Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 10
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„Hier.“ Sie stellt eine dampfende Tasse vor mir ab und lächelt mich schwach an. Spencer hat mich in Decken gewickelt und auf der Couch geparkt, nachdem sie mir die steifgefrorene Kleidung von meinem Körper gezogen hat.
Im Erdgeschoss eines kleinen Hauses, viel zu nah am Wald, hat sie ein Fenster geöffnet und in Zugrichtung das Feuer gezündet. Möbel stehen um den bereits schwarz gebrannten Fleck herum. Stuhl- und Tischbeine dienen als Brennmaterial.
Auch wenn die Flammen kaum einen Meter von mir entfernt züngeln, dringt ihre Wärme ebenso wenig zu mir durch wie die Hitze des Kakaos.
„Probier doch einen Schluck. Der ist wirklich gut.“
Gehorsam hebe ich die Tasse an meine Lippen und trinke. Ich schmecke nichts, ich spüre nichts.
Spencer zieht scharf die Luft durch die Zähne ein. „Nicht so viel auf einmal. Bist du blöd?“
Leer sehe ich zu ihr auf. „Es tut nicht weh.“ Ich strecke ihr die Zunge raus, damit sie sich selbst davon überzeugen kann, dass nichts passiert ist. Dabei berührt sie meine Lippe. Eine kleine Blase drückt gegen die empfindliche Haut.
Sie fährt sich mit der Hand über das Gesicht. „Okay, ähm, lass das erst einmal mit dem Trinken und konzentriere dich auf das Feuer. Ist es dir wirklich nicht zu warm?“ Stumm schüttle ich den Kopf. Von den anderen wird niemand jemals wieder den Luxus haben, der Hitze so nah zu sein.
Spencer seufzt schwer und nippt an ihrer Schokolade. „Das alles ist nicht deine Schuld, das musst du dir klar machen, Caressa. So wie ich das verstanden habe, war das einfach eine extrem blöde Situation. Es gab keinen Weg, der richtig gewesen wäre.“ Das würde auch Jason sagen. Wäre er bei mir. Wäre er am Leben.
„Wenn ich bei ihnen geblieben wäre, wären sie nicht allein gestorben.“
„Aber das sind sie nicht. Sie waren zusammen. Und, sieh es mal so, Jason hat dich genug geliebt, um für dich zu sterben.“ Ja. Aber nicht, um für mich zu leben. Was nutzt mir sein Tod? Ich hätte dort oben auch ohne dieses sinnlose Opfer gut überlebt.
„Es tut mir so leid, dass ich dich nicht früher zurück auf den Waggon gezogen habe“, krächze ich. „Ich hätte die Möglichkeit gehabt und hatte nur Angst, selbst zu fallen.“
„Ich danke dir, dass du es überhaupt getan hast.“ Sie streckt ihre Hand nach mir aus und fährt mit den Fingerspitzen über den frischen Verband, den sie angelegt hat. Ich habe vergessen, wie mein Körper sich unversehrt anfühlt. „Genauso wie ich dich dafür bewundere, dass du wenigstens versucht hast, ihnen zu helfen, obwohl du wusstest, dass es keinen Weg gibt. Nicht jeder hätte sein Gewissen geopfert, um es Menschen zu ersparen, aufgegessen zu werden. Andere hätten sich wohl immer gesagt, dass das schon wird, bis es zu spät ist. Mit Sicherheit hat jeder von ihnen, das, was ihnen jetzt passiert ist, der Alternative vorgezogen.“
Ich schüttle den Kopf. „Sie wollten leben, Spencer. Wir sind nicht aus der Klinik rausgekommen, um zu erfrieren.“
Spencer atmet zittrig ein und versteckt sich hinter einem weiteren Schluck heißer Schokolade, ehe sie sagt: „Vielleicht war ihre Zeit einfach gekommen.“
Stumm sehe ich auf das Feuer, beobachte das Spiel von orange, gelb und rot. Ähnlich sah es im Hof der Klinik aus, als der Herbst hereinbrach. Stunden nachdem ich aus dem Komplex gestürzt war, hat mich Lucinda auf den Regen angesprochen, der auf mich niedergeprasselt war. Kein Regen, Blut. Ich war viel zu durcheinander gewesen, um es zu bemerken. Viel zu dankbar, dass sie alle am Leben waren.
Der Klinik entflohen, um vom Meer verschlungen zu werden. Was für ein grausames Spiel des Schicksals.
„Versuch das Positive darin zu finden.“
Ausdruckslos sehe ich Spencer an. „Was meinst du? Dass sie schnell tot waren?“
„Zum Beispiel.“ Mehr Vorschläge gibt Spencer mir nicht. Sie starrt wie ich in dieses Feuer, lauscht dem Knacken und lässt die Lider genießerisch auf Halbmast gehen.
Ich kann erkennen, dass die Flecken meiner Haut, die nicht von den Decken bedeckt werden, stark gerötet sind. Ich spüre nichts. Weder Schmerz noch Prickeln.
„Wie lang hält so ein Schock an?“, frage ich Spencer leise. Lalle ich?
Sie hebt die Schultern. „Keine Ahnung. Aber dein Kopf scheint langsam wieder frei zu werden.“ Nach und nach ein bisschen. Immerhin schaffe ich es wieder, richtig zu sprechen. Die Übelkeit wird schlimmer. Es ist ganz gut, dass ich nichts rieche. Andererseits würde ich vermutlich mein karges Frühstück erbrechen.
„Du hättest mich vorhin einfach töten sollen“, flüstere ich.
Sie presst die Lippen aufeinander und schüttelt leicht den Kopf. Die roten Locken wippen fröhlich. „Irgendwer hat dich gerettet und letzten Endes ist es egal, ob es Ronan oder Jason war. Ich habe sie beide sehr geschätzt und geliebt. Ihre Entscheidung würde ich nicht anzweifeln.“ Sie zögert kurz, nimmt noch einen kleinen Schluck aus der dampfenden Tasse. „Außerdem könnte ich das Jason niemals antun. Er hat schon genug durchmachen müssen.“
Der kleine Vogel ist genauso verloren wie er. Er war noch ein Kind. Jason hat ihn so geliebt. Hätte ich nicht wenigstens in der Lage sein sollen, einen dämlichen Vogel zu retten?
Ich hebe die Tasse an meine Lippen. Die Keramik spüre ich nicht, die wässrige Schokolade schmecke ich nicht. Eine Verschwendung an Ressourcen.
„Du bist am Leben.“ Das erste Mal nehme ich diese Worte in den Mund und mache das Schauspiel wahr. „Wie ist das möglich?“
Spencer zupft an einer Locke. „Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Als ich aufgewacht bin, war ich mir sicher, dass alles vorbei ist. Ich konnte nicht atmen, habe nichts gesehen, wusste nicht wo oben und unten ist. Aus der Panik heraus habe ich angefangen zu graben und mich gegen die Decke über mir zu stemmen und gerade als ich dachte, dass es das jetzt war, da habe ich Luft an meinen Fingern gespürt.“ Spencer schüttelt leicht den Kopf und sieht verloren in die Flammen. „Als ich wusste, dass es nicht mehr weit ist, habe ich alles genommen, was ich noch hatte. So ein blödes Loch bringt mich nicht um, habe ich mir gesagt.“ Ihr kleines Lachen wirkt aufrichtig. Sie sieht mich an, ein winziges Grinsen auf den Lippen. „Und, was soll ich sagen, ich hatte Recht. Es braucht schon mehr als ein bisschen Erde, um mich tot zu kriegen.“ Und ein vorhergegangenes Monster und die erschöpften Kraftreserven durch das verzweifelte Klammern an den Waggon.
„Dass du hier bist, grenzt an ein Wunder.“
„Ich weiß.“ Spencer leckt sich über die schokoladenbeschmierten Lippen. „Für unglaubliche Dinge bin ich gut zu haben.“ Ich versuche mich an einem Lächeln. Sie quittiert es mit einem Augenrollen. „Mach das nie wieder, okay? Versuch nie wieder zu grinsen, wenn deine Gesichtsmuskulatur noch halb tiefgekühlt ist und du dich so richtig scheiße fühlst.“ So schlimm? Offensichtlich.
„Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich versucht habe, nett zu sein“, nuschle ich.
Spencer lacht schallend auf. „Das habe ich auch nicht erwartet. Du bist nicht so der Typ für Sorry und Blümchen.“ Jason erzählte mir, dass ich als kleines Mädchen alles dafür gegeben hätte, eine Lampe am Karussell wieder zum Leuchten zu bringen. Habe ich diesen Wesenszug nur durch die Wolke verloren?
Spencer streckt sich katzenhaft und stellt die Tasse neben sich auf dem Boden ab. „Erzähl mir mal ein bisschen was. Was habt ihr die letzte Zeit getrieben? Und wie, um Himmels Willen, habt ihr Lucinda gefunden? Sie ist schon Wochen vor der Katastrophe verschwunden.“ Wie verdammt soll ich erklären, dass wir sie zu ihrer eigenen Sicherheit einbetoniert haben? Unter den Fliesen ihres Bades.
„Das mit Lucinda ist kompliziert.“ Ich ziehe die Beine an die Brust und schlinge die Arme um sie. Gedankenverloren bette ich das Kinn auf den Knien und starre in die tanzenden Flammen. „Tatsache ist, dass es besser gewesen wäre, hätten Jason und ich sie gelassen, wo sie schon so lange war.“ Corell hätte niemals einen Grund gehabt, diesen Knopf zu betätigen, und ich hätte diese Entscheidung am heutigen Tag niemals treffen müssen. Die eigenen Weggefährten unter Eis zu begraben, ist nichts, was man im Vorbeigehen tut. Nicht einmal im Angesicht der Apokalypse.
„Aber es gab ja nicht nur Lucinda“, sagt Spencer. „Wie läuft es mit dir und Jason? Wieder alles gut soweit?“
„Kompliziert“, sage ich mehr zu mir als zu ihr. „Wir sind nicht zusammen, wenn du das meinst. Und Ronan und ich auch nicht.“ Eine Beziehung mit Ronan könnte ich mir heute kaum mehr vorstellen. Nicht nur der Lügen wegen, die wir einander in regelmäßigen Abständen aufgetischt haben, nicht nur des Eises wegen, das ihn begraben hat. Der Erinnerungen wegen, die mich viel zu sehr an Jason ketten, als dass ich jemals damit leben könnte, dauerhaft an Ronans Seite zu bleiben. Der nette Bonus inmitten dieses Chaos? Ich habe keine Ahnung, warum ich vor der Wolke mit Ronan zusammen war. Jason ist fest davon überzeugt, dass ich ihn nicht mehr geliebt habe, Ronan hat über diese Zeit kein Wort verloren. Nicht, dass wir Gelegenheit gehabt hätten, solche Belanglosigkeiten zu diskutieren.
„Also Ronan war echt kurz im Rennen bei dir? Ich kenne ja eure verkorkste Dreiecksgeschichte, aber Caressa, im Ernst, das wäre auch in einer Katastrophe geendet. Vermutlich wären du und mein Bruder ein paar Wochen zusammen gewesen, dann hättet ihr gemerkt, dass es nicht klappt, und hättet euch jeden Mist an den Kopf geworfen. Ihr wärt das klassische Beispiel für Feuer mit Feuer bekämpfen.“ Spencer rollt die Augen, während ich sie in einem Anflug von Skepsis mustere.
„Wie kommst du darauf? Dass Ronan und ich uns so schnell nicht mehr vertragen würden?“ Und wenn es ihr bewusst war, dass es genauso kommen würde, warum dann nicht Jason? Warum suchte Jason Zuflucht hinter anderen Persönlichkeiten? Wenn Spencer die Wahrheit sagen sollte. Die sich anfühlt wie die bittersüßeste Realität. Wie ist es möglich, dass Spencer Ronan und mich besser einschätzen kann als Jason?
„Ich kenne dich und ich kenne meinen Zwilling. Er ist einfach nicht der Typ, der mit für immer und ewig klar kommt. Irgendwann verprellt er jeden. Das haben wir immerhin gemeinsam.“ Ihr Lächeln ist ein Mysterium. Es wirkt nicht traurig, eher triumphierend. Als wäre es furchtbar toll, beziehungsunfähig zu sein. „Du bist nicht anders als alle anderen Mädchen vor dir. Jede ist für einen Moment interessant, aber dann kann sie auch weg. Ich werde nie verstehen, wie Jason es geschafft hat, mit dir so zusammenzuwachsen. Vielleicht, weil ihr euch schon seit Ewigkeiten kennt. Keine Ahnung.“
Sie lehnt sich nah zu mir. „Das war für mich damals der erste Gossipschock, den ich jemals erlitten habe. Als ich gehört habe, dass es zwischen dir und Jason vorbei ist, weil du jetzt mit seinem besten Freund rumknutschst. Es war, als wäre ein seltsamer Kindheitstraum von mir kaputt gegangen. Ich habe mich schon so darauf gefreut, mit dir das Brautkleid auszusuchen.“ Abfällig schnalzt Spencer mit der Zunge. „Wie auch immer. Damals ist das mit dir und Ronan sehr schnell gescheitert. Es ist offensichtlich, dass es wieder so kommen wird, weil du bist es definitiv nicht, die die Nerven und das Herz hat, bei ihm zu bleiben. Du gibst ihm höchstens Munition für seine Geschütze.“ Eine blumige Umschreibung für die unschönen Momente, in denen Ronan und ich uns mehr und mehr aneinander aufgerieben haben. Jedes Wort, das Spencers Lippen verlässt, ist wahr. Umso unheimlicher, weil sie nicht dabei war, in diesen zwei Tagen, als unsere Beziehung rasant den Bach runtergegangen ist. Unter anderen Umständen womöglich in unserem ganz eigenen Blutbad geendet hätte.
„Das ist seltsam“, stelle ich fest.
Ihre Augenbrauen schießen in die Höhe. „Was? Dass ich dir sagen kann, wie deine Beziehung mit meinem Bruder laufen würde?“ Das auch, ja.
„Dass wir hier sitzen und uns über Mädchensachen unterhalten.“
Spencer seufzt schwer und schüttelt die rote Mähne aus. Mit allen zehn Fingern fährt sie sich hinein, um ihre Haare zu lockern, dann greift sie erneut nach ihrer Tasse. „Es ist schon traurig, dass es nur eine blöde Explosion braucht, um so etwas Normales zu einer Rarität zu machen, oder? Und dabei ist dieses Gespräch auch nicht gerade prickelnd. Wir können uns weder über irgendwelche coolen, neuen Jungs unterhalten noch über die brisantesten News aus der Welt der Stars und Sternchen. Außerdem“, Spencer lässt langsam, beinahe abwertend ihren Blick über meine halb verhungerte, zusammengerollte Erscheinung wandern, „bist du nicht ganz auf der Höhe. Jeden Sarkasmus kann ich mir sparen, weil du ihn ohnehin nicht verstehen würdest. Traurig, oder?“ Wenn sie meint.
„Wärst du aufgedreht und glücklich, wenn du die einzigen Menschen, die dir irgendwie etwas bedeutet haben, umgebracht hättest?“ Es ist eine rein rhetorische Frage.
Spencer lässt sich trotzdem zu einer Antwort herab.
„Kommt drauf an. Wenn ich so wäre wie du, täte ich es vermutlich. Wenn ich du wäre, hätte ich kein Problem damit, wenn jeder sterben würde, der mir je etwas bedeutet hat. Aber, zu unser aller Glück, bin ich nicht du. Heulen ist nicht so meine Stärke.“
Bitter presse ich die Lippen aufeinander. Soweit ich mich erinnere, habe ich keine Träne in ihrer Gegenwart vergossen. Dafür ist einfach alles viel zu leer.
Warum ist Jason nicht hinter mir hergekommen?
Spencer lehnt sich vor und schnippt mit den Fingern vor meiner Nase. „Hey, Caressa, ich habe dir geantwortet. Jetzt bist du wieder an der Reihe. So läuft ein Gespräch ab. Nicht einer erzählt dir seine Lebensgeschichte und der andere nickt hin und wieder.“ Das ist es aber, was ich gerade brauche. Dass sie mit mir über Belanglosigkeiten spricht, die mich davon abhalten, an die drei zu denken. Wenn Corell von Lucindas Tod weiß, woher auch immer, ist er dann in diesem Augenblick noch Herr über seine Sinne oder bereits abgedriftet in seine einsame, graue Welt, aus der nur Lucinda ihn hervorlocken kann?
„Okay, das ist nicht nur eine öde Konversation, sondern gar keine. Gib mir Bescheid, wenn du das Gefühl haben solltest, jeden Moment zu sterben.“ Spencer macht Anstalten aufzustehen. Ich weiß nicht genau was ich tue, als ich die Hand nach ihr ausstrecke und sie zurückhalte.
„Erzähl mir von mir und Jason“, bitte ich sie.
Ihre Augenbrauen schießen in die Höhe. Ungläubig klappt ihr der Mund auf. „Du willst, dass ich dir etwas über den Jungen erzähle, den du heute schockgefrostet hast?“
Ich fahre zusammen. Ihre Worte sind ein Schlag, nicht nur in die Magengrube. Eine Ohrfeige, die meinen Kopf zur Seite schleudert und meine Sicht verschwimmen lässt, ein Faustschlag in den Bauch, ein Tritt, der mir die Beine unter dem Körper wegzieht.
Die Tasse noch in der Hand beuge ich mich vorn über und erbreche mein rares Frühstück. Die Couch bebt, als Spencer aufspringt.
„Scheiße, Caressa, was soll das?“
Mir ist schwindelig. Ich kann mich nicht richtig aufrecht halten. Hilflos taste ich nach irgendetwas, das mir hilft zu sitzen. Ich bin gefangen unter Wasser, rudere, suche nach Halt.
Wenn Jason nicht sofort gestorben ist, ging es ihm genauso. Vermutlich hat er versucht, den Vogel an die Luft zu heben. Es ist ihm nicht gelungen. Ich kann mir seine Verzweiflung lebhaft ausmalen, das Brüllen der Lungen nach Luft und diesen dringlichen Wunsch wenigstens dieses eine Leben zu retten. So ist Jason. Für diejenigen, die er liebt, täte er alles und noch mehr.
So wie für mich. Die ich es längst nicht mehr verdient habe, dass er den Kopf für mich hinhält.
„Nicht ins Feuer! Wehe du greifst ins Feuer.“ Ein Arm drückt sich gegen meinen Brustkorb und schiebt mich zurück in eine sitzende Position. Verzweifelt versuche ich zu atmen. Noch immer fließt keine Träne. Was ich empfinde, kann Weinen nicht mehr in Worte fassen. Ich habe verloren. Wie ich bereits vor dem Aufziehen der Wolke verloren habe. Nur so viel mehr.
„Okay, das war taktlos. Ich sehe es ein. Kannst du jetzt bitte damit aufhören, mein Mobiliar vollzukotzen?“ Der nächste Krampf schüttelt mich und drückt nach oben, was sich noch in meinem Magen befindet. Ich spüre, wie die raue Flüssigkeit mir die Speiseröhre verätzt, sehe, dass ich Galle spucke und kann doch nicht aufhören.
Spencer schweigt, hält mir die Haare aus dem Gesicht. Murmelt Worte, die ich nicht verstehe. Der Tonfall ist beruhigend. Sie streicht mir über den Rücken.
Jason hat es ähnlich gemacht. Er fuhr immer mit dem Daumen über meine Wirbelsäule. So wie sie.
Der kleine Vogel ist mit ihm ertrunken. Hat er an seine Geschwister gedacht? Konnte er sich an die Mutter noch erinnern?
Irgendwann ist nichts mehr in mir drinnen. Keine Kraft, keine Galle. Spencer reicht mir ein Taschentuch. Die Hände zittern, als ich mir über den Mund wische. Mit spitzen Fingern nimmt sie mir die Überreste ab und wirft sie ins Feuer.
„Willst du hier schlafen oder nebenan? Die meisten Fenster sind verbarrikadiert, draußen tobt der Winter. Du musst dir keine Gedanken machen. Hier bist du in Sicherheit.“ Ich schüttle den Kopf. Die Sicherheit starb auf die blutigste Weise, als die Apokalypse die Macht an sich riss.
„Du kannst mir schon glauben. Ich passe auf dich auf. Wenn du willst, dann bleibe ich die ganze Nacht über wach und sorge dafür, dass kein Untoter dich angreift und kein Vagabund, der denkt, dass er an mir vorbeikommen könnte.“
„Sie werden kommen.“ Verzweifelt sehe ich sie an. Sie werden schreien, bis es keinen Platz mehr für Anderes gibt. Sie werden mich fragen, warum ich so feige war. Sie werden mich zurück in die Klinik zerren, damit ich bis in alle Ewigkeit in dem blutigen Regen stehe, gefangen an einem Ort, an dem alles verdorrt, die Vögel nach ihrem letzten Warnschrei tot vom Himmel fallen und das plätschernde Wasser zu brüllen beginnt.
Spencer setzt sich neben mich und legt beide Arme um mich. Fast als wären wir Freunde oder so etwas.
„Ich gebe auf dich acht, Caressa. Du musst keine Angst haben.“
„Sie werden kommen“, sage ich mit Nachdruck.
Verwirrt schüttelt sie den Kopf. „Wer denn? Denkst du, dass die Ärzte aus der Klinik euch suchen? So wichtig seid ihr ihnen nicht.“ Darüber ließe sich streiten.
„Lucinda, Ronan, Jason. Cathrin.“ Dieser bescheuerte Vogel, der mich immer geweckt hat, wenn kein anderer es tat. Der dafür gesorgt hat, dass ich nie eine Nacht durchgeschlafen habe.
Spencer schenkt mir ein gequältes Lächeln. „Nein, das werden sie nicht. Wer unter Eis eingeschlossen ist, bleibt zumeist genau dort. Und zwar bis es taut und sie an den Strand geschwemmt werden. Oder irgendein Meeresgetier sie frisst.“ Seufzend hebt sie eine Schulter. „Zu dem Zeitpunkt wird man sie vermutlich ohnehin nicht mehr als Menschen identifizieren können.“ Man könnte meinen, es berührt sie nicht im Mindesten, dass ihr Bruder und ihre alten Freunde heute meinetwegen ums Leben gekommen sind. Spencer lacht über die Geschehnisse, verhöhnt mich fast. Und jeden, der heute sein Leben gelassen hat.
„Das meine ich nicht. Ich glaube nicht, dass sie hier an der Tür klopfen werden.“
„Was dann? Dass ihre Geister dich heimsuchen?“ Augenverdrehend drückt Spencer mich auf die Couch und zieht mir die Decken, die sauber geblieben sind, bis zum Kinn. Als wäre ich ein kleines Kind. Als sorgte sie sich tatsächlich um mich.
Ich schüttle den Kopf und wälze mich auf die Seite. Dass ich dabei mein eigenes Erbrochenes rieche, ist mir egal. Nichts ergibt mehr einen Sinn.
„Was meinst du dann? Ich kann dir nur helfen, wenn du mit mir sprichst.“ Ich glaube, vor langer, langer Zeit hat Jason etwas Ähnliches zu mir gesagt. Ich bin sicher, dass ich ihn damals belogen oder ignoriert habe. Irgendetwas in die Richtung.
Heute fehlt mir die Kraft, um mir eine unglaubwürdige Ausrede aus den Fingerspitzen zu saugen.
„Ich werde sie alle sehen, sobald ich die Augen schließe. Sie werden mich fragen, warum ich nicht da war und ich werde sehen, wie sie ertrinken. Egal was ich tue, um sie zu retten, ich werde alles nur schlimmer machen und dann wache ich auf und sie sind immer noch tot.“ Waren es solche Träume, die Corell um den Verstand gebracht haben?
Spencer schüttelt den Kopf und streicht mir die Haare aus dem Gesicht.
„Vielleicht auch nicht. Geh die Sache doch nicht so pessimistisch an.“ Ich halte die Augen so weit offen, wie ich kann.
Das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass ich Angst habe, furchtbare Angst, und mein Herz trotzdem schlägt, als würde ich tief und fest schlafen. Meine Gefühle verlieren sich Momente, ehe sie meinen Körper erreichen könnten. Irgendwo hat sich eine Schranke zwischen Psyche und Physis aufgebaut und ich habe keine Ahnung, an welchem Punkt das geschehen ist.
„Manchmal tun wir halt Dinge, von denen wir dann träumen.“ Kurz hört Spencer mit dem Streicheln auf, dann fährt sie seufzend fort. „Ich kann dich wecken, wenn du das möchtest. Dann musst du nicht bis ganz zum Schluss warten.“
Ich schüttle den Kopf.
„Irgendwann musst du schlafen“, sagt sie. Ja, aber nicht jetzt. Nicht heute. Es ist erst früher Abend. Ich könnte zwei, drei Tage durchhalten ohne Schlaf. Danach bleibt mir nur zu hoffen, dass ich zu erschöpft bin zum Träumen.
„Mach einfach die Augen zu und versuch, mir zu vertrauen. Ich wecke dich. Das hast du damals auch für mich getan.“
Blinzelnd sehe ich zu ihr auf.
„Wann?“
„Nachdem die Ärzte versucht haben, mich zu erschießen.“ Spencer lacht humorlos auf. „Es ist gut möglich, dass es nicht meine Superkraft ist, Leute in den Tod zu jagen, sondern ihm selbst ständig von der Schippe zu springen. Kannst du dir das vorstellen? Da wird einem eine Kugel in den Kopf gejagt, und alles, was ich zurückbehalte, ist das hier.“ Sie hebt das Haar an und offenbart eine große, kreisrunde Narbe über ihrem Ohr. „Ziemlich schräg, oder?“
Jason und ich saßen unter einer Eiche. Er hat mit mir darüber gesprochen auf ein College zu gehen. Ich habe abgelehnt. Ein donnernder Schuss. Die Erinnerung scheint Ewigkeiten entfernt. Sie passt nicht zu Spencer. Als versuchte mein Geist Parallelen zu finden, wo keine sind. Als versuchte ich verzweifelt Verknüpfungen herzustellen, die sich im Nirgendwo verlaufen.
„Nicht das Durchgeknallteste, was ich in letzter Zeit erlebt habe.“ Ihr leises Lachen hat etwas seltsam Vertrautes.
„Du hast früher gerne gelacht, oder?“
Sie legt den Kopf schief. „Lass uns heute nicht mehr über Vergangenes sorgen, ja? Ich mache den Dreck weg und dann schläfst du eine Runde. Ich wollte heute noch eine Runde fluchen, ohne dass es jemanden gleich zum Heulen bringt.“ Sie zwinkert mir zu. In ihren Augen blitzt der Schalk. Sie scheint ihre eigenen Worte unglaublich witzig zu finden.
Ich kämpfe gegen die neugebildete Galle an.