Читать книгу Vor Mitternacht Oder Der erste Schachzug des Grauen Mannes - Celina Weithaas - Страница 11
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Bauer schlägt Springer. Ich nehme einen kleinen Schluck aus meinem gut gefüllten Wasserglas. „War Ihr Corell tatsächlich der biologische Sohn des Grauen Mannes?“ Ich stelle diese Frage nur aus einem einzigen Grund: Wenn Echnaton Ralowskowitsch ein Kind haben kann, dann besitzt er einen menschlichen Teil und Menschen kann man problemlos besiegen. Wenn er seinen Sohn bei sich wissen möchte, empfindet er Empathie. Dieser Sohn, Corell, könnte zu seiner größten Schwäche instrumentalisiert werden. Somit wäre mir endlich die Chance gegeben, die Oberhand zu gewinnen. Dann würde alles gut werden.
Die alte Dame nickt zittrig und wippt unruhig vor und zurück. Ihr Blick ist auf das Spielfeld gerichtet. „War er wohl. Beide verrückt. Aber Corell hat mich geliebt, schau.“ Vererbbarer Irrsinn? Die Theorien, die ranken sich.
„Sie sind am Zug, Misses“, sage ich und lehne mich zurück. Ungelenk schiebt sie ihren Turm neben meinen Bauern. Schlägt ihn. Ich habe zu lange kein Schach mehr gespielt. Solch offensichtliche Züge entgehen mir und könnten mich den Sieg kosten. Behutsam, fast liebkosend, streicht sie meinen Bauern vom Brett. Das Gras bettet ihn weich.
„Wie viel bedeutet Ihnen Ihr Freund, der da im Krankenhaus liegt, Mädelchen?“ Missbilligend presse ich die Lippen aufeinander. Sie scheint nicht gutlassen zu können. Klatsch und Tratsch, bei mir holt sie ihn sich brühwarm und inklusiv. Nach dieser Partie wird sie mehr über mich wissen, als es die ganze Welt zu tun glaubt.
„Viel“, antworte ich knapp.
„Wie viel“, wiederholt die Alte. „Es ist viel, das zeigen Sie. Sonst wäre die Prinzessin nicht im Park des Krankenhauses.“
Der Bourbon schmeckt schwer nach Vanille. Es ist die Hölle. Zu trinken, während eines Schachspiels. Damit gebe ich die Garantie für meine Niederlage. Eigentlich. Da Lucinda jedoch nicht spielen kann, begebe ich mich wohl auf ihre Augenhöhe hinab.
„Sehr viel. Zu viel.“ Genug, um mich mit seinem abweisenden Verhalten verletzen zu können. Genug, damit ich einen Dialog mehr wünsche als alles andere. Das erste Mal in meinem Leben möchte ich einen Sachverhalt derart dringend aufklären, dass es mir den Atem raubt. Anton soll wissen, aus welchen Motiven heraus ich gehandelt habe, und ich habe das Gleiche von ihm verdient.
Ehe Lucinda eine noch konkretere Antwort verlangt, die ich ihr nicht geben kann, setze ich meine Dame. Im Gegensatz zu Lucinda lasse ich sie nicht vom Brett fort gucken. Sie behält jedes Quadrat genauestens im Blick. Und wenige Züge später, schlägt sie einen Turm.
„Kennen Sie eine Schwäche des Grauen Mannes?“, frage ich. Aus mir unerfindlichen Gründen scheint diese Frage sie zu amüsieren. „Schwäche“, kichert die Alte und schlägt sich mit dem Handrücken die eine Strähne aus dem faltigen Gesicht. Sie wirbelt auf und verfängt sich schließlich in dem dünnen, halbherzigen Knoten. Verloren flattert sie in einem kleinen Lüftchen. „Der Graue Mann hat keine Schwäche, Mädelchen“, keucht sie. „Er ist deine Schwäche. Corell sagte immer, Schwachsein macht ihn stark. Bist du stark, ist er schwach, schau.“ Ich bin ein Teil von dir. Ich glaube mich verschwommen an diese Worte aus der letzten Nacht zu erinnern. Kam er damit auf mich zu? Ich glaube, seine Hand auf meiner Wange gespürt zu haben, irreal, wie im Traum. Ich bin ein Teil von dir. Weil er meine Angst lebendig werden lässt? Ich erinnere mich vage an eine der Szenen, die Casper mir noch in dem College zeigte. Das blonde, zierliche Mädchen, das von dem Grauen Mann aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie zeigte keine Furcht, keine Angst, viel mehr schien sie sich fast über ihn zu amüsieren. Verschwunden ist er trotzdem nicht. Selbst als sie ihn erschoss, erwachte er wieder zum Leben. Weil die Angst ihr Herz unbemerkt zerfraß? „Meinen Sie. Gibt es dafür Beweise?“
„Nächster Zug“, sagt die alte Dame fröhlich und führt den zweiten Springer ins Feld. Königin und König warten noch immer angespannt am Spielfeldrand. Es scheint fast, als hielte sie die beiden absichtlich aus dem Spiel, bis ihre anderen Figuren ausgespielt haben. Taktisch unklug, wenn man die Reichweite und Flexibilität der Dame bedenkt. Sie hätte mich mit ihr bereits öfter als einmal schlagen können. Getan hat Lucinda es nicht. Ob aus Rücksichtnahme vor dem Alkoholschleier, der sich langsam um meinen Verstand legt oder weil sie es nicht gesehen hat, vermag ich nicht zu beurteilen.
Sie stellt ihn direkt in Reichweite meines Turms ab. Skeptisch sehe ich sie an. Die Alte macht keine Anstalten, sich zu korrigieren. Ich schlage den Springer.
„Gibt es dafür Beweise?“, wiederhole ich. Lucinda gähnt einmal ausgiebig und verschiebt geringfügig ihren Rollstuhl. Die Sonne scheint ihr jetzt direkt ins mühsam gehobene Gesicht. Genüsslich schließt sie die Augen, als hätte sie die Strahlen seit Wochen nicht mehr auf ihrer Haut gespürt. Ein idyllisches Bild, obwohl ihr Körper vor Anstrengung zittert wie Espenlaub.
„Das kann nur Corell Ihnen sagen und mein Corell, der ist bei seinem Vater. Verrückt sind sie, und böse, aber, schau, er hat mich geliebt.“ Eine vergeudete Frage. Auf wie viele wird sie noch keine Antwort haben?
„Sie sind an der Reihe, Misses.“
Sie gibt ein zustimmendes Geräusch von sich, rührt sich aber nicht. Noch ein Schluck Bourbon. Das heiße Brennen bahnt sich den Weg hinab in meinen Magen und glüht dort dumpf weiter. Von allen Seiten werde ich gewärmt. Der Alkohol tut es von innen, die Sonne von außen. Trotzdem friere ich.
Es vergehen gefühlte Ewigkeiten, bis sie dem Druck ihres eigenen Körpers nachgibt und zurückschnappt in die Ausgangsposition. Sie führt ihren König. Ungläubig sehe ich sie an. Hat sie soeben meinen Turm mit ihrem König geschlagen? Die alte Dame hat mich durch ihr Nichtstun direkt vor seine Füße gelockt. Dass sie die Königin nicht anrührt, wusste ich. Es sollte mich nicht überraschen, dass sie diese Regel für den König bricht.
„Lieben Sie Ihren Freund hier im Krankenhaus mehr als Ihren Verlobten, Mädelchen?“ Das ist an Indiskretion kaum noch zu übertreffen!
„Sie haben kein Recht, solche Fragen zu stellen“, sage ich kühl.
Die Alte schnaubt leise. „Jede Frage für jede wahre Antwort, schau“, erinnert sie mich.
Ich lehne mich zurück und lege einen Arm über die Rückenlehne der Bank. Ich sollte eine Angestellte herbeizitieren und befehlen, dass man mir diese alte Frau aus den Augen schafft. Aber dann versiegt meine Informationsquelle …
„Ich bin mir nicht sicher“, antworte ich vage. „Achim ist mein Verlobter und mein perfektes Gegenstück. Er ist charmant, zuvorkommend, liebevoll und bereit mir seine Welt zu Füßen zu legen.“ Abwartend sieht sie mich an. Die schneeweiße Strähne fällt ihr zurück in die stechend blauen Augen. Wie ist es möglich, dass sie nach all ihren gelebten Jahrzehnten noch immer so klar sind? Stechend intensiv, als wäre der Geist in dem gebrechlichen Körper keinen Tag älter als fünfundzwanzig. Sie bringen mich dazu, resigniert zu seufzen und dem Tischchen einen leichten, frustrierten Tritt zu versetzen.
„Anton ist etwas Besonderes. Er ist so lebendig. Wissen Sie, was ich meine?“
Langsam wiegt Lucinda den Kopf. Es ist kein Nicken und kein Kopfschütteln.
„Lebendig“, wiederholt sie schließlich leise. „Wie der Vogel?“ Sie deutet auf die Meise, die uns mit schiefgelegtem Kopf beobachtet. Als sie unsere Blicke bemerkt, reckt sie das kleine Köpfchen und spreizt die Flügel. Hastig hüpft sie nach oben, fängt den Fall mit den wild flatternden Federn auf und eilt davon. Etwas unorganisiert, aber mehr als liebenswürdig. In erster Linie charakterstark. Es ist völlig irrational, Anton mit einem kleinen Vogel zu vergleichen, und bei diesem Anblick zu lächeln. Aber ich tue es aus ganzem Herzen.
Ohne ein weiteres Wort schiebe ich meine Dame in Position. „Schach.“
Die Alte seufzt leise und rollt wieder näher an den Tisch heran. Fast schon gelangweilt bedient sie einen Bauern. Sie schlägt meine Königin? Mir entgleiten die Gesichtszüge. Das hätte ich kommen sehen müssen.
„Corell sagte, sobald man sich wie ein Sieger fühlt, hat man verloren. Schau.“
„Sie müssen den König schlagen.“ Lucinda macht ein zustimmendes Geräusch. Nachdenklich sieht sie an mir vorbei. Sie grübelt über ihre nächste Frage nach. Ich schiebe nachdrücklich den Bourbon weg. Wenn ich noch einen Schluck nehme, habe ich mit Sicherheit verloren und werde keine Frage mehr stellen können.
„Würden Sie für Ihren Anton sterben?“, fragt sie schließlich. Ich rücke ein Stück von ihr ab. Diese Frage steht über Klatsch und Tratsch. Die Antwort könnte man gegen mich verwenden. Schwerwiegend. Wer sagt mir, dass sie kein Teil der Gleichung des Grauen Mannes ist? Was für ein Zufall, dass ich hier, bei Anton, auf jemanden treffe, der Informationen über den gefährlichsten Mann aller Zeiten besitzt, wobei die meisten Menschen ihm vermutlich nie begegnet sind.
„Diese Frage werde ich nicht beantworten.“
Lucinda grinst. „Hat Corell auch immer gesagt, Mädelchen. Schau, er wäre für mich gestorben. Hat mich so geliebt.“ Die Alte lacht leise. „Die Prinzessin hat ein Herz. Leider nicht für ihren Verlobten, schau.“
„Sie phantasieren. Niemand wird Ihnen nur ein Wort glauben.“ Abgesehen von der einzigen Person, die noch intensiver nach Vanille stinkt als mein Bourbon.
„Mach Matt“, seufzt sie nur.
„Pardon?“ Mit zuckenden Händen deutet die Alte auf das Spielbrett. Mein Bauer. Er steht direkt neben dem König. Doppelt Schach gesetzt, sie hat das größere Übel beseitigt mit dem Wissen, dass das Kleinere den gleichen Schaden mit sich bringt.
„Corell hätte gewonnen“, murrt sie heiser, während ich ihren König zu Boden fallen lasse. „Ich sehe das Spiel nicht, schau.“
„Nennen Sie mir alle Fakten, die Sie über den Grauen Mann wissen“, unterbreche ich ihr Faseln. „Jede einzelne Facette. Ich benötige diese Informationen.“
Die Alte zieht die Stirn in Falten. „Wozu?“
Um endlich gegen ihn ankommen zu können. Es gibt niemanden, niemanden auf der Welt, der ungestraft mit mir umspringen kann wie dieser Mann. Ich will, dass dieses Versäumnis schnellstmöglich behoben wird.
„Geben Sie mir alle Informationen, die Sie haben. Jetzt, hier, sofort.“
Die alte Frau rollt ächzend fort von dem Tisch. Mit zuckenden Händen greift sie nach meinem Bourbon und trinkt ihn zur Hälfte. Der Rest tropft auf ihre Kleidung. Es scheint sie nicht zu kümmern. „Immer eine Antwort. Nur eine“, erinnert sie mich.
Ich beiße die Zähne fest aufeinander. „Was fürchtet er am meisten?“ Mit Mühe ringe ich um Beherrschung. Es kommt mir vor, als spielte sie ebenso mit mir wie der Graue Mann selbst. Weckt Hoffnung und nimmt sie im gleichen Atemzug. Die Alte scheint sich noch ein Stück weiter vorn über zu beugen. Ihre Knöchel streicheln die Gräser. Wie verzaubert verfolgt sie die Spur, die sie selbst in die grüne Fläche pflügt. „Sie haben mir Antworten versprochen. Ich verlange diese letzte. Was fürchtet er am meisten?“
Seufzend lässt sie die Schultern sinken und linst zu mir. „Was er nicht haben kann, schau.“
„Was ist das?“ Nie in meinem Leben musste ich mich häufiger mit kryptischem Unsinn befassen!
„Die Zeit. Die Zeit jagt ihn, Mädelchen, so jagt er sie und gewinnt mit großen Verlusten. Für sie veranstaltet er ein Gladiatorenspiel mit den Besten.“ Lucinda rollt langsam auf mich zu und sucht meinen Blick. Widerstrebend lasse ich es geschehen. Er kontrolliert die Zeit. Ihre Informationen sind veraltet. „Capatio liebte die Zeit. Die Zeit nahm sich ihn. Und Sie, Mädelchen, heißen Chrona. Chrona. Zeit.“
„Wollen Sie damit andeuten, ich sei seine größte Furcht?“
Amüsiert schnaubend schüttelt sie den Kopf und lässt sich wieder vornüber sacken. „Er liebte die Zeit, bis sie ihn hinterging. Hat Corell gesagt, schau. Gib sie ihm zurück.“ Ich werde ihn kaum mit einer Uhr glücklich und unschädlich machen können.
„Vielen Dank für Ihre Informationen.“ Ich stehe auf und streiche mir das Kleid glatt. Ich werde noch einmal bei Anton vorbeisehen, bevor ich das Gebäude für die nächste Zeit verlasse. „Genießen Sie den sonnigen Nachmittag.“
Ohne auf ihre Antwort zu warten, gehe ich. „Chrona“, keucht sie. „Die Zeit! Sie ist tot. Seine Zeit ist tot, deswegen stirbt er nicht, schau! Ersetzen Sie sie nicht. Wählen Sie das Leben. Gehen Sie auf seine Verhandlungen ein, Mädelchen. Niemand entkommt ihm mehr. Niemand!“ Man sollte sie in Behandlung schicken. Ich beschleunige meine Schritte, befürchte fast, dass sie versucht, nach mir zu greifen, um mich in ihrem Wahn zu Boden zu reißen. Nichts dergleichen. Sie folgt mir nicht. Als ich zurückblicke, steht sie an der gleichen Stelle, an der ich sie gefunden habe. Ein Stück entfernt von den Bänken, in der Sonne badend, den großen Baum immer im Blick. Beinahe als hätten wir nie ein Wort gewechselt.
Die Traube vor Antons Zimmer hat sich aufgelöst. Leise öffne ich die Tür. Die Geräte sind verschwunden und wurden durch Blumen ersetzt. Man hat die Terrassentür angelehnt, sodass die frische Luft hereinströmt.
Anton selbst liegt auf der Seite, in seine Decke geschmiegt, den Mund leicht geöffnet, schlafend. Er wirkt grenzenlos erschöpft, wie er so daliegt mit tiefen Ringen unter den Augen, obwohl er ganze Tage damit verbracht hat, seine Kraftreserven wieder zu füllen. Seine Wangen sind blasser als vorhin, das Haar zerzaust wie eh und je. Zögernd gehe ich auf ihn zu. Fast wünsche ich, fast fürchte ich, dass er aufwacht. Leise und regelmäßig atmet er, die Hände um den weichen Stoff der Decke gekrampft. Er hat sich die Unterlippe aufgebissen. Nervosität dieser Form kannte ich nie von ihm. Seine Fingernägel sind bis auf das Bett heruntergekaut. Wie lange habe ich ihn allein gelassen? Zwei Stunden? Drei? Höchstens vier.
Die ganzen Tage habe ich dafür gebetet und darauf gehofft, dass er wieder aufwacht, jetzt ist das Gegenteil der Fall. Ich setze mich langsam genug auf die Matratze, dass man kaum eine Bewegung wahrnehmen kann. Der Geruch von Krankheit und Krankenhaus ist von ihm abgefallen wie eine alte Haut. Er riecht nach Anton. Ein wenig zu sehr nach Schweiß und zu wenig nach Wald und Chemikalien, aber wie er selbst. Das treibt mir die Tränen in die Augen. Ich blinzle sie fort. Was stellt dieser Mann nur mit mir an? Es macht mir schreckliche Angst. Niemand, nicht einmal Achim, müsste nur nach sich selbst riechen, um mich vor Glück weinen zu lassen.
Meine Finger zittern, als ich eine seiner festen Fäuste berühre. Warum ist er so angespannt? Träumt er von dem Grauen Mann? Hinter seinen Lidern zucken die Augen. Er wird bald wach sein. Mir fehlt der Mut, um zu bleiben und mich noch einmal des Raumes verweisen zu lassen. Lautlos stehe ich auf und hauche ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Pass auf dich auf“, wispere ich. „Ich lasse dir ein wenig Salbei und Ingwer kommen, dann kannst du dir deinen Tee kochen.“ Er kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf, fast als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. Seufzend trete ich von seinem Bett zurück, während er die Decke loslässt und auf die Matratze schlägt. Er gibt einen undeutbaren Ton von sich, irgendwo zwischen Weinen, Wimmern und Schreien. Noch einmal lässt er die Faust auf die Decke sausen. Tritt ins Nichts. Ich sollte einfach gehen.
Ich kann es nicht, solange er nicht aus diesem Albtraum ausbricht. Stumm gehe ich die wenigen Schritte zurück zu ihm und halte einen seiner Arme fest. Sein Schrei wird lauter, verzweifelter. Hilflos wimmert er auf. Schweiß verklebt seinen Schopf. Behutsam hebe ich eine Hand und streiche ihm durch das feuchte Haar.
„Wach auf“, murmle ich. „Wach einfach auf. Es ist nur ein Traum, du kannst aufwachen.“ Er zerrt ruckartig an seinem Arm. Ich halte ihn etwas fester und ducke mich unter seinem blinden Schlag weg. „Anton, wach auf“, wiederhole ich. „Es ist nur ein böser Traum.“ Sein nächster Schrei ist markerschütternd. Ich fahre zusammen. Seine freie Hand streift unsanft meine Wange. Mir steigen die Tränen in die Augen. Warum wacht er denn nicht auf?
„Anton, bitte, komm zu dir.“
Er tritt die Decke vom Bett und wälzt sich auf die andere Seite, versucht sich mit allen Mitteln aus meinem Griff zu befreien, noch immer halb im Schlaf. Kämpft er eigentlich gegen den Grauen Mann? Ist er zurück in seinen Fängen und kann sich wieder nicht befreien?
Sein Anblick treibt mich in den Wahnsinn. Seine Hilflosigkeit. „Hilfe!“, rufe ich, ohne seinen Arm loszulassen. Mit der freien Hand schlägt er sich selbst ins Gesicht, schreit und tritt und brüllt, als wäre er vom Teufel besessen. „Hilfe, ich benötige Hilfe!“ Auf dem Korridor erklingen Schritte. Außer Atem betritt eine junge Frau den Raum. Die Brünette, mit der Anton lieber sprach als mit mir. Am liebsten würde ich sie augenblicklich des Raumes verweisen. „Er wacht nicht auf“, sage ich stattdessen. Ich dürfte nicht so erbärmlich verzweifelt klingen. Die Krankenschwester legt ihr Klemmbrett neben einem Blumenarrangement ab. Sind das Vanilleblüten? Mir gefriert das Blut in den Adern. Vanille. Und Anton ist gefangen in seinem Traum bei diesem Geruch? „Wecken Sie ihn auf!“, rufe ich, als die Krankenschwester nichts weiter macht, als ihn zu beobachten. Sie zuckt die Schultern.
„Das wird nicht möglich sein. Wir haben ihm Schlafmittel verabreicht. Er hat sich geweigert zu schlafen.“ Ich verklage diese Klinik. Ich höchstpersönlich werde das Schreiben aufsetzen.
„Er wird seine Gründe gehabt haben, nicht schlafen zu wollen“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich rate Ihnen, ihn aufzuwecken, oder diese Klinik wird keine lange Zukunft mehr haben.“
„Die Beschwerdebögen finden Sie am Empfangstresen jeder Abteilung“, setzt sie mich mit einem kühlen Lächeln in Kenntnis. Ich lache auf. Das Geräusch wird von Antons nächstem flehenden Schrei im Keim erstickt. Als er sich wieder gegen den Kopf schlägt, höre ich überdeutlich den dumpfen Knall.
„Verlassen Sie augenblicklich den Raum.“
„Dazu müsste ich Sie auffordern, Miss. Sie sind augenscheinlich angetrunken und haben keine Aufenthaltsgenehmigung.“ Das ist ihr letzter Arbeitstag und wenn ich dafür diese Klinik eigenhändig anzünden muss.
„Ich sage es ein letztes Mal. Wecken Sie ihn auf oder gehen Sie.“
Die Schwester seufzt schwer. „Ich rufe die Polizei, wenn Sie sich nicht selbstständig entfernen.“
Anton schlägt sich noch einmal. Er muss endlich aufwachen! Mein Blick fällt auf die Vanilleblüten.
„Ich gehe, wenn Sie mir ein Feuerzeug aushändigen“, sage ich.
„Das ist mir bedauerlicherweise verboten.“ Sie wählt den Notruf und dreht mir den Rücken zu. Ich zupfe eine der Blüten von dem Bouquet und halte sie Anton direkt unter die Nase.
„Wach auf“, murmle ich wie eine Beschwörungsformel. „Wach jetzt auf.“ Seine Schläge werden stärker, das Treten und Schreien. Er entzieht mir seinen zweiten Arm. Keuchend fährt er auf.
„Die Security ist auf dem Weg hierher“, sagt die Krankenschwester gelangweilt.
„Wer hat die Sträuße gesandt?“, verlange ich zu erfahren.
Anton setzt sich umständlich auf. Er sieht mich nicht. Seine Augen huschen panisch durch den Raum und bleiben schließlich an der Vanilleblüte hängen. Er schreit auf. Als läge eine giftige Schlange vor ihm, springt er zurück. Krachend stürzt er vom Bett. Die Krankenschwester runzelt die Stirn. Ich eile auf die andere Seite. Anton hyperventiliert. Dumpf schlägt er den Kopf gegen die Wand, die Hände zitternd in den Haaren vergraben. Er murmelt etwas in seiner Muttersprache vor sich hin.
„Anton“, flüstere ich. Es ist, als schliefe er noch immer. Keine Reaktion. Behutsam streiche ich ihm durch das Haar und versuche seine Finger daraus zu befreien. Er schreit nur auf und macht sich noch kleiner.
„Sie ist dort hinten“, sagt die Krankenschwester. „Sie gibt sich als Chrona Clark aus. Womöglich sollte man sie direkt überweisen.“
Die Männer bauen sich vor mir auf. Einer von ihnen räuspert sich. Ich sehe mich einem Securitymann gegenüber, der temporär an der Seite meiner Eltern wacht. Ohne Anstalten zu machen, mich zu erheben, sage ich: „Geben Sie die Klage gegen die Dame wegen unterlassener Hilfeleistung durch. Ich halte es nicht für tragbar, sie länger in dieser Position agieren zu lassen. Und bringen Sie einen Salbeitee und einen Ingwertee und bringen Sie in Erfahrung, wer die Sträuße hierher hat liefern lassen. Entfernen Sie die Vanilleblüten und bringen Sie mir ein Wasser.“ Mein Kopf muss sich klären.
„Sehen Sie? Diese Frau hat den Verstand verloren.“ Die Krankenschwester hat sich neben die Securitymänner gestellt.
„Wie Sie wünschen, Miss Clark. Miss Harpendale, würden Sie uns bitte begleiten?“
„Sie sollen Sie festnehmen“, wiederholt die Krankenschwester. „Sie gefährdet den Patienten.“
„Ich werde nicht die Tochter meines Auftraggebers in Haft geben“, sagt der Mann, dessen Namen mir bedauerlicherweise entfallen ist, kühl, und fährt sich über die Glatze. „Kommen Sie.“ Das ist keine Frage.
„Ich hoffe, du mochtest sie nicht allzu sehr“, flüstere ich Anton zu. Obwohl ich bezweifle, dass er ausreichend bei Sinnen ist, um das Geschehen verfolgen zu können. Wie ein kleines Kind wiegt er sich vor und zurück, vor und zurück. Dass ich weine, bemerke ich erst, als die ersten Tränen über meine Hände laufen. Anton murmelt weiter vor sich her. Ich lehne mich zu ihm, um ihn besser verstehen zu können. „Geh einfach, geh.“ Die ersten Male bin ich fest überzeugt, mich verhört zu haben, aber er sagt es wieder und wieder. So oft bis die Worte in meinem Kopf widerhallen und ich nicht länger vorgeben kann, es sei Einbildung. Meine Beine zittern, als ich aufstehe.
„Dein Tee kommt jeden Moment.“ Hört er die Tränen? „Gute Besserung.“ Ich bringe nicht mehr als ein Flüstern zustande. So sehr hoffe ich, dass Anton sich umentscheidet und mich bittet, zu bleiben. Nichts. Sein Wimmern geleitet mich nach draußen. Gemeinsam mit dem leisen Quietschen seiner Kleidung auf dem Linoleum, während er sich vor und zurückwiegt.