Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 8
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Das Räuspern einer Angestellten lässt uns auseinanderfahren. Ihre Wangen sind fiebrig gerötet und sie sieht nervös auf ihre Füße. Zumindest scheint sie zu wissen, dass sie völlig fehl am Platz ist. „Ich wollte nur fragen, ob Sie etwas brauchen.“ Bitter presse ich die Lippen aufeinander. Noch einen Kuss, noch eine Umarmung. Während wir uns geküsst haben, hat Achim mich zu sich auf den Schoß gezogen. Würde ich behaupten, dass mich die plötzliche Nähe gestört hätte, löge ich. Achims gewisperten Worte haben mein Hirn vernebelt wie zwei, drei Gläser schlechter Wein.
Achim räuspert sich und schiebt mich ein Stück von sich. Sein Haar, noch vor einigen Minuten perfektioniert gestylt, stehen wirr in alle Richtungen ab. Es verleiht ihm eine Facette, die Achim schlichtweg nicht ausfüllen kann.
„Zwei warme Mahlzeiten, einen Erdbeersaft und zwei Tee, bitte.“ Seine Stimme klingt belegt. Gefällt es mir, dass er sich meinetwegen so anhört? Ich denke über diese Möglichkeit einige Momente nach, während die Angestellte hastig nickt und mit zittrigen Fingern ein Smartphone aus ihrer Rocktasche zieht. Die Antwort ist ernüchternd einfach: Achims aktuelle Verfassung könnte mir kaum gleichgültiger sein. Achim hilft mir, mich gut zu fühlen, und dafür bin ich ihm dankbar. Im Moment allerdings? Bräuchte ich keinerlei emotionale Bestätigung seinerseits. Sie prallt ohnehin von meiner Kränkung und der Sorge um meinen Ruf und Anton ab.
„Darf ich Ihnen ein Gericht aus der Küche empfehlen?“ Das Mädchen klingt furchtbar nervös.
Achim sieht mich fragend an. Ich zucke die Achseln und rutsche von seinem Schoß, um mich ihm gegenüber auf meinen eigenen Stuhl zu setzen. Der fragile Tisch steht zwischen uns und mit jeder Sekunde, die die Angestellte mit auf dem Balkon steht, scheint er sich mehr auszudehnen. „Eine Hühnersuppe, die wurde mir von Bethany empfohlen. Dazu eine Variation an Broten und exotischen Früchten, selbstverständlich mit einer Auswahl an Käse. Vergessen Sie den Feigensenf nicht.“ Eine kulinarische Katastrophe? Nur so kann ich mir ihr überraschtes Blinzeln erklären, ehe die junge Frau mit den wirren, rötlichen Haaren endlich notiert, was ich diktiert habe.
Achim räuspert sich. „Einen Wildbraten für mich, bitte.“
„Darf ich einen Wein empfehlen?“ Er schüttelt bestimmt den Kopf. Weil sein Verstand ähnlich vernebelt ist? Ähnlich wie meiner? Vor wenigen, himmlischen Momenten. Für eine viel zu kurze Zeit.
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“
„Unsere Bestellungen weiterreichen. Das wäre äußerst hilfreich“, sage ich kühl. Sie fährt zusammen. „Natürlich, Miss. Verzeihen Sie bitte, Miss.“
„Man braucht Sie in der Küche.“
„Verzeihen Sie.“ Die Angestellte knickst hastig, bevor sie auf dem Absatz kehrt macht und davonstürmt, als fürchte sie, ihr Leben zu verlieren, wenn sie nicht sofort verschwindet. Ein eisiger Schauer kriecht mir über den Rücken. Ich bin nicht der Graue Mann.
Achim lächelt mich warm an. „Das habe ich vermisst“, sagt er leise. Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. Anton hätte bei meinem Verhalten abschätzig den Mund verzogen oder begonnen mich mit Beleidigungen zu überhäufen, die ihresgleichen suchen. Und, aus einem mir unerfindlichen Grund, wäre mir seine Reaktion lieber gewesen.
„Dass ich Menschen umherscheuche?“
Er wiegt nachdenklich den Kopf. „Nein“, entscheidet Achim dann. „Dass du Du selbst bist. Das tust, was du immer getan hast. Es tut gut, wieder dich zu sehen und nicht jemanden, den Echnaton Ralowskowitsch mühevoll erschaffen wollte.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und löse die Zähne einen Atemzug später wieder. Diese kleinen Gesten, ich muss sie mir schnellstens abgewöhnen. Sie zeigen mehr von dem, was mich bewegt, als an den Verhandlungstisch gehört. Die Person, die ich geworden bin, ist unfähig, einen Dialog erfolgreich zu absolvieren. Ein Event ist schon zu viel für diese Frau! Ich bin ein Schatten meines Selbst. Finde ich nicht zu mir selbst zurück, verliere ich mehr als nur Anton.
„Es tut gut wieder ich selbst zu sein“, sage ich mechanisch. Mein Blick schweift zu den piependen Monitoren. Antons Herzschlag. Langsam, regelmäßig, schlafend. Es hat keinen Zweck länger an seinem Bett zu wachen. Er wird die Augen nicht aufschlagen und wenn doch, wird er sich wünschen tot zu sein. All diese Apparaturen grenzen an Hexerei und ich habe eindrucksvoll gelernt, wie sehr er sich vor ihr fürchtet. Dabei hat er die eigentlichen magischen Mixturen in seinem düsteren Nebenzimmer gebraut. Wenn Anton aufwacht, wird er sich von seinem geliebten Verstand verabschieden müssen. Gut möglich, dass er mich nicht sehen möchte.
Wer weiß, was der Graue Mann ihm eingeflüstert hat.
Warum soll ich an seiner Seite bleiben, wenn es für mich nichts mehr zu hoffen gibt? Ein Besuch in der Woche genügt völlig. Das wäre angemessen.
Tatsache ist, ich kann weder Achim noch Anton in die Augen sehen, aber mich selbst besser ertragen, wenn ich in Achims Nähe bin. Dann bin ich Ich. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Die Göttin, die über Zahlen und Gelder herrscht. Vor Anton bin ich ein Nichts. Ich habe All In gespielt und alles verloren.
Für einen Mann.
Es ist erbärmlich.
„Beabsichtigst du demnächst nach Hause zu kommen?“
Ich sehe Achim mit schiefgelegtem Kopf an. „Zu meinen Eltern oder zu dir?“
„Zu mir. Nach Hause.“
Ich lächle bitter. Rhythmisches Piepen. Es bringt mich um den Verstand. Glaubt Achim wirklich, dass nach allem, was er mit angesehen und angerichtet hat, er noch ein Zufluchtsort für mich ist? Der einzige Platz, an dem ich mich Daheim gefühlt habe, wurde von dem Grauen Mann vergiftet. Es fühlt sich an, als würde Säure durch Anton laufen und ihn in stinkenden, tödlichen Schwaden umgeben, sodass ich gezwungen bin zurückzuweichen.
„Beizeiten“, antworte ich glatt. Achims Lächeln wird breiter und er greift wieder nach meinen Händen. Am liebsten würde ich sie wegziehen. Soll er mich küssen und mich damit etwas besser fühlen lassen, aber alle Berührungen, so zart sie sein mögen, sind winzige Dolche in meiner Seele. Auch Achim hat der Graue Mann mir genommen. Nur auf eine andere, subtilere Weise. Anton hat er mir gestohlen. Die Entscheidung, Achim gehen zu lassen, hat er mir binnen angstvoller Sekunden aufgezwungen. Nachdem einige Meter unter mir einem Mann das Herz in der Brust verkümmert ist.
„Das freut mich zu hören. Ich werde deine Zimmermädchen sofort anweisen, ihr Bestes zu tun, um dich angemessen Willkommen zu heißen.“
„In meinen Räumlichkeiten im Clark-Tower?“ Allein der Gedanke daran, dieses Gebäude wieder zu betreten, dreht mir meinen Magen um. Alles Schlechte ist mir dort widerfahren. Wer weiß, vielleicht lauert Echnaton Ralowskowitsch in meinem Schlafgemach und wartet darauf seinen nächsten Schachzug zu spielen?
„Natürlich. Ich werde die nächsten vier Wochen in den Staaten bleiben. Die Geschäftspartner reisen an. Ich habe ihnen diverse Ultimaten gestellt.“ Meine Augen brennen. Ich blinzle die Tränen fort. Dazu war er nie in der Lage, als ich ihn um mich haben wollte?
„Das ist aufmerksam von dir. Danke.“
Achim folgt meinem Blick. „Er wird heute nicht aufwachen.“ Ich nicke nur. Das wird er nicht, nein. Auch nicht morgen oder übermorgen. Er ist noch nicht bereit dazu. Wer weiß, ob er es jemals wieder sein wird.
„Denkst du, ich sollte mich bereits um eine Grabstätte sorgen?“ Die Worte verätzen mir die Zunge. Allein sie auszusprechen, gleicht Hohn. Als würde ich alles verraten, wovon ich jemals zu träumen gewagt habe. Träume sind Schäume, so heißt es doch. Dünn, vergänglich und von Beginn an dazu verdammt, sich im Nichts zu verlieren. Anton ist die Personifikation all meiner Hoffnungen. Es wäre nur allzu passend, würde ich ihn zu Grabe tragen.
„Es muss keine große Veranstaltung werden und ich würde sie gern einige Wochen nach der Hochzeit abhalten“, fahre ich fort. „Wir würden lediglich einen Liegeplatz benötigen und einen Grabstein.“ Ich kenne weder seinen vollen Namen noch das Geburtsdatum. Im Ganzen weiß ich nichts über Anton. Weniger als nichts. Keine Eckdaten, kaum Fakten. Wie skurril, dass man sich um jemanden sorgen kann, der in der kognitiven Datenbank kaum existiert. „Ein kleines Fest, ohne Medienpräsenz. Wir könnten es auf den Tag von Monsieur Depóts Beerdigung legen.“ Zwei Wochen nach unserer Hochzeit. „Man würde unserer Beisetzung kaum Beachtung schenken.“
Achim umfasst meine Hände fester. Schmerzhaft intensiv. Ich rolle einmal den Kopf, ehe ich ihn ansehe. „Noch ist er nicht tot“, sagt Achim leise. „Wir sollten noch lange nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass er zurückkommt. Seine Wunden sind schwer, aber man kann sie überstehen.“ Weiß er, was der Graue Mann ihm angetan hat? Diese Frage brennt mir auf der Zunge. Ich bin zu feige, sie zu stellen.
„Anton ist bereits seit Jahrhunderten tot“, stelle ich nüchtern fest. „Er gehört nicht in unser Jahrtausend.“
„Also möchtest du mit der Ungewissheit leben, ob er jemals wieder aufgewacht wäre?“
Ich lache leise auf. „Er ist seit Jahrhunderten tot“, wiederhole ich langsam, als spräche ich mit einem kleinen Kind. „Es wäre nur fair, es dabei zu belassen.“ Ich lehne mich nah zu Achim. Sein warmer Atem tastet behutsam über meine Wange. „Meine Entscheidung sollte dich erfreuen.“
Er seufzt leise und gibt mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. „Ich verstehe dich“, flüstert Achim. „Und genau aus diesem Grund empfinde ich Enttäuschung. Ich dachte einst ebenfalls, dass ich Geschehenes rückgängig machen könnte, wenn ich das verschwinden lasse, was er mir gegeben hat.“ Er. Der Graue Mann. „Aber es bringt rein gar nichts. Darauf spielt er an. Das ist sein Ziel. Er will, dass wir uns selbst ausreichend verletzen, damit wir ihm flehend zu Füßen fallen.“
Meine Schultern verspannen sich unwillkürlich, während ich Achims stechendem, klarem Blick standhalte. Seine Iriden sind kalt wie Eis und so unsagbar leer. Ich sehe mich selbst darin. Meine sterbenden Hoffnungen und Träume, jede der Hybris entwachsene Fantasie. Es ist ein schmerzhaftes Bild, schneidend und einprägsam. Genau aus diesem Grund ist er ein brillanter Anwalt. Es braucht nur einen Blick in seine klaren Augen und schon ist man mit all dem konfrontiert, was man nicht mehr sehen kann. Jeder knickt ein, wenn er seinen eigenen Abgründen gegenübersitzt. Facetten, die man erst mit dem Tod verscharren wollte und die gedacht waren, denjenigen mit einem einzigen Flehen wieder aus der maroden Grabstätte zu zerren.
„Ich habe mich ihm entzogen“, sage ich. „Er hat keine Macht über mich und er hatte sie nie. Ende.“
„Das klingt wie aus dem Mund eines störrischen Kindes.“ Achim wirkt so sanft, als er halb aufsteht, um mich von meinem Stuhl zu ziehen und auf seinen Schoß zu führen. Widerstrebend setze ich mich. Sein Geruch verursacht mir Übelkeit. Er soll mich küssen oder loslassen. „Ich liebe dich so sehr, Chrona. So sehr. Ich würde nie zulassen, dass du etwas tust, das er gegen dich verwenden kann.“
„Er wird Antons Leben verwenden, um mich für sich zu gewinnen.“
„Möglich“, gibt Achim zu. „Aber viel mehr seinen Tod, wenn du es warst, die sein Leben beendet hat. Du könntest kein Auge mehr zu tun.“ Schlafen? Schon jetzt ein Wunschdenken.
„Wenn du meinst.“ Meine Gleichgültigkeit ist endgültig.
„Lass ihn wenigstens noch zwei, drei Monate leben, Liebste. Besuche ihn. Er besaß eine Affinität für dich.“
„Du hast keine Ahnung, was du da sagst.“
Achim streicht mir eine Strähne hinter das Ohr. „Vielleicht.“ Ein hauchzarter Kuss in meinen Nacken, der mir eisige Schauer über den Rücken jagt. „Vielleicht aber auch nicht.“ Ich rolle die Augen. Diese Möglichkeiten werde ich nicht mit ihm diskutieren. Entschlossen drehe ich mich zu Achim um, vermeide seinen Blick zu streifen und drücke meine Lippen ohne Umschweif auf seine. Ablenkung.
Achim seufzt leise. Anton hat das nie getan. Man hätte fast meinen können, er hat Angst vor dem gehabt, was da zwischen uns war. Genauso wie ich. Achim aber, er kennt keine Sorge, wenn er mich küsst. Er vergisst sich, während er sich näher zu mir lehnt, die Augen geschlossen und eine Hand an meiner Wange.
Gut möglich, dass ich ein Parasit bin, der ihm alle Hoffnungen und Wünsche aus dem Körper zieht, um sie in mich aufzunehmen. Um den nächsten Tag zu überstehen. Gut möglich, dass ich ein Engel bin, der Achim genau das gibt, was er verdient.
„Ich liebe dich“, flüstert er erneut. Die Worte klingen unwirklich. So lange wollte ich sie aus seinem Mund höre, jetzt fühlt es sich an wie ein weiterer Faden in dem geplanten Wollknäul des Grauen Mannes. Der Gedanke, dass ich, egal was ich tue, Echnaton Ralowskowitsch in die Karten spiele, macht mir furchtbare Angst. Mehr als Achim jemals verstehen könnte.
Es ist wieder ein Räuspern, das uns auseinanderfahren lässt. Dieses Mal stammt es von Bethany. Sie wirkt amüsiert, als sie die Platten abstellt und die Getränke dazu serviert. Von dem frischen Brot steigt ein göttlicher Duft auf, der Käse wurde liebevoll in Röschen angeordnet. „Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit“, sagt sie. „Darf ich Ihnen noch eine Aufmerksamkeit bringen?“
„Bei Bedarf rufen wir Sie“, nimmt Achim mir das Reden ab. Ich komme nicht umhin, Dankbarkeit zu verspüren. Mir lag eine weitere bissige Bemerkung auf der Zunge. Bethany hat sie aktuell nicht verdient.
„Natürlich. Genießen Sie das Dinner.“ Sie knickst vor uns, ehe sie gemessenen Schrittes geht. Einen kurzen Blick wirft sie noch auf Anton, sicher verkabelt und daliegend wie tot. Es würde weniger schmerzen, wenn ich nur noch seinen Grabstein besuchen müsste. Ganz bestimmt. Einmal im Jahr, um zu überprüfen, ob er noch steht, bevor das Grab nach zwanzig Jahren geräumt wird. Anton ist lange tot und begraben. Daran ändert kein Wunschdenken der Welt etwas. „Möchtest du bleiben?“, fragt Achim mich leise. Seine Mundwinkel zucken amüsiert, als er auf seinen Schoß deutet. Wortlos gebe ich ihm einen Kuss und setze mich auf meinen eigenen Stuhl.
„Ich nahm an, wir wollten essen.“
Seine Antwort ist ein weiteres überglückliches Lachen. Als er den Kopf schüttelt, fallen ihm die wirren blonden Haare in die Stirn. Es steht ihm nicht. Ganz und gar nicht.
Als ich am Abend meine eigenen Räumlichkeiten betrete, ist es wie ein Schritt in fremde Welten. Die weiten Zimmer, aneinandergereiht in schierer Unendlichkeit, perfektioniert durch architektonisch brillant angeordnete Spiegel und makellos gesetzte Fenster, geleiten mich über Meter und Meter, die durch Luxus nicht brillanter glänzen könnten.
Nach den Tagen in dem einfachen, wenn auch eleganten, Krankenhauszimmer, wirken die Jahrtausendealten Vasen ausschließlich antik, nicht schmückend. Meine Diamantlüster und die in die Wände eingelassenen Smaragde sind zu protzig, die samtigen Teppiche glitzern unter dem eingesponnenen Diamantstaub, der mir jetzt nur noch in den Augen schmerzt.
Wenige Tage sind es bis zur Hochzeit. Wenige Tage, um mich wieder an meine eigene Welt zu gewöhnen. Wie kommt es, dass ich in so kurzer Zeit abgedriftet bin? Ich bin führerlos und finde keinen Weg zurück. Ein Teil von mir möchte sein, was Anton in mir gesehen hat. Diese Frau ist mir verboten wie ein unbesorgter Spaziergang auf offener Straße.
Eines der Zimmermädchen dreht die Porzellanstatue so, dass das Licht der Straßen sie in allen Regenbogenfarben erstrahlen lässt. Zarte Finger einer Nymphe werden blau, das Gesicht noch bleicher, fast als erfröre sie. Ein eisiger, einsamer Tod unter den Lichtern der Stadt. Zögernd presse ich meine Handfläche auf ihre. So kalt. So perfekt. So glatt. Als führte ich ein Kind herum, drehe ich sie zurück. Die Lichter fließen an ihr hinab wie alte Farben und sammeln sich auf der Glasplatte zu ihren Füßen. Auf den Spitzen steht sie, fast würden ihr nun Flügel wachsen, mit denen sie fortfliegen kann. Raus aus ihrem kleinen Teich. Aber wenn sie sich von diesem Sockel losreißt, dann wird sie fallen und mit ihren Ideen in tausend Scherben zerbrechen. Es ist überraschend, dass sie Casper und Elaine überlebt hat. Gefühlt die Hälfte meiner Einrichtung ist während ihrer Spielereien zu Bruch gegangen.
Jetzt sind sie ebenso verschwunden wie die Engel, die in mein Leben kamen, ohne dass ich darum gebeten hätte, und genau dann gingen, als ich ihren Beistand am dringendsten benötigte. Adriana nannte mich einmal ihre Freundin. Wenn ich das wirklich war, wo ist sie dann jetzt?
Kühle, klimatisierte Luft schweift an den Fenstern vorbei und lässt die hellen, zarten Stoffe wie Segel im Wind spielen. Ich schalte die Lüftung aus. Es ist kalt genug hier drinnen.
„Miss, wie wundervoll, dass Ihr wieder Daheim seid.“ Das Mädchen mit den mausbraunen Haaren knickst vor mir. Sie lächelt, scheint aufrichtig glücklich zu sein. Weiß sie nicht, dass ihre Kündigung nur noch eine Unterschrift meinerseits benötigt? „Darf ich Euch etwas bringen? Ein Wasser? Ist es mir erlaubt, Euch ein Bad einzulassen?“
„Gern.“
„Vielen Dank.“ Sie dreht mir den Rücken zu, um davonzueilen. Mitten in der Bewegung hält sie inne und lächelt mich noch einmal an. „Es ist schön, dass Ihr wieder da seid“, wiederholt sie. Ihre Begeisterung lässt mich kalt.
„Ja“, sage ich nur. „Leg mir bitte neue Kleidung bereit.“
„Natürlich. Natürlich, das wird sofort veranlasst. Die Post? Darf ich Ihnen die Post bringen?“
Ich zucke die Achseln und sehe auf die Straße hinab. Unter mir wütet das Leben. Das erste Mal erscheint es mir, als hätte ich die Kontrolle über das Treiben dort unten verloren. Ich sollte einige Aktien fallen lassen und einem Markt beim Kollabieren zusehen. Wenn sich dann etwas verändert, dann weiß ich, dass es meinetwegen geschehen ist. Ich hätte die Kontrolle zurück. Eine Ahnung davon.
„Ich bringe sie Euch. Genießen Sie den Abend.“
Sie ist fast aus dem Raum.
„Gioseppe Riva“, sage ich. „Hast du noch Kontakt zu ihm?“
Das Mädchen verharrt auf der Stelle und beißt sich auf die Unterlippe. Der betroffene Blick auf den Boden ist Antwort genug.
„Ich möchte, dass du ihn kontaktierst. Ich möchte, dass du eine Konversation veranlasst.“
Das Mädchen mit den mausbraunen Haaren blinzelt irritiert.
„Wie Ihr verlangt, Miss. Kann ich sonst noch etwas tun?“
„Mein Bad einlassen.“
„Natürlich.“
Ich nicke ihr zu und lasse mich auf meine Couch sinken. Der fein gestickte Bezug hat seinen Glanz verloren. Er wirkt zu makellos gearbeitet, um in irgendeinen Raum zu passen. Am wenigsten gehört er in mein zerbrochenes Reich. Ich lehne mich auf den Blattstickereien zurück und schließe die Augen. Der bekannte Geruch nach Pfefferminze und Putzmitteln steigt mir in die Nase. Und eine Nuance Vanille?
„Darf ich Euch in das Badezimmer bringen?“, fragt mich eine Angestellte gedämpft. Ich nicke stumm und ohne die Augen zu öffnen. „Möchtet Ihr einen Vanilletee haben? Es ist eine neue, äußerst schmackhafte Kreation der Küche.“ Ich war gerade aufgestanden. Bei dem Wort „Vanille“ stolpere ich über meine eigenen Füße.
„Nein“, sage ich bestimmt. „Nein. Ich hasse Vanille. Ich will nicht, dass hier irgendetwas nach Vanille riecht. Weder ein Parfum noch eine Zigarre, Tee oder Putzmittel. Ich verbitte mir Vanille in meiner Umgebung. Hast du das verstanden?“
„Selbstverständlich, Miss.“
„Gut. Bring mich ins Bad. Veranlasse eine Massage.“
„Natürlich.“ Das Mädchen läuft hinter mir, während ich auf die Tür zugehe, aus der sanfter Dampf hervorquillt. Die Schwaden rollen sich über die Marmorplatten. Wie amüsant, dass etwas so Vergängliches alles unter sich begraben kann, was ihm beliebt. Der Dampf erinnert mich an den Qualm der Zigarre. Der Duft von Vanille liegt mit absoluter Sicherheit in der Luft. Kommt er aus dem Badezimmer?
„Ich habe gesagt, keine Vanille!“, rufe ich.
„Pfefferminze“, verbessert die Angestellte mich leise. „Wir haben Pfefferminze beigesetzt. Das mögt Ihr doch so gern.“
„Hier stinkt es nach Vanille!“ Ich höre meine Verzweiflung selbst. Er treibt mich in den Wahnsinn. Es fühlt sich an, als wäre er hier. Stände direkt hinter mir. Aber da ist niemand. Nur dieser grässliche Geruch, der mir die Tränen in die Augen treibt.
„Die Post, Miss“, sagt das Mädchen mit den mausbraunen Haaren leise. Dumpf sehe ich auf das Tablett, das sie mir hinhält. Ein Brief, ein einziger.
Meine Finger zittern unkontrolliert, als ich ihn von dem Tablett nehme und neben dem Wannenrand ablege. Man entkleidet mich. Kühle Luft küsst meinen nackten Körper. Ich genieße das Gefühl. Als ich in das heiße Wasser steige, fühlt es sich an, als rufe man mich zurück ins Leben. Es duftet nach Pfefferminze, ich weiß es. Aber der Gestank von Vanille ist übermächtig. Nimmt es denn niemand außer mir wahr?
„Ruft meinen Verlobten.“ Zwingt der Graue Mann mich, den Verstand zu verlieren? „Ich möchte Achim hier wissen.“ Irgendetwas in meiner Stimme lässt meine Zimmermädchen sofort nicken, ohne den Blick von mir zu lösen. Sie wirken erschrocken. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark verliert niemals die Beherrschung. Irgendwo zwischen damals und heute muss ich mich verlaufen haben. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark ist nicht mehr.
„Ich kümmere mich darum, Miss“, sagt die mit den mausbraunen Haaren. Das Mädchen scheint erleichtert darüber, aus dem Raum zu sein. Beim Einstieg in das schäumende, warme Wasser zittere ich am ganzen Körper. Ob Anton die Augen aufschlagen wird heute Nacht?
Wird er nicht. Man hätte ein Anzeichen sehen müssen. Er würde mich ohnehin nicht um sich haben wollen. Ich habe ihn fortgestoßen, nachdem er mir gezeigt hat, an welchen Veranstaltungen er gezwungen wird teilzuhaben. Ich habe ihn in die Arme des Grauen Mannes getrieben.
Das Wasser kräuselt sich um meine Haut, legt sich behutsam um meinen Hals und lässt meine Lider schwer werden. Bevor meine Angestellten mit der Maniküre beginnen, öffne ich den cremefarbenen Umschlag. Eine Blüte segelt hinaus und auf das schaumgekrönte Wasser. Der Gestank von Vanille überwältigt mich. Hektisch sehe ich mich um. Er ist nicht anwesend. Nur Einbildung?
Meine Hände beben erbärmlich, als ich den Bogen auseinanderfalte. Das Papier glänzt seidig. Als hätte man es aus weißen Rosenblättern gewoben. Es fühlt sich genauso an. Weich, etwas kühl, furchtbar zerbrechlich.
Während ich die sorgfältig geschriebenen Zeilen überfliege, beginnt sich ein unsichtbarer Strick wie eine Schlange meinen Körper hinauf zu schlängeln und sich mit jedem Wort etwas fester zu ziehen. Tränen treiben mir die wenigen Sätze in die Augen. Nicht der Trauer, nicht der Verzweiflung. Der Wut.
Meine geschätzte Miss Clark,
gefällt dir nicht der Briefbogen, dann tut es die Vanilleblüte und wenn selbst das nicht, dann die Tatsache, dass nicht einmal der Alchemist selbst sich ewig schlafen lassen kann, ohne zu versterben.
Rahme dir mein Andenken, Kind. Sieh auf die Blüte, auf den Bogen, auf das Blut des Alchemisten und beantworte dir eine Frage: Willst du mein Schatten sein? Meine Marionette? Bleibst doch ein Bauer, während du deinem eigenen Glanz erliegst.
Liebe deinen Nächsten, sagte der Messias. Ich bin dein Messias, Kind. Liebe deinen Nächsten und wenn nicht ihn, dann mich. Bleibe mein, bis dass der Tod uns scheidet.
Capatio Burattinaio
Ich stehe kurz davor zu schreien, als ich den Briefbogen neben die Wanne schleudere und nach der Vanilleblüte greife. Die zarten, gelblichen Blätter knicken unter meinem Griff. Ich balle die Hand zur Faust und stemme mich aus dem Wasser.
„Miss, Ihr wolltet Euch entspannen.“ Blut befleckt den Rand des Briefbogens. Wie eine grausame Ranke schlingt es sich einmal herum. Wie frisch ist es? Was, wenn er Anton etwas antut? Gerade jetzt?
„Kleide mich an. Bringe mich ins Krankenhaus.“
„Miss, Ihr seid gerade erst …“
„Bringe mich ins Krankenhaus!“, kreische ich. Mein gesamter Körper bebt. „Bring mich dahin, sofort. Und verbrenn das. Verbrenn das alles!“ Die Zimmermädchen wirken von der Rolle, als sie auswuseln und meinen Befehlen Folge leisten. Stumm werde ich eingekleidet.
„Der Chauffeur wartet“, wispert eine meiner Angestellten. Sie knickst tief und hastet davon, ehe ich sie erkennen kann oder einen weiteren Befehl rufe.
„Miss, Ihre Schuhe …“
„Sendet meinen Verlobten schnellstmöglich ins Krankenhaus“, unterbreche ich sie. „Versuch Adriana oder den Rektor des Darkwood-Colleges zu erreichen. Ich benötige beide vor Ort. Verbrenn die Blüte und den Brief.“
„Miss, von welcher Blüte sprecht Ihr?“
Ich sehe sie an, als wäre sie wahnsinnig. „Diese da.“ Auf dem Boden liegt keine. Ich bin kurz davor zu hyperventilieren, als ich die Hand umdrehe. Die Blütenblätter kleben an meiner Haut. Hastig kratze ich sie ab. Kratze, lasse sie zu Boden regnen. Kratze, bis die Haut blutet. Sehe auf den Boden. Da liegt sie doch. Da liegt die Blüte. Trotzdem prangt sie wie ein Tattoo auf meiner Handfläche. Sie scheint zu wispern: bis dass der Tod uns scheidet.