Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 13

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Der Schnee will nicht versiegen. Den ganzen Tag nicht. Spencer packt ihre Sachen. Ich beobachte verschwommen, wie sie hin und her huscht, während ich das Feuer im Blick behalte, als könnte es mir jedes Geheimnis dieser Welt verraten. Als würde es die Lösungen nicht in Watte packen und vor meinen Augen verzehren.

Man könnte fast meinen, dass Spencer tatsächlich glaubt, ich würde ihr folgen. Dass ich mit ihr gemeinsam vor die Tür gehe und so tue, als gäbe es eine Hoffnung, für die es sich lohnt, zu kämpfen.

Mein Entschluss steht fest. Ich bleibe, wo ich bin. Die Temperaturen werden weiter fallen. Wann? In zwei Wochen, in dreien? Selbst wenn der Winter eines Tages abtauen sollte, gäbe es niemanden mehr, der das Erblühen der Welt bewundern könnte. Es wäre wohl einfach vorbei. Für alles und jeden.

Ich vermisse das deplatzierte Fiepen des Vogels und Lucindas Schreien, sobald sie aus ihren Albträumen erwacht. Ronans Vorliebe mir die kalte Schulter zu zeigen und Jasons vorsichtige Blicke in meine Richtung, wann immer er sich unbeobachtet fühlt.

Spencer mag eine Gesellschaft sein, aber keine, die vergessen macht. Ihre bloße Anwesenheit erinnert mich an jeden Fehler, den ich begangen habe.

„Hast du irgendwo ein Paar Wollsocken gesehen?“, ruft Spencer aus einem der angrenzenden Räume. Ich hebe die Schultern. Hier liegen sie nicht. Ich will mich nicht bewegen.

„Caressa? Socken?“ Sie lehnt sich neben mir über die Lehne des Sofas. Träge hebe ich den Kopf und sehe ihr in die intensiven Augen.

Seufzend drückt Spencer sich schwungvoll von der Couch ab und verschwindet in dem kleinen Chaos des Hauses.

Unzählige Kartons wurden an den Wänden gestapelt, gefüllt mit Nahrungsmitteln. Wer auch immer vor Spencer hier gelebt hat, war ein Idiot, diese vier Wände zu verlassen. Er hatte alles, was er brauchte. Mehr noch. Diese Person hätte Wochen im Überfluss leben können. Ja, der Strom funktioniert nicht und es gibt kein fließendes Wasser. Draußen sieht es nicht besser aus. Der Gasherd, auf dem Spencer im fünf-Stunden-Takt eine heiße Schokolade kocht, ist eine Rarität. Die vollen Tassen stehen unangetastet vor mir, ebenso wie die Comichefte in jedem noch so kleinen Windzug zwar mit den bunten Seiten flattern, ich jedoch noch keinen Blick hineingeworfen habe.

In ihnen geht es um Superhelden. Um eine beschönigte Version dieser. Eine Version, die ein Happy End vorsieht und keinen Winter, der binnen kurzer Wochen jede Hoffnung raubt und den letzten Vogel erstickt. Sie zu lesen, käme einem Schlag ins Gesicht gleich.

Die Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die mit mir unterwegs waren, konnten sich nicht einmal selbst helfen. Das Meer sorgt sich um sie.

„Und meine Mütze? Sitzt du auf der vielleicht drauf? Die ist dunkelblau mit dem Emblem der Klinik auf der Stirn. Schaust du mal bitte nach?“

Lustlos taste ich unter mir nach Wolle. Unter meinen Beinen bekomme ich sie zu greifen. Nüchtern hebe ich sie hoch, sodass Spencer das Überbleibsel der Klinik erkennen kann.

Ihre Schritte entfernen sich erneut. Seufzend betrachte ich die Mütze. Sauber gestrickt, natürlich, die Klinik kennt keine Fehler. Mit weißem Garn wurde das Emblem der Klinik, der Ansatz des Komplexes, umgeben von glorifizierenden Sonnenstrahlen, aufgestickt.

Mein eigenes Lachen scheint in meinen Ohren nachzuhallen.

„Das sieht so komisch aus.“ Kichernd ziehe ich sie Jason tiefer ins Gesicht, bis über die Augen.

Blind boxt er nach mir. „Hör auf, das ist nicht lustig.“ Er bekommt eine meiner Hände zu greifen und löst sanft die Finger von der Mütze und zieht sie sich vom Kopf, ehe ich mich befreit habe.

Schnaubend rolle ich die Augen. „Komm schon, war das wirklich so schlimm?“

„Ja! Ich weiß jetzt, was ich mit Sicherheit nie tragen werde. Und wenn mir die Ohren abfrieren.“

Er hat dieses Versprechen an sich selbst gehalten. Oder war es eines an mich?

„Sehr gut.“ Spencer zupft sie mir aus den Händen. „Jetzt brauche ich nur noch meine Handschuhe, aber die liegen irgendwo oben. Du bleibst hier, ja?“ Sie wartet nicht auf meine Antwort. Gähnend kuschle ich mich tiefer in die Polster und gebe der ernüchternden Müdigkeit nach. Mit schweren Lidern beobachte ich den Tanz des Feuers, das dunkle Schatten an die Wand wirft. Sie flackern mit ihm, bewegen sich in unheimlichen Reigen und scheinen sich von der Tapete lösen zu wollen. Es braucht nicht viel Fantasie, damit sie sich in Ungeheuer verwandeln, die in den dunklen Momenten nach mir greifen und mich bei sich behalten.

Spencers Schritte klingen penetrant laut. Ich ziehe mir eine der Decken über den Kopf und spähe durch den Stoff. Orangenes Licht dringt bis zu meinen halb geschlossenen Augen, gaukelt mir eine schöne, warme Welt vor.

Wieder ratscht der Reißverschluss des Rucksackes auf, noch mehr wird hineingestopft. Spencer stolpert über irgendetwas und flucht leise. „Mist, verdammt.“ Ich meine mich selbst diese Worte aussprechen zu hören.

Das dämmrige Orange verschwindet im Nichts, macht einem matten Grau Platz.

„Was tust du da?“ Ich unterdrücke einen weiteren Fluch und drehe mich zu Jason um. Blind in der Finsternis tastet er nach dem Schalter des Nachtlichts. Vage meine ich zu erkennen, wie er sich einen Arm über die Augen legt, ehe es leise klickt und das helle Leuchten der Lampe den Raum flutet.

Ich richte mich halb auf und streiche mir die Haare aus der Stirn. „Packen.“ Stirnrunzelnd setzt er sich auf, heftig gegen die Helligkeit anblinzelnd.

„Wie meinst du das?“ Er wirkt noch vom Schlaf benommen.

„Wie ich es sage. Es reicht mir endgültig. Ich mache mit Doktor Warren nicht mehr mit, ich gehe nicht mehr in diesen bescheuerten Keller. Nie wieder. Das kann sie sich abschminken.“

„Sie werden dich finden.“ Jason wankt leicht, als er aufsteht. Ich presse die Lippen fest aufeinander.

„Selbst wenn. Was sollen sie schon machen? Mich umbringen? Wie sie es mit Matt gemacht haben? Mir das Hirn wegrösten und den Eltern später erzählen, dass es ein schrecklicher Unfall war?“

Jason hebt beschwichtigend beide Hände. „Du musst dich beruhigen.“ Er fährt sich über das Gesicht. „Bist du erst jetzt zurückgekommen?“

Meine Antwort ist ein abgehacktes Schulterzucken. Ich werfe ihm seinen Rucksack zu. „Lass uns verschwinden, bevor sie kommen und uns auch irgendetwas in den Körper jagen, das aus uns irgendwelche Monster macht.“

„Was meinst du?“ Sein Blick fällt auf die Uhr an meiner Wand. „Es ist halb zwölf. Wir haben Ausgangssperre und die Türen sind alle verriegelt. Das ist zu überstürzt.“

Ungläubig schnappe ich nach Luft. „Überstürzt? Ist das dein Ernst? Die haben da unten Kinder, denen Rabenfedern aus der Haut wachsen. Sie werden behandelt wie Vögel und beginnen sich wie solche zu verhalten. Wie blutrünstige, hirnlose Vögel. Wie lange, denkst du, haben sie die da schon eingesperrt und gefoltert, bis sie gemacht haben, was sie wollten? Denkst du, sie haben lieb Bitte gesagt?“ Unter der Heftigkeit meiner Worte wankt er leicht.

„Ich verstehe nicht ganz …“

„Sie züchten da unten Monster“, kreische ich. „Erinnerst du dich an die Dinger, die man nur aus dem Tiefkühler rollen musste, damit sie wieder auf den Beinen waren und gegen einen gekämpft haben? Die Rabenkinder sind noch schlimmer. Doktor Warren hat da einen Hund reingeschickt. Den süßen Labrador von nebenan. Sie haben sich auf ihn gestürzt und mit Zähnen und Fingern zerfleischt. Da denkst du, dass Kinder dir nichts tun können und dann so etwas.“ Ich schüttle heftig den Kopf. „Die sind alle gleich, Jason. Wir können niemandem vertrauen, am wenigsten ihr. Sie kennt keine Grenzen. Sie wird …“

„Beruhige dich“, unterbricht er mich. „Bist du dir sicher, dass du das nicht einfach geträumt hast?“

Fassungslos schnappe ich nach Luft. „Geträumt? Das … Da unten sind Rabenkinder, die unseren Hund aufgefressen haben. Es war ihnen egal, wie tapfer er sich gewehrt hat, und Doktor Warren hat ihm nicht geholfen und nicht zugelassen, dass ich irgendetwas tue. Das Tier wurde bei lebendigem Leibe von Kindern zerfleischt, denen aus den Armen und Beinen und im Gesicht und auch sonst überall Federn wachsen. Ich … Ich habe langsam das Gefühl, dass das hier gar nicht mein Zuhause ist, sondern Doktor Frankensteins Horrorkabinett, in das man mich irgendwann eingesperrt hat. Das alles hier ist so krank und … widerlich und … und …“

„Bevor wir irgendetwas tun, zeig es mir doch lieber erst einmal“, sagt Jason vorsichtig. „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.“ Er hat sich den Rucksack ebenfalls über die Schulter geworfen. Jason denkt nicht daran, aufzubrechen. Er trägt lediglich seine Schlafhose. So verschwindet man nicht mitten in der Nacht aus der Klinik, wenn man nicht sofort wieder eingewiesen werden will.

„Glaubst du mir nicht?“ Perplex sehe ich ihn an.

Behutsam streicht Jason mir die Haare aus dem Gesicht. „Ich denke schon, dass du wirklich glaubst das gesehen zu haben, aber …“

„Es war da“, unterbreche ich ihn verzweifelt. „Genau wie die Mädchen ohne Hände mit diesen gigantischen, spitzen Zähnen.“ Die ich ihm ebenfalls nicht zeigen konnte. Als ich ihn am nächsten Tag hinabführte, war der Raum wie leergefegt. Ob ich halluziniert habe? Unwahrscheinlich. Eines von ihnen hat mich gebissen. Die dünne Narbe am Unterarm sehe ich noch immer.

Jason schlingt beide Arme um meinen Körper und zieht mich an sich. Frustrierte Tränen zwingen mich dazu, mich zu räuspern, um weitersprechen zu können. „Ich werde nicht verrückt, Jason, das schwöre ich dir. Das war alles real.“

„Das zweifle ich nicht an.“ Einen federleichten Kuss drückt er mir auf die Schulter. „Ich denke eher, dass sie wollen, dass nur du es siehst. Um dich von uns anderen zu entfernen.“

„Warum sollten sie das tun? Warum sollte Doktor Warren es darauf anlegen?“

Er sieht mir fest in die Augen. „Zusammen sind wir stark. Jetzt abzuhauen, das wäre das Dümmste, was wir tun könnten. Sie würden die Gründe für unser Verschwinden erahnen können und sie würden alles daran setzen, uns zum Schweigen zu bringen.“ Ich beginne unkontrolliert zu zittern und atme gegen seine Haut ein und aus, lausche dem rasenden Herzschlag, der kräftig ist wie eh und je.

„Sie rauben mir noch den Verstand“, bringe ich hervor. „Irgendwann schaffen sie es.“

„Nur wenn wir es beide zulassen.“ Behutsam fährt Jason mit dem Daumen über meine Wirbelsäule. „Und selbst wenn du aufgibst, bin ich immer noch für dich da. Ich bin immer an deiner Seite, ganz gleich was passiert. Vergiss das nie.“

Ich schüttle leicht den Kopf. „Wir müssen diese Wesen suchen. Ich weiß nicht, wofür sie gut sein sollen, aber bestimmt nicht, um irgendwem zu helfen.“

Jason macht ein zustimmendes Geräusch. Seufzend zieht er mir den Rucksack von den Schultern. „Du brauchst Schlaf“, sagt er. „Sonst legen sie auf die Weise deinen Kopf lahm.“

Ich hasse, dass er Recht hat. Tapfer straffe ich die Schultern und nicke. „Sobald wir alt genug sind, bewerben wir uns für das College. Dann kommen wir hier endlich raus.“

Er lächelt schwach. „Noch ein Jahr.“ Das ist mehr, als gut für uns ist. Ich lasse mich von ihm ins Bett ziehen. Die Decken sind angenehm warm. Orangenes Licht flackert gedämpft vor meinen Augen.

Über mir höre ich Spencers Schritte. Kurz darauf poltern sie die Stufen hinab.

„So, ich dürfte jetzt alles haben. Die Frage ist, bleiben wir heute Nacht hier und schlafen uns aus, oder lassen wir uns von den fallenden Temperaturen so schnell wie möglich nach draußen treiben?“

Ich rühre mich eh nicht vom Fleck, egal was sie tut oder will. Stumm kuschle ich mich tiefer in die Polster und linse durch einen kleinen Spalt zwischen zwei Decken nach draußen. Die zuckenden Schatten haben sich beruhigt, hängen nur noch einsam und stumm an den Wänden.

„Gut, das interpretiere ich als ein: Noch eine heiße Schokolade und los.“ Sie verschwindet aus dem Zimmer in die Küche. „Ach, übrigens“, ruft Spencer mir über ihre Schulter zu, „In deinen Rucksack habe ich noch ein paar ganz nützliche Gadgets gepackt. Ein Seil, Wärmekissen, Verbandszeug, Antibiotika. Wir haben beide alles, was wir brauchen. Wahrscheinlich sollten wir uns trotzdem nicht aus den Augen verlieren.“ Soll sie doch tun, was sie nicht lassen kann.

Töpfe schlagen klirrend gegeneinander und das leise Rascheln von Kakao, der aus der Verpackung geschüttet wird, dringt bis zu mir durch.

Die Angst aus meiner Erinnerung sitzt mir in den Knochen. Sie war verwirrend, ich vielleicht sechzehn und viel zu aufgebracht. Was für eine Erklärung hat mir Doktor Warren gegeben, damit ich ihr weiterhin mein Vertrauen geschenkt habe? Was hatte sie gegen mich in der Hand?

Bitter verziehe ich den Mund. Gut möglich, dass sie sich nie die Mühe gemacht hat, mich zu beruhigen. Es wäre doch so viel einfacher, einfach mein Gedächtnis zu löschen.

„Hat Jason dir jemals etwas über Rabenkinder erzählt?“ Die Worte sind schneller raus, als ich sie überdenken kann. Fröhlich schlägt ein Schneebesen gegen den Topf.

„Nein, warum sollte er? Du hast nur im Traum davon gefaselt. Nicht, dass du mir danach sagen konntest, was das sollte. Da habe ich an dir gezweifelt, als du mich groß angeguckt hast und mich gefragt hast, wovon ich bitte rede.“ Spencer lacht übermütig auf. „Bist du mir böse, wenn ich dir keinen Kakao mehr mache? Du hast noch drei oder vier.“

Ist mir egal, ich trinke sie eh nicht. Mein Schweigen quittiert Spencer mit einem Seufzen, während ich noch tiefer in meinem schön warmen Haufen versinke.

Doktor Warren war die Gute in dieser Gleichung. Sie stand auf meiner Seite. Warum aber hat sie dann von mir verlangt, dass ich Ronan den Kopf verdrehe? Wäre es möglich, dass sie bereits vor Kai an meinem Verstand herumgefuscht hat?

Der Gedanke lässt Übelkeit in mir aufsteigen.

„Habe ich von weiteren dubiosen Figuren geredet?“

„Welche Figuren?“

Erschrocken fahre ich zusammen, habe Spencer nicht kommen hören. Ich schiebe die Decke unter mein Kinn, um sie ansehen zu können. „Von denen, die wir vorhin gesehen haben.“

Sie hebt ihre Brauen. Skepsis spricht aus jeder Bewegung. „Sprich dich ruhig aus“, spottet Spencer. Ich beiße die Zähne zusammen. Was auch immer ich gleich sage, es wird verrückt klingen.

„Die drei schwarzen Prinzessinnen, das Mädchen ohne Hände, die Nixe, das Kind im Totenhemd, der Junge im Grab, habe ich irgendetwas in der Richtung dir gegenüber mal erwähnt?“

Ihre Mundwinkel zucken verräterisch, als versuche sie krampfhaft nicht in Gelächter auszubrechen. „Sprichst du von den Bildern aus dem Märchenbuch?“

Frustriert fahre ich mir mit allen zehn Fingern durch die Haare und halte inne, als ich registriere, dass das Jasons Geste ist. Schlaff lasse ich die Hände zurück in meinen Schoß sinken. „Nein. Also, doch, irgendwie schon. Es ist nur … Verdammt, habe ich dir davon schon einmal etwas gesagt?“

Sie zuckt die Schultern. Das Grinsen ist ihr vergangen. Das ist unsere ganz eigene Suche im Heuhaufen. Irgendwo versteckt sich die Nadel, irgendwo zwischen tausenden Halmen, und wenn ich sie nicht bald finde, dann kostet es mich meinen Verstand.

„Nein. Nie. Tote und Gräber waren nie so unser Thema. Das mit den drei schwarzen Prinzessinnen …“ Sie stockt kurz. „Corell hat so etwas glaube ich mal vor langer Zeit Lucinda gegenüber fallen lassen. Verflucht, schwarz, noch irgendetwas.“ Spencer schüttelt sacht den Kopf. „Keine Ahnung, es war nicht wichtig, sondern nur das Gefasel von, naja, Corell.“ Blöd nur, dass dieser Junge deutlich mehr zu wissen scheint, als gut für ihn ist. Ronan vertraute mir an, dass Corell sich an wirklich alles erinnern kann, was er jemals gesehen oder gehört hat.

Hat Corell die Idee der Schwarzen Prinzessinnen bei seinem geisteskranken Vater aufgeschnappt?

„Und du hast keine Details? Wirklich nicht? Lucinda ist doch nur eine einzige Person. Das mit den drei Prinzessinnen ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“ Dieses Mal ist es mir gleichgültig, dass ich Jasons Geste nachahme, als ich mir mit allen zehn Fingern die Haare aus dem Gesicht streiche.

„Vielleicht hat er uns beide noch dazu gezählt?“, schlägt Spencer vor „Wir drei waren wie Pech und Schwefel.“

„Und wie kommt er auf das Schwarz?“ Ich deute auf meine kränklich bleiche Haut. „Das passt nicht.“

„Vielleicht unser Gothik-Halloween? Was weiß ich. Wie gesagt, das hat Corell gesagt, ich würde da nicht zu viel hineininterpretieren.“

Stimmt. Ich sollte mich einfach hinsetzen und vor mich hinvegetieren, bis meine Zeit gekommen ist. Genau das ist der Plan. Ohne Hoffnung bleibt nur das Siechen.

Meine Neugierde zerfrisst mich, geweckt von vagen Erinnerungen und Spencers lückenhaften Ideen.

„Kennst du das Märchen zu den Dreien?“, hake ich nach.

Noch ein Achselzucken. „Lucinda hat es damals recherchiert. Ziemlich gruselig, wenn du mich fragst. Sie sind verflucht, werden von einem Fischersohn gefunden und als sie ihn bitten, sie zu befreien, rät seine Mutter ihm, die drei mit geweihtem Wachs zu übergießen, womit sie letzten Endes ewig an das Schloss gefesselt sind. Es gab doch diese Zeit, da haben wir uns anstatt von den öden immer gleichen Horrorgeschichten Grimms Märchen erzählt. Hatte den gleichen Effekt.“ Verflucht?

Hat Corell überhaupt eine Verbindung zu dem Märchen hergestellt oder derjenige, der es ausgespuckt hat? Angespannt ziehe ich das Buch hervor und blättere zu der Seite. Die Illustration ist unberührt. Kein Detail verändert. Das Märchen unleserlich. Die Notizen am Rand, die gleichen wie überall anders auch.

„Hattest du mir davon erzählt?“, frage ich Spencer.

Sie zupft gedankenverloren an ihren Locken. „Keine Ahnung. Bestimmt. Es war nicht wirklich wichtig und ich verstehe auch nicht ganz, warum du aus dem Ganzen so eine große Sache machst.“

Ich hasse meine Erinnerungen. Sie sind fort, sie kehren zurück. Kehren nie zurück, wie ich es will, sondern plötzlich, zusammenhangslos und aus dem Nichts. Meine eigene Vergangenheit droht, mein Meistermanipulator zu werden.

Ich straffe die Schultern. Meine Entscheidung steht fest. Ich bleibe hier und sterbe vor mich hin.

Die lückenhaften Erinnerungen wollen mich aus der Reserve locken. Wenn ich mich erinnern könnte, womöglich könnte ich die Geschehnisse zum Besten wenden?

In meinem Traum wurden Wesen erwähnt, die erwachen, kaum dass sie den Gefrierschrank verlassen haben. Wie die Kannibalen? Eine weitere Falle der Klinik?

Sie haben uns ausgesetzt, sie wollten nicht, dass wir die Klinik je wieder betreten. Warum? Was verbergen sie?

Jason hat mich nicht nach oben geschickt, weil er dachte, dass ich sie retten könnte. Die Überzeugung kommt plötzlich und will nicht mehr gehen. Ihm war die Ausweglosigkeit der Situation bewusst. Jason hat nicht gehofft, dass ich ein Wunder geschehen lasse. Er wollte, dass ich dieses letzte Rätsel löse.

Seine eigentliche Bitte. Dass ich ihnen helfe. Auf diese Art und Weise. Wahnsinnige, absolut verrückte Hoffnung flammt in mir auf. Ich weiß, dass sie in Grund und Boden getrampelt werden wird. Aber vielleicht, ganz vielleicht nur, sind sie nicht tot. Womöglich sind sie konserviert, wie es die Kannibalen waren, am Leben gehalten durch das Serum, das uns durch den Körper strömt. Was, wenn ich nur zurück in die Klinik muss, um dieses winzige Rätsel zu lösen? Um ein einziges Mal das Richtige zu tun?

Ich habe das Märchenbuch und für den absoluten Notfall auch Spencer.

„Trink deine Schokolade aus“, sage ich. „Wir müssen los.“ Ich nehme selbst einen großen Schluck. Alle Energie, die ich bekommen kann, werde ich brauchen. Rasch schlüpfe ich in die kratzige Thermounterwäsche, die Spencer mir zurechtgelegt hat. Erst in das kleinere Paar, dann in das größere. Dann die Jeans darüber, eine Schneehose. Auf diese Weise verpackt, fühle ich mich zumindest im Haus dem Unwetter gewachsen. Ich warte nur darauf, dass die ersten Blitze durch das erstickende Schneetreiben zucken.

„Kannst du mir mal bitte sagen, weshalb du jetzt unbedingt loswillst?“

„Wir können nicht ewig hier bleiben.“

„Wow, Caressa, schraub mal etwas zurück und …“

„Nein, wir müssen los. Ich habe eine wirklich, wirklich gute Idee.“ Zumindest einen Strohhalm, an den ich mich klammern kann.

Spencer schnaubt abfällig. „Welche? Corell finden und ihn über die drei Schwarzen Prinzessinnen löchern? Verdammt, das ist ein Märchen und Corell hat von den Prinzessinnen gesprochen. Der Junge hat keine einzige Tasse mehr im Schrank. Nicht eine, hörst du?“

„Von mir aus, aber er hat Recht!“ Aufgekratzt sehe ich Spencer an. „Du verstehst das nicht, okay? Es wäre möglich, dass ich sie nicht umgebracht habe. Und die Lösung dazu liegt in der Klinik. Du wolltest da doch eh hin. Also lass uns aufbrechen.“ Ich ziehe mir den vierten Pullover über den Kopf, bevor ich die Arme in meinen Mantel stecke und ihn mühsam schließe. Die Knöpfe scheinen abspringen zu wollen, der Reißverschluss sich zu überdehnen. Egal. Wir haben schon viel zu viel Zeit verschleudert. Dieses Märchenbuch, Jason und ich haben die einzige Lücke gefunden, die die Ärzte übersehen!

Spencer stemmt die Arme in die Hüften. „So gehe ich mit dir nicht. Du bist völlig durch den Wind.“

Ich wickle mir einen Schal um Mund und Nase, und noch einen, dann zerre ich mir die Kapuze über die Haare. „Zieh dich an oder ich schleppe dich so vor die Tür.“

Spencer kichert augenverdrehend. „Das würdest du nicht wagen.“

Ich erspüre die Moleküle unter ihren Füßen und versetze sie in Schwingung, zwinge sie zu einer schnelleren Bewegung und zu neuen Strukturen. Der Boden unter Spencer bewegt sich. Sie kreischt auf, rudert mit den Armen und lässt sich fallen. Die Teilchen schnappen in ihre alte Bewegung und Position zurück. Auf ihre Unterarme gestützt, wirft Spencer mir durch ihr wirres Haar einen mörderischen Blick zu.

„Zieh dich an“, wiederhole ich.

Corell wird Lucinda den Hinweis mit den drei Schwarzen Prinzessinnen nicht ohne Grund gegeben haben. Kein Produkt der Klinik tut etwas ohne Hintergedanken. Schaudernd rolle ich unter den Stoffschichten die Schultern. Mir bleibt nur zu hoffen, dass ich uns in keine Falle führe.

Winter

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