Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 9
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Man sagt, wenn man erfriert, verschwindet die Kälte. Man sagt, einem würde mollig warm und die Illusion entstände, der Kampf wäre gewonnen worden – während man in der Schlacht längst geschlagen wurde. Heißes Blut pumpt durch den Körper, während es eigentlich gefriert.
Eine Lüge, bittersüß wie diese, dass einem während des Ertrinkens der Kopf leichter wird, man sich vom Körper zu lösen scheint und jedes schreckliche Flehen der Lungen vergisst.
Beide Schilderungen schaffen Ideen, die niemand fürchten muss.
Die Wolke hat mich eines Besseren belehrt. Wenn man erfriert, dann gibt es keine Hitze, nirgendswo. Man spürt, wie sie aus einem herausgesogen wird. Eine Leere, ja, überall, eine erschreckende, mich verzehrende Leere. Aber kein warmes Bett, das einem die Angst nehmen könnte. Der Körper kämpft bis über sein Ende hinaus in der verzweifelten Hoffnung, den Kampf für sich entscheiden zu können. Wie ein Soldat, dem man in den Kopf schoss und dessen Arme und Beine aus der Panik heraus noch funktionieren. Jeder, der ihn sieht, weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat, aber er bewegt sich wie jemand, der all seine Kraft wiedergefunden hat, bis sie auf den letzten Tropfen ausgeschöpft ist.
Wenn man ertrinkt, gibt es keine Gnade. Ich kann die Hölle dieses Todes nicht in Worte fassen. Der Kopf wird nicht leichter. Der Verstand verabschiedet sich lediglich, während man reflexartig Wasser inhaliert, um an ihm zu ersticken. Tausend Tode stirbt in der Hoffnung, in einem Schwall ein Quäntchen Atemluft zu finden.
Ich weiß nicht, welcher Schrecken sie heimsucht. Ertrinken sie oder erfrieren sie? Zuckend ziehe ich die Knie an die Brust. Das Gackern der Apokalypse liegt in jedem Wehen des Windes. Wären wir nur weitergelaufen, hätten sie nur gehört.
Die Sonne malt Muster in den Nebel, so traumhaft schön, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass unter seinen Fittichen ein Massengrab ausgehoben wird. Ich habe es geöffnet.
Warum ich es nicht schließe? Keine Ahnung. Die Kannibalen werden von den Fluten verschlungen sein. Meine Weggefährten auch. Es wäre an der Zeit, das Meer wieder zum Schweigen zu bringen. Ich kann es nicht. Ich bin wie gelähmt.
Meine Gedanken rasen, drehen sich, verschwinden in Panik und sinnloser Sorge. Gerade jetzt bräuchte ich jemanden, der einen Arm um mich legt und mir verspricht, dass alles gut wird. Mir versichert, dass ich das kann. Dass die Apokalypse mir nicht die letzten Illusionen genommen hat. Aber ich bin allein und meine Fähigkeiten gehorchen meinem aufgewühlten Verstand nicht.
Ein hilfloses Schluchzen entflieht meinen Lippen, als ich ratlos versuche, die wild strampelnden Moleküle zu umfassen und zur Ruhe zu zwingen. Sie schütteln mich ab, distanzieren sich, gleiten mir durch die Finger wie feinkörniger Sand.
Ob der Vogel irgendwie entkommen ist? Hat er sich vielleicht in eine Felsspalte geflüchtet? Ich kann nicht mit einem einzigen Fehler, mit meiner verfluchten Feigheit, jedes Versprechen an mich selbst, das ich mir seit der Wolke gemacht habe, gebrochen haben. Das ist nicht möglich.
Wieder bebt der Fels unter mir, als die nächste Welle brandet. Tränen laufen kalt über meine Wangen und gefrieren an Ort und Stelle.
Ich fühle mich, als hätte ich sie dorthin gelockt, dabei war ich es doch, die sie zur Umkehr bewegen wollte. Das hier ist nicht meine Schuld. Ich muss die Kontrolle über das wogende Chaos zurückerlangen. Es leckt die Felswände hinauf.
„Das ist die mieseste Überraschung, die man mir je gemacht hat.“
Meine Schultern verspannen sich. Adrenalin wird aufgepeitscht. Automatisch greife ich nach den Molekülen hinter mir und versuche, sie zerspringen zu lassen. Der Grund beginnt zu beben.
„Caressa, ich schwöre dir, beweg diese gottverdammte Küste und ich schreie.“
Der Wahnsinn kommt langsam. Unter der Wolke hat er noch jeden ereilt. Wenn ich neben dem Tod stehe, ist das doch der perfekte Zeitpunkt dafür, die Geister der Ermordeten sprechen zu hören.
„Kommst du, um mich dafür zu bestrafen, dass ich nicht nur dich auf dem Gewissen habe, sondern jetzt auch noch deinen Bruder?“ Ich sinke auf die Fersen. Die Teilchenbewegung kämpft gegen mich. Nicht stark genug. Meine plötzliche Resignation überwältigt sie.
Ein einziges lautes, ohrenbetäubendes Krachen, das die Steine vor meinen Augen in die Tiefe fallen lässt, beweist, dass es lediglich einen Geist braucht, um einen Teil meiner Beherrschung zurück zu mir zu spielen.
Eine Erinnerung, die zu sehr mit Schuldgefühlen belegt ist, als dass ich sie begreifen könnte. Wochen der Verdrängung und der Wut, damit dieser Moment endlich verschwimmt und in meiner angreifbarsten Sekunde steht sie hinter mir und lacht mir ins Gesicht.
„Wer ist tot?“
Ich drehe mich zu ihr um. Spencer ist nicht grau, wie Corells Vater, sie sieht aus wie eh und je. Ihre Haare sind wirrer, die Lippen nicht mehr so weich und die Augen haben etwas von ihrer willensstarken Leuchtkraft verloren. Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, dass dieses Mädchen ebenso lebendig ist wie ich. Hätte ich sie nicht begraben. Ronan hat Tonnen von Tränen um sie vergossen.
„Dein Bruder. Ich habe ihn genauso umgebracht wie dich. Eigentlich müssten die Ärzte der Klinik mich doch lieben.“
Sie setzt sich ein Stück hinter mich. Ihr Blick huscht über die bröckelnde Kante der Klippe.
„Ist er da unten?“ Spencer lehnt sich nach vorn, als könnte sie Schemen durch den dichten Nebel erkennen. Meine Antwort ist ein beinahe apathisches Schulterzucken. Was soll ich auch sonst tun? Mich bei dem Mädchen ausheulen, das meinetwegen viel zu früh gestorben ist? Ich bereue, was mit ihr geschehen ist. Mehr als alles andere. Sie war ein Symbol meiner Feigheit. Sie ist es noch immer.
„Caressa, ist Ronan unter dieser Nebeldecke?“
„Vermutlich nicht nur unter der“, antworte ich monoton.
Sie sieht mich aus großen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst.“
Ich atme rasselnd ein. Die Luft gefriert mir in den Lungen.
„Sie meinten, ich soll meine Fähigkeiten verwenden. Entweder sie wären den Kannibalen zum Opfer gefallen oder erfroren.“ Mit einem Erfrierungstod gehen nicht so viele Entbehrungen einher. Immerhin bleibt man in einem Stück. Am liebsten würde ich den Kopf irgendwo gegenschlagen. So unsagbar dumm. Es muss einen anderen Weg gegeben haben.
Warum habe ich auf Jason gehört? Unten bei ihnen hätte ich tatsächlich etwas bewegen können. Am Ort des Geschehens hätte ich meine Gabe ganz bewusst gegen die einzelnen Kannibalen einsetzen können. Sie wären in der Luft zersprungen, hätten sich aufgelöst, wären in ihre Bestandteile zerplatzt. Ihr blutiger Tod hätte niemanden gekümmert.
Nachdem ich den Nebel habe entstehen lassen, wusste ich nicht einmal mehr, wer dort unten Freund und Feind ist. Wem hätte ich helfen sollen? Wen zersprengen?
„Wow.“ Spencers Geist schnappt ungläubig nach Luft. „Das glaube ich einfach nicht.“
Ich wische mir mit der Hand über das Gesicht. Der stechende Gestank von Blut steigt mir in die Nase. „Denkst du, ich wollte das? Ich habe ihnen gesagt, dass es gefährlich ist. Ich sagte ihnen, sie sollen zurückkommen, aber keiner von ihnen wollte hören!“
„Und jetzt? Warum bist du dir sicher, dass sie alle tot sind?“ Der Wind spielt mit Spencers Locken.
Ich lache humorlos auf. „Müsstest du das nicht spüren? So als Geist, müsstest du nicht wissen, wann andere tot sind?“
Einige Sekunden lang sieht sie mich nur an, dann rollt Spencer die Augen. „Oh, jetzt verstehe ich endlich, warum ich unter der Erde aufgewacht bin und mich irgendwie aus dem Loch graben musste. Ihr dachtet, ihr hättet mich erledigt!“ Ja. Natürlich! Ihr Herz hat nicht mehr geschlagen. Spencer war still. Gestorben still.
„Sagt mal, habt ihr beiden den Verstand verloren? Ich dachte, ich verrecke da unten.“
Ich beginne zu glauben, dass ich heute Früh nicht aufgewacht bin, noch immer neben dem Lagerfeuer liege und mich in diesem Moment unruhig auf die andere Seite wälze. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was für ein Schreck es war, die Augen öffnen zu wollen, und da ist nichts als Tonnen von Erde über dir?“ Meine Gedanken stocken. Mich würde interessieren, wie sie da rausgekommen ist. Hat sie die Sandkörner angeschrien, bis sie zur Seite gewichen sind? Unwahrscheinlich in Anbetracht dessen, dass sie schon fast erstickt gewesen sein dürfte. Das Gewicht der Erde hätte ihren Oberkörper zerquetschen müssen.
„Aber, nein, man muss sich ja nicht vergewissern, dass jemand noch lebt. Ihr hättet mir auch einfach in den Arm schneiden können. Wenn das Blut geflossen wäre, hätte das sehr dafür gesprochen, dass ich noch am Leben bin.“ Ungläubig sehe ich Spencer an. Der Wind hebt eine weitere von Spencers Locken an und spielt mit ihr. Ich war fertig mit den Nerven und der Welt, Ronan hatte seine nicht atmende und stille Schwester an sich gepresst. Das ist keine Situation, in der man ein Messer zückt. Um jemanden die Haut aufzureißen. Spencer reibt die Finger aneinander.
„Kannst du auch mal was sagen oder hat deine gnadenlose Blödheit jetzt auch auf die Stimmbänder übergegriffen? Was meintest du damit, dass er nicht nur unter dem Nebel begraben liegt?“
Dieses Gespräch ist surreal. Es kann nicht wirklich sein. Spencer ist tot. Ihr Körper bewegungslos, kein Atemzug verließ ihre Lippen. Ronan hat sie stundenlang in den Armen gehalten und ich sie in gut zwei Metern Tiefe vergraben.
Kannibalen, die ich habe sterben sehen, deren Haut aufgerissen wurde von den Fingernägeln der Verbündeten, können nicht unversehrt in gigantischen Blasen treiben, die ohne Sinn und Verstand zerplatzen wie überdimensionale Furunkel.
„Kneifst du mich, damit ich aufwache?“, bitte ich Spencer leise.
Sie schnaubt abfällig und zieht einmal heftig an meinem Ohr. Ich schreie auf. Ein stechender Schmerz schießt durch meinen Kopf, krallt sich in meinen Schädel, nur um mit gebündelter Kraft zurück zu meiner Ohrmuschel zu rasen. Fluchend presse ich die Hand auf das Pochen. Stammt das Blut von einer frischen Wunde oder meinen Fingern?
„So, guten Morgen, Schätzchen!“ Übertrieben blinkert sie mit den Wimpern. „Was hast du mit Ronan angestellt?“
Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Kein erloschenes Lagerfeuer. Ich stecke nicht in meinem Schlafsack und vor mir löst sich noch immer quälend langsam der Nebel auf, während ich kein Lebenszeichen unter meinen Füßen spüre. Spencer hockt wenige Zentimeter hinter mir, den Kopf schief gelegt und die Hände zwischen den Knien baumelnd.
Kein Traum. Bittere Realität. Ich spähe hinab in der Hoffnung irgendwo blaues Gefieder ausmachen zu können. Soweit ich weiß, konnte sie kaum fliegen. Etwas Flattern, ja, und Jason hat sich mit seinen begrenzten Möglichkeiten ins Zeug gelegt, ihr alles Lebensnotwendige für einen Vogel beizubringen, aber mehr als zwei Meter ist sie doch nicht vorangekommen.
Zwei Meter reichen nicht, um mörderischen Wellen zu entkommen.
„Ich habe das Eis aufgerissen“, murmle ich. „Ich hatte gehofft, dass sie bereits an der Klippe sind und nach oben klettern. Aber offensichtlich war das nicht der Fall.“ Ich wage es nicht, mich erneut zu Spencer umzudrehen. Die kalte Luft lässt mich schaudern und dieser elende Blick in die ungewisse Tiefe.
„Okay.“ Stirnrunzelnd sehe ich in die Ferne. Das ist alles, was sie zu sagen hat? „Ich bin dafür, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Du wirst mir das mit den Kannibalen erklären und was mit Ronan passiert ist. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es bis in mein Haus.“ Schief sehe ich sie an. Das ist Tage von hier entfernt. Sollte sie nicht wütend auf mich sein, weniger pragmatisch?
Spencer ignoriert meinen verlorenen Blick und steht auf. Sie ist noch immer da, hat die Fassung nicht verloren. Kein Gespenst. Fast wünschte ich, sie wäre eines. Damit irgendetwas einen Sinn ergibt.
„Hör auf, mich so anzusehen, und komm. Wenn Ronan dich nach oben geschickt hat, wird das einen Grund gehabt haben.“ Ich rühre mich nicht, suche noch immer dieses malerische Wintergrab nach einem Lebenszeichen ab. Wenn ich unten geblieben wäre, wäre alles anders gekommen.
Wusste Jason, dass wir ohnehin keine Chance gegen diese Menschen hatten? Er fragte mich, ob ich mich an sie erinnere. An welche wie sie. Was wurde aus ihnen gemacht? Mehr als Kannibalen, mehr als Killer? Wann, wie? Wenn Jason klar war, was passiert, warum verdammt noch mal ist er mir nicht gefolgt?
Corell wird mich hassen. Weiß er bereits, dass meine Unzulänglichkeit Lucindas Leben gekostet hat? Das nächste Versprechen gebrochen. Ich sollte aufhören, welche zu machen. Unter der Wolke ist kein Platz für Loyalität.
„Solltest du mich nicht umbringen wollen?“, frage ich rau.
Spencer zuckt abwertend die Schultern. „Vermutlich. Aber ich vertraue meinem Bruder. Nebenbei, lieber habe ich meine verkorkste, alte beste Freundin bei mir, als hin und wieder einen Untoten. Sieh es als Chance an, deinen Fehler wieder gut zu machen.“ Das wird mir kaum gelingen.
Als ich mich noch immer nicht rühre, greift sie nach meiner Hand und versucht, mich auf die Füße zu ziehen. Widerwillig gehorche ich Spencer. Meine Beine funktionieren nicht richtig. Sie sind betäubt, hohl. Irgendwie tragen sie mein Gewicht, aber allein bei dem Gedanken, einen Schritt machen zu müssen, sehe ich mich fallen. Spencer zieht mich mit sich, ich stolpere, versuche rudernd das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Es ist eine automatisierte Bewegung, ganz natürlich. In meinem Kopf ist es nicht einmal richtig angekommen, dass ich drauf und dran war zu fallen.
Stöhnend lässt Spencer mich los. Wankend komme ich zum Stehen und drehe mich um. Wenn der Nebel sich lichtet, werde ich sie dann eingeschlossen im Eis vorfinden, für immer erstarrt in dem verzweifelten Versuch, sich frei zu machen? Sind sie ertrunken oder hat die Kälte genügt, um ihre Herzen zum Stillstand zu bringen?
Ronan hatte mit Sicherheit den längeren, schmerzhafteren Weg vor sich. Seine Fähigkeiten werden in einem aussichtslosen Kampf gegen die Apokalypse arbeiten und ihr schlussendlich unterliegen. Das hat er nicht verdient.
„Himmel, Mädchen, du stehst ja unter Schock.“ Spencer nimmt meine Hände in ihre. Dass sie unkontrolliert zittern, bemerke ich erst, als Spencer sie zur Ruhe zwingt.
„Ich habe sie umgebracht“, wispere ich. „Ich habe sie genauso getötet wie dich. Oder wie dieses Mädchen in den ersten Monaten nach der Wolke. Sie sind alle meinetwegen tot.“
Sie seufzt schwer. „Ich lebe, oder? Mich hast du nicht umbringen können. Versuch runterzukommen und dann sehen wir weiter.“
Der Vogel hat so viel durchgemacht und Jason hat ihn so geliebt. Nicht einmal er ist hier.
Jason hat mir zugerufen umzukehren. Er hätte mir einfach folgen sollen. Dann hätte ich nur zwei Leben auf dem Gewissen gehabt, nicht vier.
Ob er versucht hat, sich zu befreien, als die Wellen kamen? Ist er noch gegen sie angeschwommen? Hat sich einer der Kannibalen an ihm festgeklammert?
Meine Sicht verschwimmt. Sauerstoffmangel, Tränen? Der stechende Schmerz sitzt tiefer, als ich ihn begreifen kann.
„Caressa, mach mir keine Angst und steh jetzt auf. Alles wird wieder gut.“ Mir ist so schlecht. Und es ist eisig kalt. Mit spitzen Fingern stehlen sich die Temperaturen durch meinen Mantel und stechen zu, peinigen mich. Nicht, dass ich es anders verdient hätte. Es wäre nur gerecht, bliebe ich hier liegen, bis das Eis mich holt.
Spencer flucht lautstark. „Mein verdammter Bruder hat dir nicht den Hals gerettet, damit du jetzt ins Gras beißt. Komm mit, verdammt noch mal. Wo ist dein Überlebenswille hin?“
Ich sollte mit ihnen begraben sein, dort unten. Bei Jason. Das ist wohl der größte Verrat: Wenn man feige flieht. Einfach so.
Einfach so.
„Gut, das reicht jetzt. Entweder du läufst oder ich zerre dich hinter mir her.“
Weiß Corell, dass Lucinda tot ist? Wenn ja, dann wird er mit Tränen in den Augen bei seinem Vater sitzen, schreien, brüllen, und den letzten Rest seines Verstandes verlieren.
Ich habe kaum mit ihm gesprochen, nachdem er sie zurückbekommen hat, aber er wirkte stabiler. Manche seiner Sätze haben fast Sinn ergeben. Meilen lagen zwischen ihm und dem Jungen, der grinsend in dem Führerhäuschen der Lokomotive stand und die Mütze gelüftet hat.
„Okay, du hast es nicht anders gewollt.“ Spencer schlingt einen Arm um meine Hüfte, zieht mich an sich und beginnt ohne Umschweife, vorwärts zu gehen. Ich versuche, meine Beine im richtigen Rhythmus zu bewegen, aber die Abfolge ist mir entfallen. Was tue ich zuerst? Hebe ich das Bein, trete ich auf, schiebe ich es nach vorn oder strecke es nach hinten?
Taumelnd und strauchelnd hänge ich an ihrer Seite. Hin und wieder tragen sie für einen kurzen Moment mein Gewicht, dann ist Spencer bereits einen Schritt weiter und mein mühsam wiedererlangtes Gleichgewicht verschwindet im Nichts.
Ich sehe hinter mich, die ganze Zeit, beobachte, wie der Abgrund vor meinen Augen kleiner wird. Die Sonne bescheint den Nebel. Ein schönes Grab, ein gigantisches. In welcher Bewegung sind die Wellen dieses Mal eingefroren? Kann man in ihnen den Tod schwimmen sehen?
Was wenn einer von ihnen noch lebt? Wenn sie alle noch leben und ich blind fliehe? An Spencers Seite.
„Schau wenigstens nach vorn“, schnauft Spencer. „Er klettert nicht wie durch ein Wunder hier hoch, dann hätte er es schon längst getan.“ Sie. Alle drei.
„Vielleicht kommt der Vogel noch“, krächze ich. Ein unerklärlicher Druck auf meinen Stimmbändern macht es mir kaum möglich zu sprechen.
„Welcher? Deiner? Keine Angst, der ist schon ganz fest in deinem Kopf drin.“
„Nein“, bringe ich hervor. „Cathrin. Sie war Jasons Vogel.“
Stirnrunzelnd sieht sie mich an. „Wie kommst du auf Jason?“ Mein Fuß schlägt gegen einen Stein. Sie zerrt mich rücksichtslos darüber. Das Mädchen hat deutlich mehr Kraft, als ich ihr zugetraut hätte.
„Hallo, Erde an Caressa!“ Sie bleibt stehen und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum. „Hörst du mich oder muss ich mir erst einen Termin besorgen?“
Krampfhaft versuche ich, die Gedanken zu sammeln. „Wir waren zu viert unterwegs. Zu fünft.“ Ich darf Jasons Vogel nicht vergessen. Er hat ihn so gern gehabt. Lieber hungerte er, als seinen neuen, besten Freund leiden zu sehen. Niemand durfte ihm so nah kommen wie das kleine Tier. Niemandem hat er ähnlich vertraut. „Lucinda, Ronan, Jason, Cathrin und ich.“
Spencer nickt angespannt. „Vögel lass bitte bei der Aufzählung außen vor. Ich würde sterben für ein schönes, gebratenes Huhn.“ Würde sie es wagen, Cathrin anzurühren, würde Jason ihr diesen Todeswunsch ohne Umschweife erfüllen.
„Jason hat mir gesagt, ich soll zurück nach oben. Er wollte die anderen überreden, aber sie waren wie verhext.“ Hypnotisiert von den erschreckend lebendigen Blicken der Erfrorenen. „Die Kannibalen kamen aus den Luftblasen und haben sie angegriffen.“
„Stopp. Eine kurze Pause. Welche Luftblasen?“
„Die im Meer“, krächze ich. „Das Eis hat sie eingeschlossen. Ich hätte sie dazu zwingen sollen zurückzukommen.“
Spencer nickt entschieden. „Ja, das hättest du tun müssen.“ Mehr sagt sie nicht. Kein Vorwurf, kein Fluchen, kein Spott. Stattdessen zieht Spencer mich wieder fester an sich.
„Versuch zu laufen, ja? Damit ersparst du uns beiden viel Mühe und Arbeit.“ Gehorsam nicke ich, schiebe das rechte Bein nach vorn und bleibe mit der Fußspitze an einem Stein hängen. Ratlos sehe ich auf den Boden, weiß nicht, wie ich mich losmachen soll.
Mein Kopf ist gefüllt mit Watte. Kein Sinn dringt hindurch, keine Bewegung. Ich stehe einfach nur da und starre auf meine bewegungslosen Füße und den Stein. Er bleibt dort liegen und ich komme nicht daran vorbei.
Die tödliche Kälte schlingt ihre fürsorglichen Arme fester um mich, scheint das Kinn auf meiner Schulter abzulegen und mir die verlockendsten Träume ins Ohr zu flüstern, wenn ich nur stehen bleibe.
„Heb das Bein doch einfach an.“ Spencer klingt nicht einmal genervt. Ich versuche, Spencers Anweisung zu folgen. Welche Muskeln müssen dafür bewegt werden?
Sie seufzt nicht einmal dann, als sie mich hochhebt und weiter mit sich zieht wie eine Stoffpuppe. Ich lasse es geschehen.
Mein Kopf dreht sich ganz von allein nach hinten. Die erschreckende Stille erstickt die apokalyptische Realität. Die Welt ist in Eis und Kälte erstarrt. Wellen schweigen, wachen und schlafen auf meinen Befehl.
Unter ihnen ruhen viele Leben auf ewig. Es bräuchte mehr als ein Wunder, um sie alle zu retten.
„Wenn wir bei mir sind, mache ich uns beiden erst einmal eine schöne, heiße Schokolade.“ Spencer lächelt mich beinahe aufmunternd an. Sie erinnert mich auf schmerzliche Weise an Jason. „Mit Wasser schmeckt es zwar nicht so gut, aber es ist besser als nichts. Dann taust du auch langsam wieder auf.“ Es gibt keinen Strom. Hat sie das noch nicht bemerkt?
„Und danach können wir ein paar von den dämlichen Comics lesen, die die Vorbesitzer haben liegen lassen. Die Meisten davon habe ich zwar schon verbrannt, aber ein paar sind echt witzig, das könntest du jetzt gebrauchen.“ Vielleicht bin auch nur ich gestorben? Spencers Anwesenheit und dieses erdrückende Nichts können unmöglich real sein.
„Oh, und ich habe richtige Decken. Nicht nur so langweilige Schlafsäcke. Und Skiunterwäsche!“ Ihr Blick fällt auf meine Hände. „Mit den Wunden könnte es etwas schwieriger werden, aber wir bekommen das hin.“
Ich glaube, dass ich nicke. Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Dafür dreht sich mein Kopf zu sehr und die Watte ist zu dicht. Sie lässt jeden Meter, den meine Füße über den Boden schleifen, unwirklich erscheinen. Wie einen schlechten Traum.
Die Kälte macht es mir schwer zu vergessen, dass das hier die Wirklichkeit ist.