Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 7
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„Darf ich Ihnen die Hochzeitsplaner reinschicken?“, fragt Bethany mich, nachdem sie Antons Verbände gewechselt hat und er wieder regungslos auf seinem Kissen liegt, das Gesicht weiß wie das Laken. Ich zucke die Achseln. Noch wenige Tage bis zur Trauung.
Anton hat die Augen noch immer nicht aufgeschlagen. Seine Wunden verheilen quälend langsam. Adriana ist nicht erreichbar, ebenso wenig wie Jeanne, Casper oder der Rektor. Seit meiner Auseinandersetzung mit Jeanne vor zwei Tagen scheinen alle vier wie vom Erdboden verschluckt. Ich kann nicht behaupten, dass mich dieser Umstand tatsächlich kümmern würde. Sie sind Teil eines Traums gewesen, der niemals Wirklichkeit werden wird.
„Wie steht es um die Wundheilung?“, erkundige ich mich, kaum dass Bethany mein Einverständnis weitergegeben hat. Sie schenkt mir ein kleines Lächeln.
„Er macht Fortschritte.“
„Und warum wacht er dann nicht auf?“
Behutsam breitet die Schwester die Decke über ihm aus. „Er wird noch nicht dazu bereit sein.“
Ich verkrampfe mich. Oder all das ist nur ein weiterer Trick des Grauen Mannes, um mich zur Verzweiflung zu treiben. Damit ich mich ihm endlich beuge. Nach seinen korrupten, perfiden Regeln.
„Sie dürfen gehen.“
Bethanys Mundwinkel zucken. Wann immer ich ihr dieses Zugeständnis mache, scheint es sie ausgenommen zu amüsieren. „Natürlich, Miss.“ Während ihre Schritte sich im Gang verlieren, straffe ich die Schultern und stehe von der weichen Couch auf. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark sitzt weder kraftlos auf einem Sofa, noch wartet sie Tage darauf, dass jemand die Augen aufschlägt. Sie flaniert aus geschäftlichen Gründen an den Fenstern entlang und wirft hin und wieder einen wegwerfenden Blick in Richtung des Kranken. Aber, egal wie nebensächlich ich versuche Anton anzusehen, mein Blick verharrt immer an seinem geschundenen Gesicht. Die Augen sind weiterhin leicht zugeschwollen, die Lippen so blau, dass man meinen könnte, er erfriert unter seiner warmen Daunendecke.
Ich gehe von ganz allein auf ihn zu. Hier ticken die Uhren anders. Während ich gewöhnlich für Stunden still sitzen und mich meinen Aufgaben widmen kann, verlerne ich diese Tugend hier jeden Tag aufs Neue. Behutsam streiche ich Anton eine stumpfe, dunkle Strähne aus der Stirn. Die Haut fühlt sich rau unter meinen Fingern an, auf eine seltsame Weise wie Pergament. Ich habe sie wärmer in Erinnerung, lebendiger. Ich habe ihn wärmer in Erinnerung.
Lebendiger.
Mit ausdrucksstarken Augen und seiner fesselnden Gewohnheit, einen von seinen Ideen zu überzeugen. Jeden Tag, den ich neben Antons schlafender Gestalt wache, vermisse ich seine warme Stimme mehr, das kleine Lächeln und das weiche Lachen, das mir zu jeder Zeit unter die Haut ging. Kann Warten wirklich so schmerzhaft sein, wenn einem jemand wichtig ist? Derart zermürbend und bekümmernd?
Vorsichtig berühre ich seine Lippen. Sie sind rauer und die Haut spannt sich über der Schwellung. Wie heftig er sich dagegen gewehrt hat, dem Grauen Mann zu gehorchen. Wie viel er für seinen Stolz hinnehmen musste. Und das Schockierendste erwartet Anton erst noch, wenn er die Augen öffnet und sieht, dass man ihn an Maschinen anschloss, die er sich nicht ausmalen kann.
Ich werde die kleine Besprechung auf dem Balkon abhalten. Wenn er ausgerechnet in dieser Stunde meiner Hochzeitsvorbereitungen die Augen aufschlägt und ich nicht bei ihm bin, könnte ich es mir nicht verzeihen. Obwohl Anton doch nur schläft, ist sein Haar schweißnass, immer, zu jeder Zeit, als hätte sein Kampf nie geendet. Gegen die Schmerzen oder die Albträume, die der Graue Mann ihm in den Kopf pflanzte? Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Es ist ein unangenehm ungewohntes Gefühl hilflos zusehen zu müssen. Kein Geld der Welt kann Antons Bewusstsein kaufen. Wäre das möglich, ich hätte es längst getan. Als Wiedergutmachung dafür, dass ich ihn in den Fängen des Grauen Mannes gelassen hätte. Ihn diesen Strapazen bis zum Tod ausgesetzt hätte.
Meine Finger beben leicht, als ich ihm über die Wimpern fahre. Sie sind genauso weich, wie ich es mir vorgestellt habe. Keine meiner Berührungen lockt ihn aus seinem schwarzen Nichts. Er verharrt dort beharrlich und treibt mich in den Wahnsinn.
Ich spiele gerade mit dem Gedanken, Anton einen Kuss zu geben, als man leise anklopft. „Begeben Sie sich bitte auf den Balkon“, weise ich die Hochzeitsplaner an, ohne mich umzudrehen. Vorsichtig stopfe ich die Decke noch etwas fester um Anton und gebe ihm den obligatorischen Kuss auf die verschwitzte Stirn.
„Darf ich dir einen Saft bestellen?“
Ich zwinge mich, bei seiner Stimme nicht zusammenzuzucken. Mit vor der Brust verschränkten Armen, drehe ich mich zu Achim um. Er steht vor der Tür zum Balkon und obwohl er mir den Rücken zugewandt hat, eine Hand in der Tasche und sich gewohnt aufrecht hält, kommt er mir schrecklich verloren vor. Ich spiele mit dem Gedanken, einen Funken Mitleid zuzulassen. Antons Zustand lässt mich dagegen entscheiden. Ich werde Achim heiraten, das genügt. Damit ist meinem Ruf geholfen und ich habe freie Hand in meinen künftigen Entscheidungen. Ein netter Bonus? Abstand. Mit etwas Glück kann ich einige Termine in die Flitterwochen legen.
„Selbstverständlich. Das Personal ist äußerst freundlich. Es wird dir eine Aufmerksamkeit zukommen lassen, wenn du darum bittest.“
Achim nickt. Er legt den Kopf leicht schief, während er in den lebendigen Park blickt. Beobachtet er die Vögel, so wie ich es in meinen freien Minuten tue? Fragt er sich, wie die Menschen im Rollstuhl nur so ausgelassen lachen können, obwohl ihnen ein großer Teil der Lebensqualität genommen wurde?
„Dann werde ich das tun, sobald jemand hereinkommt.“
„Ich habe dich nicht erwartet“, sage ich kühl. Bethany hat die Hochzeitsplaner angekündigt. Nicht den Mann, dem ich nicht mehr in die Augen sehen kann. Der mir nah genug war, damit es meine Enttäuschung rechtfertigen könnte, aber den ich bis ans Ende meiner Tage an meiner Seite wissen wollte. Destotrotz. Weil ich nie gelogen habe, als ich sagte, dass ich ihn liebe.
„Wenn du mich erwartet hättest, hättest du mich nicht eingelassen.“
Ich höre das traurige Lächeln in seiner Stimme. Mit festen Schritten gehe ich auf Achim zu und öffne die Tür. „Wärst du so gut?“ Ich deute mit einem Kopfnicken auf einen der Stühle. Er hebt teilnahmslos die Schultern und spaziert hinter den fragilen, weißen Tisch. Vielleicht ist es das, was ihn so verloren wirken lässt. Diese Gleichgültigkeit jeder seiner Bewegungen, die ihn automatisiert erscheinen lässt. Achim ist bestimmt, nicht verloren.
Zu jeder anderen Zeit.
„Werden in den nächsten Stunden Hochzeitsplaner erscheinen?“, erkundige ich mich angelegentlich und lasse mich auf den freien Platz sinken. Der Duft von Kräutern, Pflanzen, Früchten steigt mir in die Nase. Wie im Klostergarten. Nur, dass mir dort ein anderer Mann gegenübersaß.
Durch die saubere Glasscheibe behalte ich den guten Blick auf Anton. Die Tür bleibt offen. Ich möchte die Geräte hören. Nur falls sich sein Puls beschleunigen sollte.
„Ich habe die Materialien hier“, sagt Achim und faltet die Hände auf dem Tisch. Meine Lippen verziehen sich zu einem bitteren Lächeln.
„Ist der Tag schon durchgeplant?“ Das letzte perfekte Event hat mich von meinem Thron gestoßen.
„Ja.“ Mehr sagt er nicht. Stattdessen sieht Achim mich mit einer Intensität an, die meine Hände kribbeln lässt. Ich versuche seinem Blick standzuhalten. Erfolglos. Ich wende meine Aufmerksamkeit den Meisen zu. Sie huschen durch das dichte Laub und rasen mit voller Geschwindigkeit zurück unter die Sonne.
„Warum bist du dann hier? Meine Aufgabe besteht darin, einen Eheschwur auswendig zu lernen, drei schöne Kleider zu tragen und die Gäste beim Namen zu nennen.“ Unter denen Monsieur Depót nicht sein wird. Dafür Gioseppe Riva, wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, die durch die Medien geistern. Die wildesten Mutmaßungen werden angestellt, bis zu der, dass Gioseppe mein heimlicher Geliebter sei und diese Festlichkeit boykottieren will. Auch an der Presse sind die Spannungen zwischen Achim und mir nicht vorbeigegangen. Wie könnten sie auch? Ich bin allein und steif zurück auf meine eigene Veranstaltung gekommen. Momente bevor jemand vergiftet wurde. Soweit ich informiert bin, verfolgen sowohl Achims als auch meine Anwälte eine strikte Spur aus Recht, Grauzonen und Korruption, um unsere Unschuld zu beweisen. Dabei hat der Mann mir gegenüber das Gift in den Wein gemischt, ganz gleich ob er bei Sinnen war oder nicht.
Als Achim schweigt, zucke ich die Achseln. „Wenn du nicht mit mir reden möchtest, steht es dir frei zu gehen. Mir widerstrebt nichts mehr, als mich mit Menschen auseinandersetzen zu müssen, die nicht fähig sind, mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken." Diesen Satz nutzt Achim selbst häufig. Den einen oder anderen Politiker, Aktionär und Diplomat hat diese Aufforderung bereits schwer irritiert. Achim gegenüber ist diese Waffe stumpf.
„Es ist schön hier“, sagt er. „Ich verstehe, warum du viel Zeit an diesem Ort verbringst.“
„Die Aussicht ist sekundär.“
„Ich weiß.“ Er fährt sich durch die sorgfältig gestylten Haare. Eine nervöse Geste? „Wie geht es dir, Liebste?“
Mein Blick huscht zu Anton. Der Monitor neben ihm piept in dem immer gleichen Takt. „Bis du mich Liebste nanntest, ging es mir bedeutend besser.“
Die Muskeln an Achims Unterarmen treten hervor und er sieht fort. Wenn ich nicht so unglaublich wütend auf ihn wäre, dann würde ich Mitleid mit ihm empfinden und mich ihm annähern. So aber? Während Anton bewusstlos in diesem Zimmer liegt und kein Wort sagt? Nicht einmal blinzelt und mir niemand wirklich sagen kann, wie es ihm geht? Ich bin wütend. Nicht nur auf Achim, auf alles. Auf mich selbst. Auf meine Naivität zu glauben, dass ich etwas verändern könnte. Wie viele Menschen haben mehr Geld als sie ausgeben können? Es hat einen Grund, dass keiner von ihnen die Welt retten will.
„Bist du nur hier, um dich nach meinen Befindlichkeiten zu erkundigen?“, frage ich. Achim schüttelt den Kopf. Sein Blick schweift zu der Birke vor uns. Ein leeres Vogelnest steht fast auf Augenhöhe. Hin und wieder flattert jemand darüber hinweg oder sucht zwischen den Zweigen nach etwas Nützlichem, weitestgehend wird es aber ignoriert.
„Nein.“ Er räuspert sich und streckt den Arm aus. Behutsam streicht Achim über eines der blassgrünen Blätter. Es wellt sich leicht unter seiner Berührung. „Es geht um essentiellere Angelegenheiten.“
Hat sich das Piepen kurz beschleunigt? Ich sehe zu dem Monitor. Alles gleichmäßig, keine Veränderung.
„Ist dein Wunsch, mich zu heiraten, noch immer aktuell?“
Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Sie gibt mir viel mehr Freiraum, als wir uns beide herausnehmen sollten.
„Ja“
„Warum?“ Seine Frage kommt prompt. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und schenke Achim das gleiche liebliche Lächeln wie jedem meiner zweitrangigen Geschäftspartner. Etwas zu kühl, etwas zu abschätzig, ein wenig zu spottend.
„Weil es das Vernünftigste ist, was ich tun kann, findest du nicht auch?“ Zwitschernd stürzt sich eine Blaumeise aus dem Blätterdach und saust auf die Erde zu. Zentimeter über den ersten Grashalmen beginnt sie hektisch mit den Flügelchen zu schlagen. Millimeter vor dem sicheren Tod fängt sie sich und steigt wieder zum Himmel empor. Die Sonne tanzt in dem gelblichen Gefieder.
„Ich war stets davon überzeugt, dass du diese Form der Eheschließung ablehnst.“
„Unsere Gesellschaft befürwortet sie. Ich sehe nicht länger ein Problem darin, sich dem zu fügen.“ Ich falte die Hände und lache leise. „Bist du nicht der gleichen Auffassung, Liebster?“
Achim seufzt leise und vergräbt das Gesicht in den Händen. „Ist das deine Form der Rache? Dass du mir genau das gibst, was ich mir gewünscht habe, um mir damit alles zu nehmen, wovon ich zu träumen wagte?“
Das ist ein weiterer Grund für meine Entscheidung, ja.
„Warum sollte ich das tun?“, frage ich und schlage die Knöchel übereinander.
„Weil ich es verdient habe.“
Dieses Eingeständnis lässt mich blinzeln. Er sieht es ein? Diese Tatsache erscheint mir nahezu surreal. Man streitet ab, alles. Man gesteht niemandem einen Fehler ein. Und dennoch hat Achim es soeben getan. Für mich. Weiß er denn nicht, dass ich mein Herz über nichts und niemanden entscheiden lassen kann, während Anton in diesem Zustand ist und ich meinen Abschied nicht aussprechen durfte? Achim behauptet dort gewesen zu sein und inzwischen glaube ich ihm jedes Wort. Ich glaube ihm, dass er im Schatten wartete, während ich die Wachen auf Knien anflehte. Während ich kopflos durch die Stadt lief, tränenüberströmt und desorganisiert. Wenn Achim nur ein winziges Bisschen Empathie besitzt, müsste er dann nicht wissen, dass mein Herz zu nichts mehr fähig ist? Zu nichts mehr als zum bloßen Funktionieren. Ich verlasse mich auf meinen Kopf, weil mir nichts anderes bleibt. Was soll mein Verstand mit seinen Zugeständnissen anfangen?
„Ja“, sage ich nur.
Er nickt und presst sich die Finger auf die Augen. „Ja“, wiederholt er leise. „Ich nehme an, es gibt nichts, womit ich die Geschehnisse wieder gut machen kann?“
Ich zucke die Schultern. „Eine glatte Eheschließung käme uns beiden entgegen. Ich möchte sehen, dass die Presse beruhigt ist. Wir benötigen beide positive Schlagzeilen.“
„Ich kenne die Fakten, Chrona.“
„Dann sollten wir darüber nicht sprechen müssen. Gibt es weitere Gründe, aus denen du deinen Weg hierher gefunden hast?“
Ein leises Kopfschütteln. Sein Blick schweift in die Ferne zu einem Punkt, den nur er erkennt. Achim wirkt so leer. Fast als hätte der Graue Mann ihm alles genommen, was ihm lieb und teuer ist, kurz nachdem er es ihm gegeben hat. Fühlt Achim das Gleiche wie ich, nachdem mir mein Abschied gestohlen wurde? Tobt in ihm die gleiche hilflose Wut, die mich um den Schlaf bringt?
„Es steht dir frei, zu gehen“, wiederhole ich. Wieder ein Nicken. Rühren tut er sich nicht, stattdessen wirft er erstmals einen Blick in das Krankenbett und damit auf Anton.
„Geht es ihm gut?“, fragt er nach einigen schweigsamen Sekunden, in denen er das Bild auf sich hat wirken lassen.
„Sieht er so aus?“
Keine Antwort. Achim räuspert sich erneut und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich hätte erwartet, dass er zu dieser abwehrenden Geste an einem runden Tisch nicht fähig ist. Beabsichtigt er es, mich zu überraschen? Versucht er auf diese Weise ungeschehen zu machen, was seinetwegen geschehen ist?
„Er bedeutet dir wirklich viel. Man könnte fast meinen mehr als ich.“
„Könnte man wohl, ja.“
Er nickt. „Ist es denn so?“ Ich wiederhole diese Frage stumm. Ist es denn so? Ratlos sehe ich in Achims leere, blaue Augen. Frauen schwärmen davon, dass man sich in ihnen verlieren könnte, bis nichts mehr von einem übrig bliebe. Er sei der attraktivste und begehrenswerteste Mann der Welt und damit mein natürliches Gegenstück. Und manchmal, manchmal ist es auch wirklich gut zwischen uns. Schön. Wenn ich an den Abend in dem französischen Restaurant denke, läuft mir noch immer ein Schauder über den Rücken. Ich habe seine Nähe so sehr genossen, seine angetrunkenen Worte und danach seine Küsse. Ohne die Zeitsprünge hätte ich die ganze Nacht in seinen Armen verbringen können, ohne zu glauben, dass mir etwas fehlt.
Mit Anton, da ist es anders. Fast schon beängstigend. Eine Berührung und ich vergesse mich. Ein schiefes Lächeln und ich habe das gefährliche Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es ist vollkommen irrational, alles was je zwischen mir und Anton war, so unglaublich naiv und dumm. Wir haben für diese Beziehung so viel gegeben. Zu viel. Alle beide. Kann ein Traum einen in den Ruin treiben? Wir sind das lebende Beispiel dafür, dass Sehnsüchte töten können. Anton liegt bewusstlos in seinem Bett, ich kann im Schlaf aus Angst nicht mehr atmen. Kann das wirklich Liebe sein? So schmerzhaft? Nicht in meinem Leben.
„Ich bezweifle es“, antworte ich steif.
Achim schließt die Augen. Erleichtert lacht er auf und fährt sich durch das Haar. „Das ist … das ist gut.“
„Wenn du meinst.“
Über den Tisch hinweg greift er nach meinen Händen. Ich zucke zusammen, er ignoriert es und streicht über meine Fingerknöchel. Die vertraute Wärme seiner Haut sickert langsam in meinen Körper und nimmt mir einen Teil der Anspannung.
„Wir bekommen das wieder hin“, flüstert er und sucht meinen Blick. Ich weiche ihm aus. Was, wenn ich darin einen Teil von dem finde, was der Graue Mann in Achim deponiert hat? „Ihm bleiben vier Tage.“
Achim weiß sofort, wovon ich spreche. „Das muss nichts bedeuten.“
„Tut es aber. Ich kann dir nicht vertrauen, solange er die Kontrolle über dich gewinnen kann.“ Vertrauen muss ebenso wenig die Basis einer Ehe sein wie Liebe und Zuneigung. Gehorsamkeit und Loyalität in jeder Lebenslage sind allein von Wichtigkeit.
„Ich weiß.“ Achim macht keine Versprechungen, sucht keine Ausflüchte. Er streicht mir nur über die Fingerknöchel und scheint diese kleine Berührung mindestens so sehr zu genießen wie ich. Eine ungewohnte Wärme strahlt durch seine sonst so pragmatischen Augen. Es ist irritierend. Während er jede Sekunde schmerzhaft intensiv in sich aufzusaugen scheint, bleibt mein Herz kalt. Weil es gerade nur an Antons Seite sein kann, in steter Sorge um ihn?
Achim folgt meinem Blick. „Es wird ihm bald besser gehen“, flüstert er und drückt mir einen kleinen Kuss auf den Handrücken. „Wer weiß, vielleicht ist er noch vor unserer Hochzeit wohlauf?“ Ich weiß nicht, ob ich darauf hoffen sollte.
„Vielleicht.“
Er beugt sich noch näher über den kleinen Tisch, bis seine Stirn meine berührt. Ihm so nah zu sein, nach den letzten Tagen ist befremdlich geworden. Nicht aus Angst. Ich versuche mir immer einzureden, die Furcht vor dem Grauen Mann wäre es, was mich zurückscheuen lässt, aber das ist es nicht. Achim selbst ist der Grund. Sein zumeist glattes Verhalten. Und dabei war es genau diese Selbstbeherrschung, in die ich mich verliebte. Ich hasse den Grauen Mann dafür, dass er mir Anton vorgestellt hat. Ich verabscheue ihn dafür, dass er in dem einzigen, was ich für besonders hielt, von dem ich glaubte, dass es nur mir gehört, seine Hände im Spiel hatte und es damit auf eine Art beschmutzte, die unwiderruflich ist. Ich bleibe hier bei Anton, jeden Tag, jede Nacht. Nicht weil ich darauf hoffe, dass er und ich eine Zukunft haben könnten. Nichts könnte ich mir weniger vorstellen als ein Leben mit Anton an meiner Seite. Seine und meine Zweisamkeit wäre von dem Grauen Mann geplant, ich würde an seinen Fäden tanzen.
Nein. Ich wache neben ihm, um eine Schuld zu begleichen. Ich glaube, dass Achim das begreift. Anton wird es verstehen. Wie könnte er mich lieben, nach allem was er durchleben musste?
„Ich liebe dich“, flüstert Achim und lehnt sich nah zu mir. „Ich will dich nicht verlieren.“ Eine kleine Stimme fragt sich, ob es für diese Bitte längst zu spät ist. Zittrig atmet Achim ein und fährt mit der Nase über meinen Hals. Ich rühre mich nicht. Die Meise startet einen zweiten Versuch, stürzt sich hinab, nur um sich in aller letzter Sekunde zu fangen, den Wind durch die Flügel pfeifend und das Köpfchen stolz gehoben. Wie erleichtert sie scheint, wie unglaublich glücklich, als sie der Sonne entgegenschwebt.
„Warum habe ich nur das Gefühl, dass du für mich unerreichbar wirst, sobald ich dich heirate?“ Achim lacht leise über sich selbst. Ich spüre den warmen Atem an der empfindlichen Haut unter meinem Ohr. Er sollte nicht lachen. Er müsste wissen, dass genau das geschehen wird. Das war der Plan, von Anfang an. Eine Trennung durch eine Eheschließung. Man findet sich zu wichtigen Veranstaltungen zusammen.
Ende.
„Wir schaffen das alles, oder?“, wispert er und sucht meinen Blick. Sind das Tränen in seinen Augen? Ich muss mich irren. „Ich habe damals eine falsche Entscheidung getroffen und die Folgen kann man kaum als Kollateralschäden bezeichnen, aber wir schaffen das, nicht wahr, Liebste?“ Ich kann dieses Wort nicht aus seinem Mund hören. Es klingt so falsch, gelogen.
Trotzdem ringe ich mir ein Lächeln ab und lege eine Hand auf seine Wange. Sie ist ebenso warm wie Antons, ein wenig glatter und die Haut weicher und gepflegter. Achim riecht anders, weniger nach zu Hause, viel mehr wie eine Entscheidung, die man nur zu leicht bereuen kann.
„Wollen wir den Hochzeitstanz üben oder ihn dem Zufall überlassen?“ Sein schiefes Lächeln erinnert mich ein winziges bisschen an Anton. Bei Anton war es herzlicher und unkalkulierter und charakteristischer, aber sie beide ziehen den linken Mundwinkel dabei seltsam nach oben.
„Mutter würde das nicht akzeptieren.“
„Ich kann ihr garantieren, dass wir Stunden damit zugebracht hätten, zu üben.“ Skeptisch sehe ich Achim an. Lügen? Wegen einer Kleinigkeit wie dieser? Ich bringe ihn nicht von dem Gedanken ab. Achim interpretiert mein Schweigen als Zustimmung. Er kommt mir noch näher. Als er mich küsst, zieht sich mein Herz zusammen. Ich sollte ihn wegstoßen und des Raumes verweisen. Ich bin nur dazu in der Lage, ihn näher an mich zu ziehen. Er ist so bekannt, so herzerweichend. Ich liebe seine Nähe und die Art und Weise wie er mich küsst. Es ist nicht wie mit Anton. Ich verliere mich nicht, bleibe hier, an Ort und Stelle, kann noch klar denken, und habe trotzdem das Gefühl sicher zu sein. Achim wird auf mich achtgeben. Solange Echnaton Ralowskowitsch seine Finger nicht im Spiel hat.
Antons Geräte piepen gleichmäßig. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht aufwachen, und selbst wenn, er weiß von meiner Verlobung. Und nach all den einsamen, kalten Stunden gibt es nichts Beruhigenderes als die Nähe von jemandem, den man kennt.