verschwinden zu lassen. Doch ganz gleich wie lang meine Angestellten putzen und wie häufig ich mein Parfum in den Räumen verteilen lasse, der Gestank von Vanille kämpft sich jedes Mal zurück, fast als hätte der Graue Mann Unmengen an Zigarren hier deponiert, die niemand finden kann. Es muss einen Weg geben, gegen ihn anzukommen.
Verspür keine Angst, riet mir Lucinda. Es ist so viel leichter gesagt, als getan. Geh auf keines seiner Angebote ein.
Mit dem Grauen Mann aufrichtig zu verhandeln? Diese Möglichkeit steht längst nicht mehr zur Debatte.
Mit einem gedämpften Klicken öffnet sich der Ordner. Hunderte und aberhunderte Diagrammauswertungen schwimmen mir entgegen. Ich erstelle einen neuen Unterordner, auf den heutigen Tag datiert. Noch wenige Tage bis zur Hochzeit. In einigen Stunden nur noch eine Woche. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass eines meiner Zimmermädchen bemerkte, meine drei Kleider seien angekommen. Wenigstens dieses Versprechen hat Adriana gehalten. Achim und ich sollten ab dem morgigen Tag täglich mindestens vier Stunden den Hochzeitstanz üben. Nichts darf dem Zufall überlassen werden, keine Drehung, kein Schritt. Angemessener wäre es gewesen, bereits Monate zuvor mit den Vorbereitungen zu beginnen. Unsere vollen Terminkalender und meine offensichtlichen Gefühle für Achim haben uns davor bewahrt.
Die Seiten rascheln in einem matten Luftzug. „Schließ das Fenster“, weise ich das Mädchen an. Es nickt. Der Kurvenverlauf verschwimmt kurz vor meinen Augen. Ich blinzle und lehne mich ein Stück weiter nach vorn. „Und bring mir einen Schwarztee.“
Ihre Schritte entfernen sich klackernd. Das Geräusch scheint noch lang in dem Raum hin und her zu schwappen, während ich versuche, mich in den Diagrammen zu vertiefen. Ich blinzle erneut. Etwas muss mit meinen Augen nicht stimmen. Alles scheint unscharf. Ich beuge mich näher an die Grafik heran. Der Sessel verschwindet unter mir. Ich schreie auf. Etwas kracht zu Boden.
Ein Glas zersplittert. Plötzliche Stille.
Schnelle Schritte bewegen sich auf mich zu.
„Oh, seht her. Heute regnet es junge Damen.“ Ein atemloses Kichern ertönt, während man mich unwirsch auf die Füße zieht. Ich stolpere unter der brutalen Geste und brauche zwei Sekunden, um eine angemessene, aufrechte Haltung einzunehmen. Meine Gedanken wirbeln, während ich den fremden Raum in mich aufnehme. Er ist klein und gedrungen. Im Schatten verbergen sich Schriftzüge, die ich nicht erkennen kann, und über den dunklen Dielenboden wurde ein blutroter Teppich gelegt, der sich mit Sekt vollsaugt. Zerbrochenes Glas liegt um mich herum verteilt wie ein zerborstener Heiligenschein. Es grenzt an ein Wunder, dass ich mir keinen Schnitt gefangen habe, weder an den Armen noch an den Beinen.
Ruckartig dreht der junge Mann mich zu sich und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. Ich blinzle. Sie sind schmerzhaft grün. Leuchtend grün, fast wie die Iriden einer Katze im Scheinwerferlicht. Er muss Kontaktlinsen tragen. Augen dieser Intensität habe ich nie in meinem Leben gesehen. „Hat dir denn noch niemand gesagt, dass man die Gläser nur von oben nimmt?“ Sein unverhohlener Hohn strafft meine Schultern. „Dann stürzt die Pyramide ein.“
Ich mache einen Schritt seitwärts, als er meine Hüfte berührt. Keinerlei Scheu ist seinen bestimmten Gesten zu entnehmen. Er berührt mich, als wäre es das Natürlichste der Welt. Ich möchte es mit seinem Zeitalter und einer anderen Mentalität begründen, aber der Mann vor mir trägt Jeans, die man in jedem minderwertigen Geschäft meiner Zeit finden kann. Ein neuer Spaß des Grauen Mannes? Jetzt reise ich nicht mehr in der Zeit, sondern nur von Ort zu Ort?
Eine tiefe Falte stiehlt sich zwischen seine hellen Brauen. „Stehengeblieben, Püppchen. Ich tue dir doch nichts.“
„Das wage ich zu bezweifeln.“ Der junge Mann lacht kühl auf und umfasst meine Taille. Als ich versuche mich zu lösen, hält er mich fester. „Seien Sie so gut und lassen mich los.“ Mein Tonfall duldet keinen Widerspruch.
Er quittiert ihn mit einem gleichgültigen Augenrollen. „Gut erzogen ist das Püppchen nicht. Gut erzogen ist es nicht!“ Als wäre ich tatsächlich nichts mehr als eine willenlose Figur, umfasst er meinen Arm und wirbelt mich zu Gästen herum. Ich versteife mich. Damit hat er die unsichtbare Grenze zersprengt.
„Mein Name ist Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark und ich rate Ihnen dringend dazu, mich loszulassen. Andererseits werden Sie die Konsequenzen zu spüren bekommen.“ Für gewöhnlich? Keine leere Drohung.
Um uns herum ist es totenstill geworden. Der junge Mann lacht schallend auf. Ohne meinen Arm loszulassen, verneigt er sich spöttisch vor mir. „Cameron Izaret, Cam Ralowskowitsch der Name. Du bist ein hübsches Püppchen. Du darfst mich Cam nennen.“ Theatralisch hebt er die Hand, als wolle er den Umstehenden befehlen, still zu stehen. Dabei tun sie das längst. „Keine Eifersucht, meine Schönen. Ich schwöre euch, jeder wird sich dem Meister beugen dürfen. Aber du, du mein Püppchen, zuerst.“ Er legt kichernd den Kopf schief und führt mich herum, als tanzten wir einen Walzer. Kurz lockert sich sein Griff. Ich entreiße ihm mein Handgelenk und stelle mich inmitten der Scherben. Wenn er es wagt noch ein Wort zu sagen, kontaktiere ich meine Security.
„Ralowskowitsch ist ein äußerst interessanter Nachname“, sage ich ruhig. Cam lacht wie von Sinnen. Das rotblonde Haar fällt ihm in die unheimlich grünen Augen. Sie scheinen aus sich selbst heraus zu leuchten. Der Anblick ist widernatürlich. „Es gab da einen Mann, der den gleichen Namen trug. Unter meinem Wunsch ist er nichts weiter als Asche geworden.“
„Ah, ja, das kenne ich.“ Er klatscht in die Hände und spaziert sorglos durch die Scherben, fast als wüsste er nicht, wer ich bin. Das Glas schneidet ihm die nackten Sohlen auf. Blut tränkt den dunkelroten Teppich. Er scheint es nicht zu bemerken. Dieser Gestank, vermischt mit dem Geruch des Sektes, ist übelkeitserregend. „Das kenne ich, meine Schönen, das kenne ich.“ Unsicheres Kichern schwebt durch die Luft. „Ich kann dir sagen, wie man nennt, was dich befallen hat, Püppchen.“ Er erinnert mich an einen kranken Messias. Er gestikuliert zu groß, zu dramatisch, wie ein Schauspieler, der der Bühne verbannt wurde. Lachend wirft er den Kopf in den Nacken. Er sieht mich nicht. Trotzdem gelingt es ihm, mein Gesicht mit beiden Händen zu umfassen. Obwohl ich mich fortducke. Seine Berührung lässt mich versteifen. Die Haut ist zu warm. Viel zu warm, fast als litt er an Fieber. Brennend heiß. Je länger er mich berührt, desto intensiver wird die Hitze. Ich versuche, mich zu lösen. Fingernägel bohren sich in meine weiche Haut.
„Pssst, leise, Püppchen. Leise, hab doch keine Angst. Sieh dir meine schönsten Marionetten an. Sieh sie dir an. Wirkt nur eine so, als würde sie sich fürchten?“
„Sie sollten vor mir in die Knie gehen“, antworte ich schlicht. Er kichert. „Natürlich.“ Den Geruch von Sekt und Blut inhalierend, legt er den Kopf in den Nacken. „Man nennt es Hybris, Püppchen. Hybris wie der Glaube mächtiger zu sein als die Götter.“ Ruckartig sieht er mich an. Seine Lippen verziehen sich zu einem irrsinnigen Feixen. „Ich litt auch daran, bis ich zu Gott wurde. Ich bin dein Gott!“ Seine Stimme hallt gespenstisch von den Wänden wider. Die übrigen Frauen im Raum, scheinen vergessen zu haben, zu atmen. Wie viele mögen es sein? Zwanzig? Dreißig?
Er räuspert sich. „Wo waren wir stehengeblieben?“ Er löst seine Finger von meinem Gesicht und wandert über die Scherben zurück. Er bewegt sich, als empfände er keinen Schmerz. Als liefe er über Federn.
Nachlässig wendet Cam mir den Rücken zu und wendet sich an die übrigen Damen. Sie alle sind gleich gekleidet und ähneln einander in erschreckender Weise. Jede einzelne brünett, jede mit braunen Augen, allesamt groß und durchaus hübsch. Sie alle tragen weiße Blusen mit der gleichen Stickerei auf der Brust. Einem C und einem R. Mein Blick huscht zu dem jungen Mann, der genüsslich die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Seine Initialen?
„Wir wollten feiern, erinnert ihr euch? Den Aufstieg unseres Meisters.“ Seufzend schüttelt er den Kopf. „Das wäre der Moment gewesen, zu dem ich euch ein Glas Sekt anbiete. Aber dort steht ein Püppchen, das ist hineingefallen. Und nicht verletzt.“ Der kurze Blick aus den kreischend grünen Augen lässt mich erschaudern. Langsam bewege ich mich aus dem Kreis aus Scherben. Sie knirschen leise unter den Sohlen meiner Schuhe. Der junge Mann ignoriert das brennende Geräusch, zu beschäftigt mit den zahlreichen Frauen vor sich. Alle gleich alt, alle gleich groß, alle gleich gekleidet. Die Gesichtszüge unterscheiden sich, bei einigen die Haltung, sonst wirken sie wie mit einer Schablone vorgezeichnet und ausgeschnitten.
„Unser Meister, lasst uns darauf trinken!“ Er prostet den Damen zu, ohne ein Glas in der Hand zu halten. „Wundervoll. Da haben wir auf ihn getrunken. Lasst uns die Feierlichkeit später fortsetzen.“ Besitzt der Raum keine Tür? „Mein Püppchen und ich wollen uns ein wenig unterhalten. Nicht wahr?“
Kühl hebe ich die Mundwinkel. „Sobald Sie einen Termin vereinbart haben. Jetzt wäre ich Ihnen äußerst verbunden, könnten Sie mich zum Ausgang geleiten.“
Er gähnt demonstrativ. Die einzige Reaktion auf meine Forderung. Ich beiße die Zähne fest aufeinander. Beinah die ganze Welt kniet vor mir nieder. Auf wen stoße ich in regelmäßigen Abständen? Die wenigen Ausnahmen, die meine Anwesenheit nicht zu würdigen wissen.
„Meine Damen, ihr seid entlassen. Wir sehen uns, wenn die Uhr eins schlägt.“ Als sich nichts rührt, klatscht er glucksend in die Hände. „Hopp, hopp, ab mit euch. Ab ins Bettchen.“ Er spricht zu ihnen wie zu kleinen Kindern. Oder Tieren.
Weitaus schockierender? Die Frauen reagieren auf sein Laienspiel.
Er seufzt schwer, während drei Dutzend nahezu identisch aussehende Frauen im Schatten verschwinden. Eine Tür schließt sich. Ich muss lediglich an ihm vorbei, dann bin ich frei. Ein Leichtes. Ich hebe das Kinn und stolziere über den Teppich, dorthin, wo die Damen entlanggegangen sind.
„Das würde ich nicht tun“, sagt Cam gedehnt. „Der Meister und ich, wir haben soeben beschlossen, sie zu entsorgen. Es wäre eine äußerst blutige Angelegenheit ihnen nachzugehen. Eine Verschwendung, wenn man so will.“ Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu vibrieren. Cam greift nach einer Flasche, die neben der Wand steht, und nimmt einen Schluck. Schreie ertönen, kaum gedämpft von Boden und Wänden. Ich lege die Stirn in Falten. Sie befinden sich unter uns?
„Keine Sorge, das stürzt schon nicht ein und es stinkt auch nicht. Sobald sie zu Abfall zusammengepresst wurden, werden sie in den nächsten Lastwagen verladen und im Zoo verfüttert. Was interessiert den Tiger, ob es Hasen- oder Mädchenfleisch isst? Nur schade …“ Meine Muskeln verkrampfen sich und ich setze alles daran, mich wieder zu entspannen. Cam nimmt einen weiteren Schluck. „Nur schade, dass du ihnen ihre Henkersmahlzeit genommen hast, Püppchen.“ Langsam löse ich die Augen von der schattenhaften Wand. Sein Feixen geht mir durch Mark und Bein. „Es muss dir nicht genauso ergehen. Wir brauchen nur keine brünetten Puppen mehr. Also steigen wir auf blonde um.“ Wir? Er und Echnaton Ralowskowitsch?
„Ich lehne dankend ab. Bringen Sie mich zur Tür.“ Mein eisiger Tonfall könnte ihn nicht weniger kümmern.
Cam lacht. „Eine Katastrophe, dass der seine brünette Freundin abgesägt hat. So viele Puppen für den Müll. Apropos Müll.“ Er deutet mit der Flasche auf mich. „Du kommst mir schrecklich bekannt vor. Habe ich dich schon einmal in das Register eingetragen?“ Er macht mich ratlos.
Dieser Mann sollte zu gut wissen, wer ich bin. Aber ebenso wie ich ihm den unleugbaren Wahnsinn glaube, tue ich es mit seiner Vorgabe, mich nicht zu kennen.
„Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark“, wiederhole ich meinen Namen. „Wenn Sie mir jemals begegnet wären, würden Sie sich daran erinnern.“ Das Schreien unter unseren Füßen erreicht neue Höhen. Hysterisch. Sie stecken mich mit ihrer Panik an. Der Gestank von Blut liegt schwer in der Luft. Ob von dem Teppich oder dem, was unter mir geschieht, kann ich nicht sagen.
„Sie töten unschuldige Frauen?“ Meine Stimme klingt fest. Seit dem Brief, den man in meinem Namen an Anton schrieb, bin ich an meinem Limit angelangt. Mir fehlt die Kraft, um mich zu fürchten. Befremdung bleibt und eine abgrundtiefe Abscheu.
„Was? Nein!“ Cam wirkt aufrichtig entsetzt wie er die grünen Augen aufreißt und die Flasche abstellt. Seine Hände sind seelenruhig, als er ein Blatt Papier aus dem Schrank neben sich zieht und damit beginnt, es auszufüllen. Die Schreie lassen den Boden beben. Trommeln sie dagegen? „Ich töte doch niemanden, Herr Gott. Ich entsorge sie nur. Wen kümmert die Entsorgung von ein paar nutzlosen Püppchen. Ich sag dir eines, Püppchen, sie mögen aussehen wie Menschen und sie bluten sogar wie welche, aber sie sind keine.“ Sein Stift kratzt über das Papier. Es hat eine unsägliche Penetranz an sich. Man hört ihn deutlicher als das verzweifelte Schreien. „Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark, sagst du?“, murmelt er. „Gelb oder violett?“
„Wie gefällt es Ihnen, den Raum wieder säubern zu müssen? Beschert Ihnen das Blut keine Albträume?“
„Nein“, murmelt er konzentriert und schreibt weitere Worte nieder. „Das übernehmen die schwarzen Puppen. Nenn mir eine Zahl von eins bis zweiunddreißig.“
„Neunzehn“, antworte ich schlicht. „Dürfte ich Ihr Geburtsdatum erfahren?“
„Sobald ich deine Unterschrift habe, Püppchen.“ Er hält mir den Bogen unter die Nase. Mein Blick verharrt an dem Datum. Acht Zahlen, die sein Verhalten erklären. Es ist unmöglich, dass er mich kennen könnte. Cam lebte lang vor mir. Der elfte November 1945. Eine Ewigkeit vor meiner Zeit.
„Wo befinden wir uns?“ Ich weigere mich, zu unterzeichnen. Ich lasse den Stift in die blutigen Scherben fallen.
Er gähnt demonstrativ. „Willkommen in Italien, dem schönsten Land der Welt“
Glucksend schüttelt er den Kopf. „Ich sage dir, Püppchen, geh vor die Tür und der Keller ist ein Luxusapartment.“ Die Schreie ersterben. Ich will mir das Schauspiel unter unseren Füßen nicht ausmalen. Also vermeide ich jeden Gedanken daran. „Ich suche schwarze Puppen. Keine schwarze Hautfarbe. Schwarze Haare. Ich bekomme einfach nie welche mit schwarzen Haaren. Schrecklich, oder? Die Welt läuft über von toten Menschen und verstümmelten Menschen und lebenden Menschen, aber niemand hat schwarze Menschen für mich. Ich müsste sie importieren. So weit kommt es noch.“ Er nimmt den Zettel wieder entgegen und dreht ihn. „Die Unterschrift fehlt.“
„Kennen Sie einen Echnaton Ralowskowitsch?“, stelle ich die einzige Frage, die zählt. Das Beben unter meinen Füßen erstirbt. Der betäubende Gestank von Blut bleibt.
„Echnaton Ralowskowitsch.“ Er murmelt seinen Namen wie eine Beschwörungsformel. „Echnaton Ralowskowitsch, mein Retter, mein König, mein Gott!“ Cam reckt die Arme zum Himmel und lacht schallend auf. Sein Ausruf lässt die Lampen heller leuchten. Die Schatten weichen und enthüllen die Schriftzüge. Was ich sehe, lässt mich zusammenzucken.
Dein Glück in meiner Hand.
Spiel. Satz. Sieg.
Der Wahnsinn liegt im Detail.
Gefährlich viele, verworrene Zeichen, die sich über die gelbliche Tapete ziehen. Sie sind zweitrangig. Man schrieb sie mit Blut. Die Spenderin der bitteren Tinte kniet in den weichenden Schatten, das Gesicht ausdruckslos. Blondes, stumpfes Haar fällt ihr in die Augen. Wie ein Tier hockt sie da, einen Arm von sich gestreckt, während das Blut sich in ihrer gewölbten Handfläche sammelt. Dumpf sieht sie auf.
Cam seufzt leise. „Das war meine Lieblingspuppe. Sie ist kaputt gegangen. Es macht mich traurig sie so zu sehen. Du wirst ihren Platz einnehmen, Püppchen. Du bist hübsch.“ Wenn ich Glück habe, springe ich in wenigen Minuten zurück. Dann ist dieser Unsinn vorüber. Für mindestens einen Tag.
„Echnaton Ralowskowitsch ist ein Held“, fährt Cam fort, als ich schweige. Ich kann den Blick nicht von dem Mädchen lösen. Sie gibt keinen Mucks von sich, als sie einen abgebrannten Zigarrenstummel in den Schnitt an ihrem Unterarm taucht und damit die Tapete entlangfährt. „Er hat mich erschaffen.“ Ein zweiter Sohn?
„Sie würden alles für Ihren Vater tun?“, erkundige ich mich angelegentlich.
Cam lacht nur. „Eine Unterschrift, Püppchen, sonst führe ich dich vor meinen Schöpfer.“ Ruckartig lehnt er sich zu mir. Der heiße Atem schlägt mir ins Gesicht. „Er ist mein Schöpfer, Püppchen. Er war es, er allein, der mich vom Schlachtfeld zog und mein Herz wieder schlagen ließ. Er allein gab mir neue Beine und neue Augen. Er allein beherrscht mein Leben und mein Sein, bis ich zum Gott aufsteige und die Puppen tanzen lasse.“
Ich sollte ihm Fragen stellen, versuchen über ihn an relevante Informationen zu gelangen. Mit einem Wahnsinnigen zu konversieren, war nie empfehlenswert. Mein Kopf ist voll, der Verstand überfordert. Der Gestank von Blut liegt noch immer schwer in der Luft. Ich will nur noch nach Hause, mehr als alles andere. Wenn diese Reise den anderen ähnelt, werde ich diesem Sprössling des Grauen Mannes noch mindestens einmal begegnen. Es besteht keine Eile. Wenn ich jetzt gehe, fahren wir das nächste Mal fort.
Ich will heim. Mein Blickfeld verschwimmt. Ich möchte nur noch in mein weiches Bett, die Decke über mich ziehen und die Augen schließen. Das leise Piepen von Antons Monitor im Ohr, um über ihn wachen zu können. Die Statistiken müssten bearbeitet werden. Die Mails verfasst. In wenigen Tagen heirate ich und womit verschleudere ich meine Nächte? Ich höre einem Irrsinnigen beim Träumen zu.
„Echnaton wird mich zum Allmächtigen erheben. Reiche werden unter mir wachsen und fallen“, höre ich ihn rufen, während ich den Boden unter den Füßen verliere. Der Gestank von Blut verschwindet. Es riecht nach zu Hause. Eine weiche Matratze liegt unter mir. Ich spiele mit dem Gedanken, meine Zimmermädchen zu rufen und um einen Beruhigungstee zu bitten. Stattdessen ziehe ich die Decke über mich und vergrabe das Gesicht in dem Kissen. Hysterische Schreie geleiten mich in den Schlaf. Hand in Hand mit wahnsinnigem Gelächter.