Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 8

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Keuchend beugt sich Lucinda über den Rand der Klippe. Fast befürchte ich, dass sie fällt, aber der Wind gibt Ruhe, während sie das Kunstwerk des Winters bewundert. „Das ist unglaublich.“ Es ist der gleiche Anblick, der die gesamte Welt überrollt zu haben scheint. Weiße Böen, die im Wind stehen, das Eishaar gen Himmel gekämmt und die Zähne gefletscht. „Kommt her, das müsst ihr euch ansehen. Ronan.“ Sie dreht sich zu ihm um und winkt. Ein aufgekratztes Funkeln liegt in ihrem Blick. Seufzend vergräbt Ronan die Hände in den Jackentaschen und gesellt sich zu ihr, späht über die Kante.

„Was zur Hölle ist das?“

„Keine Ahnung. Aber es ist unglaublich.“ Es ist das erste Mal seit vielen Tagen, dass Ronan sich zu mir umdreht und mich direkt ansieht.

„Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“ Nein. Ich sehe es nicht und mein Wunsch, sich dieser Kante zu nähern, befindet sich im einstelligen Bereich. Sollte ich aus irgendeinem Grund abrutschen, der Stein unter mir nachgeben oder ein unerwartetes Beben durch den Boden gehen, würde ich stürzen und dieses Mal gäbe es kein Wasser, das mich auffangen könnte. Ich habe mir geschworen, einer solchen Felswand nie wieder zu nah zu kommen. Sie birgt den Tod.

Jason lässt mir keine Wahl. Während er sich zu den anderen beiden begibt, zieht er mich mit sich. Fluchend folge ich ihm, stolpere dabei über meine eigenen Füße.

Es sind nur vier Meter bis zum gellenden Abgrund. Als Jason und ich sie überbrückt haben, blickt Ronan auf das erstarrte Meer. Jason lässt meine Hand selbst dann nicht los, als wir den Rand erreicht haben und hinab in die eisigen, ewigen Fluten blicken.

Was sich dort auftut, direkt vor uns, entzieht sich meinem Verständnis. Luftblasen schlängeln sich den eisigen Wolken entgegen, zu Teilen gigantisch groß, als wären sie mitten in der Bewegung eingefangen worden. Verschwommen glaube ich darin Lebewesen zu erkennen. Untote? Die Haut wirkt unversehrt, das Rückgrat verbogen. Eine Art Fisch? Fische benötigen Wasser zum Atmen und Feuchtigkeit? Scheint aus diesen Blasen verpufft zu sein.

„Wie Käfige“, spricht Lucinda meine düstersten Gedanken aus. Ich presse die Lippen fest aufeinander.

„Ja, und was auch immer da drin ist, sollte es noch leben, will ich ihm auf gar keinen Fall begegnen“, sage ich. Ronan gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. Begibt sich wie hypnotisiert noch näher an die Kante. Er zieht die Gurte seines Rucksacks fester und lehnt sich nach vorn.

„Wehe dir. Wehe du springst da runter.“ Die Worte sind schneller raus, als ich sie überdenken kann.

Stirnrunzelnd sieht er mich an. „Ich springe da doch nicht runter.“ Er schüttelt leicht den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren. „Ich klettere.“ Dabei ist er es, der seine Sinne nicht mehr beisammen hat.

„Das tust du nicht.“

Ronan zieht eine Augenbraue nach oben und schwingt sich in sein eigenes Verderben. „Du musst ja nicht mitkommen.“

„Werde ich auch nicht.“ Ich bin doch nicht bescheuert. Das letzte, was ich von ihm sehe, ist ein gleichgültiges Achselzucken, ehe er an der Wand verschwindet. Ungläubig drehe ich mich zu Jason um.

„Was, wenn das Eis nicht dick genug ist?“

Er kratzt sich ratlos am Kopf. „Dann werden wir es vermutlich gleich wissen.“

Jason macht keine Anstalten, Ronan zu folgen und ich kämpfe mit mir, um jeden selbstmörderischen Impuls im Keim zu ersticken. Das gelingt mir mäßig. Ronan und ich waren nicht lange gemeinsam unterwegs, aber selbst als wir uns noch nicht kannten, bin ich hinter ihm hergesprungen. So ändern sich die Dinge. Manchmal heilt die Zeit keine Wunden. Sie reißt sie auf und verlangt Kompromisslosigkeit.

Schnaubend lasse ich mich in einen Schneidersitz sinken und sehe zum Horizont. Gebe vor, dass Ronan nicht jeden Moment das Meer betreten wird. Was, wenn die Eisdecke bricht? Er würde erfrieren und wenn nicht, dann ertrinkt er. Und ich könnte ihm nicht helfen. Ich wäre hier oben und bräuchte einige Minuten, um zu ihm zu kommen. Die könnten entscheidend sein. Selbst für ihn.

Mühsam schüttle ich die irrationale Sorge ab.

„Also, es ist mir egal, was ihr macht, aber ich gehe da runter“, setzt Lucinda uns in Kenntnis. Eine sanfte Brise zupft an ihrem langen, blonden Haar.

Ich rümpfe die Nase. „Denkst du wirklich, dass das so clever ist? Corell hat mich gebeten, dir zu sagen, dass du auf dich aufpassen sollst.“

Sie strafft die Schultern und funkelt mich an. „Corell ist nicht hier, oder? Vermutlich ist er nicht einmal mehr am Leben. Du kannst mich also ruhigen Gewissens nach unten steigen lassen.“ Nein, kann ich nicht. Wenn ihr etwas geschieht, dann habe ich Schuld daran. Ich habe Corell versprochen, dass ich auf sie achtgebe. Ein unmögliches Unterfangen, solange ich hier oben sitze.

Frustriert verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe zu Jason auf.

„Ich gehe da nicht runter“, sage ich stoisch.

Seine Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln. „Auch nicht, wenn ich hinter dir bin?“

Ich schüttle den Kopf. Je faszinierender der Anblick, desto tödlicher ist das, was er verbirgt. „Ich klettere nie wieder so eine Felswand nach unten. Außerdem habe ich mit den Handschuhen überhaupt kein Gefühl in den Fingerspitzen. Was, wenn ich abrutsche? Das könnte mir alle Knochen brechen. Und wenn meine Wirbelsäule gesplittert ist? Was dann? Dann liege ich wie ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen.“ Wütend komme ich auf die Füße und sehe nach unten. Ronan steht kurz davor, die Oberfläche zu erreichen, Lucinda trotz des verspäteten Starts dicht hinter ihm. Sie bewegt sich an der Wand, als wäre sie eins mit ihr. Geisterhaft elegant.

„Ich gehe da nicht runter“, wiederhole ich.

Jason seufzt und stellt sich neben mich. „Warum habe ich nur das ungute Gefühl, dass du dich selbst davon überzeugen musst.“ Ich beiße mir auf die aufgesprungenen Lippen. Sofort schmecke ich neues Blut, als alte Wunden aufreißen.

„Denkst du, das Eis hält sie?“

Ronans Fuß berührt es, kurz zögert er, dann lässt er sich mit seinem gesamten Gewicht darauf nieder. Ich erwarte ein lautes Knacken, das sich über den gesamten Ozean zieht und tausendfach von der kalten Luft verstärkt zu uns zurückhallt. Ein gigantischer, brechender Knall, der in den Ohren schmerzt wie der Frost auf der Nasenspitze.

Stille. Selbst von hier aus kann ich erkennen, wie Ronan die Schultern sinken lässt. Lucinda springt sorglos neben ihn und lehnt sich nah über die Luftblase direkt unter ihren Füßen.

„Was, wenn sie Hilfe von oben brauchen?“ Flehend sehe ich Jason an. „Verdammt, kannst du mir nicht einfach sagen, dass es am vernünftigsten ist, wenn ich da nicht runter gehe?“

Er seufzt schwer und nimmt mir die Entscheidung ab. Mit einer katzenartigen Eleganz, die ich bereits in den Gängen der Klinik gelernt habe an ihm zu bewundern, schwingt er sich an den Felsen und lässt sich mit sicheren, zügigen Bewegungen nach unten hinab.

Schaudernd schlinge ich die Arme um mich. Wenn ich allein oben bleibe, ist das gefährlicher, als wenn wir gemeinsam auf dem zugefrorenen Meer stehen, das jeden Moment aufbrechen könnte. Das sich jede Sekunde als neue Falle der Apokalypse entpuppen könnte. Ich meine sie hämisch kichern zu hören.

Fluchend gehe ich in die Hocke und schimpfe über mich selbst, als ich an den Händen baumelnd zehn Meter über der Oberfläche hänge. Mir jeden Pfund meines Körpers übermäßig bewusst, suche ich einen Punkt, der mir die Last von meinen Armen nehmen kann. Als mein Fuß eine Nische ertastet, atme ich erleichtert auf. Von da an befinde ich mich an einem rauen Duplikat einer Kletterwand. Nachgreifen, dehnen, Gewicht verlagern, strecken. Ein Ablauf, der sich unter der Wolke in jede meiner Fasern gebrannt hat.

Hinter mir höre ich einen dumpfen Aufprall, als Jason das Eis betritt.

„Was zur Hölle?“, murmelt er. Ich lande neben ihm und drehe mich, dicht an der Wand, um mich jederzeit ans sichere Land retten zu können, zu den anderen um. Die Gestalten, die sich in Zeitlupe unter meinen Füßen bewegen, treiben mir den Atem aus den Lungen. Ich schnappe nach Luft.

„Ist das ein Mensch?“ Die Antwort auf meine schwachsinnige Frage ist offensichtlich. Nein, ist es nicht. Unter mir befindet sich eine kriechende Leiche. Und ich kenne das Gesicht, ebenso wie die unter ihm, die sich Stück für Stück aufreihen. Grausige Perlen an einer unsichtbaren Kette.

„Sie sind tot, kein Grund zur Panik.“ Ronan klingt abfällig. Als ich ihn ansehe, spiegelt sich in seinen Augen meine Angst. Diese Blasen erinnern an Kühlschränke. Sie bewahren auf, was verloren und verrottet gehört.

Ich sehe ihn ungläubig an. „Dann erkläre mir bitte, wie seine Hand gerade zucken konnte.“ Ronan schweigt. Er kniet sich auf das Eis und lässt die Finger Millimeter über der matten Schicht schweben. Ein Zauberer, der seinen größten Fluch beschwört.

„Fass das bloß nicht an“, sagt Lucinda. „Vielleicht wachen sie dann auf.“ Sollten sie sich aus ihrer Starre befreien können, hat sie das Betreten der Fläche bereits aus ihrem eisigen Schlaf gezogen.

Jeder von ihnen sollte tot sein. Das wäre die gerechte Strafe gewesen.

Aber sie sind alle hier, all die Kannibalen, deren Gesichter mir vage in Erinnerung geblieben sind, stehengeblieben in der Zeit. Von den Meeresfluten an einen Ort gespült, Kilometer von ihrer verrotteten Stadt entfernt. In ihrer Gegenwart schrie ich mir die Seele aus dem Leib, während Panik mich zerfraß. In ihrer Gegenwart verzweifelte ich, während ihre zuckenden Körper über mir um Leben kämpften. Ich schmecke das verdorbene Salz des Meeres.

Es ist, als lachte mir die Apokalypse ins Gesicht. Sie sollten tot sein. In ihre Einzelteile zerlegt. Ich fühle mich betrogen, so unglaublich betrogen, als ich auf die ausdruckslosen Gesichter der Kannibalen hinabsehe. Mit jeder verdorbenen, widerlichen Seele werden sie kleiner. Puppen in einem endlosen Spiegelkabinett.

Ronan schüttelt langsam den Kopf und betastet das Eis. „Es ist fest.“ Wir stehen darauf. Würde es jetzt einbrechen, wäre das ungünstig.

„Was haltet ihr davon, wenn wir wieder hochklettern?“ Flehend sehe ich sie an, einen nach den anderen. Keiner schenkt mir Aufmerksamkeit, sind viel zu fasziniert von den grausigen Kreaturen unter unseren Füßen. Gespenstische Erscheinungen. Man sollte doch meinen, dass die Haut begonnen hat zu faulen oder die Kleidung ihnen vom Leib gespült wurde, so zerrissen wie sie ist. Aber Wunden heilten und der Stoff blieb um ihre Körper, bewegt sich sanft in einem Windzug, den ich nicht spüren kann.

„Das sind die Männer, die euch verfolgt haben“, murmelt Jason. Ja, genau die. Er dreht sich zu mir um und sieht mir fest in die Augen. „Erinnerst du dich?“ An diesen Tag?

„Fällt schwer zu vergessen, oder?“ Meine Stimme klingt rau, voller Emotionen, die ich einfach nur verleugnen und begraben will.

Er schüttelt den Kopf. „Das meine ich nicht.“ Jason konkretisiert seine Frage nicht. Die Antwort ist offensichtlich genug.

„Hat irgendwer von euch eine Ahnung, wie das sein kann?“ Lucinda blickt Ronan erwartungsvoll an.

Er zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Ihr?“

Jason fährt sich mit dem Handrücken über die bläuliche Nase. „Lasst uns das oben klären. Mir sind das zu viele Ohren in unmittelbarer Nähe.“ Es fühlt sich an, als würden sie uns durch den Boden hindurch belauschen. Womöglich tun sie es? Womöglich ist dieser eine Eindruck nicht meiner Paranoia geschuldet? Die bräunlichen Augen des Mannes unter mir haben sich auf uns geheftet. Scheinen uns zu durchbohren. Keine bewusstlose Person könnte einen derart intensiv taxieren.

Ich warte nicht auf Lucindas oder Ronans Zustimmung, stattdessen ziehe ich mich den ersten Meter hinauf. Immer in Richtung Leben, fort von den zitternden und zuckenden Toten. Von den Schaufensterpuppen, die sich zu meinen Füßen bewegen. Das ist zu viel. Unter diesen Umständen beschütze ich niemanden, egal wie herzerweichend Corell mich angefleht hat.

Der Stein schneidet durch den Stoff meines Handschuhs und weckt unangenehme Erinnerungen. Die an Schmerz, der sich irgendwann in ein Nichts von Taubheit verflüchtigt hat und nichts zurückließ als Leere, die mich nicht einmal bemerken ließ, dass ich bei lebendigem Leibe aufgefressen werde.

Blut sickert mein Handgelenk hinab, während meine Muskeln sich auf nur zu bekannte Art und Weise bewegen.

Als ich mich über die Kante schwinge, sind die drei noch immer dort unten und starren auf die Kannibalen, deren Zeit längst abgelaufen sein sollte. Die bleiche, von den Wolken gedämpfte Sonne ist das höhnische Auge der Apokalypse.

„Kommt ihr?“, rufe ich hinunter. Lucinda macht eine wegwerfende Geste in meine Richtung. Angespannt ziehe ich die Riemen meines Rucksacks fester und warte. Lausche in mein nächstes Umfeld aus Sorge, ein überlebenswichtiges Detail zu übersehen. Um mich herum knistert der Winter und ich dichte ihm Jäger an, Monster, Ungeheuer, mit denen ich es noch nicht aufnehmen musste.

Die Stille macht mir mehr Angst, als es die Geräusche von schlurfenden Untoten täten. Einen Blick werfe ich über meine Schulter, vergewissere mich, dass dort wirklich rein gar nichts auf mich lauert. Dann sehe ich zurück zu meinen lebensmüden Weggefährten. Wenn die Apokalypse sie sich holt, wie hoch stehen meine Chancen, zu überleben? Allein. In dieser Eiswüste.

Jason redet leise auf Lucinda und Ronan ein. Um sie zum Umkehren zu bewegen?

Von hier oben habe ich eine hervorragende Sicht auf das Geschehen. Meine Rückenmuskulatur verkrampft sich. Ein zarter Riss zieht sich über die Meerdecke.

Wenn Menschen sich auf Eis begeben, gibt es direkt unter ihrem Gewicht nach. Eine schöne Theorie, die in den meisten Fällen zutrifft. Es sei denn, die Eisplatte birgt erst weit in der Ferne ihre Tücken und durch die Vibration wurden die falschen Teilchen in Schwingung versetzt. Zitternd scheint der Riss sich näher zu kämpfen, Stück für Stück.

„Ihr solltet euch umdrehen“, rufe ich. Meine Stimme bricht.

Jason zieht eine Augenbraue nach oben und deutet auf sein Ohr. Er hat mich nicht verstanden. Mein Herz beginnt zu rasen. Hilflos deute ich in die Ferne. Seine Blicke folgen meinem Finger. Jason sagt hastig einige Worte zu Ronan und Lucinda.

Sie setzen sich in Bewegung. Erleichtert atme ich auf. Der Riss frisst sich tiefer.

Ein lautes Klirren bringt mich aus dem Gleichgewicht. Eis verwandelt sich in Glas, klingt wie berstende Scherben. Durchdringend, splitternd. Mörderisch.

Lucinda kreischt auf und rudert mit den Armen. Ronan ist ihr am nächsten, wirbelt herum, umfasst unsanft ihr Handgelenk und reißt sie zu sich. Ich höre Lucindas Knochen brechen. Sie schreit und Jason weicht an die Felswand zurück.

Mir rauscht das Blut in den Ohren. Hilflos japse ich nach Luft. Lucinda baumelt halb in einer Luftblase. Das Gebilde ist geplatzt, saß ein Stück zu dicht unter der gefrorenen Oberfläche, besaß nichts, was diesem sich zu schnell nähernden Riss etwas entgegensetzen könnte. Blut läuft über ihre Wangen. Zarte Spuren werden hindurchgewaschen. Weint sie?

Ronan versucht einen besseren Halt an Lucindas Handgelenk zu gewinnen. Ihr Körpergewicht zieht ihn langsam aber sicher selbst in das Loch.

Jason ruft den beiden irgendetwas zu, drückt sich von der Wand ab und stürmt zurück zu ihnen.

Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich will verschwinden. Mich dieser ausweglosen Situation entziehen. Die Beine in die Hand nehmen und nie zurückkehren. Vergessen, was geschehen ist, vergessen, was ich sehe. In den Blasen zappeln die Kannibalen.

Atemlos drücke ich mich ab und mache mich an den Abstieg. Wenn sie auf mich gehört hätten, wäre das alles kein Problem gewesen. Wären sie nie nach unten gestiegen, wäre keine dieser Blasen geplatzt. Meine Hände würden sich nicht anfühlen, als hätte ich ein Feuer darin geschürt und kein Blut würde mir von den Ellbogen in den Mantel tropfen.

„Bleib oben“, schreit Jason mich an. Auf halber Höhe verharre ich und drehe mich um. Ronan klammert sich mit aller Macht an dem scharfen Rand der Blase fest und drückt sich selbst fort von ihrem gierigen Maul, während er alles daran setzt, Lucinda nicht fallen zu lassen. Mit beiden Händen umfasst sie seinen Arm, strampelt mit den Beinen. Sie brauchen mich. Wenn ich fortlaufe und sie sterben, bin ich tot. Jeden einsamen Wanderer wird die Apokalypse zerreißen. Ich ignoriere Jasons Anweisung.

„Geh nach oben!“

„Und dann? Sehe ich euch beim Sterben zu?“

Seine Augen werden schmal.

Lucinda schreit und tritt nach irgendetwas.

„Wir brauchen dich oben“, zischt er mich an. „Du musst sie aufhalten. Das kannst du nicht, wenn du in der Schussbahn stehst.“

Wen aufhalten? Die Kannibalen? Der Riss zieht sich inzwischen klaffend durch das Eismeer, trifft auf die Blasen und sprengt sie. Das Resultat eines Erdbebens, das ich nicht verursacht habe. Unter der Oberfläche zappelt es.

An Lucinda vorbei greift eine Hand ins Freie. Eine menschliche, bleiche, leicht bläuliche Hand, die sich an Ronan festhält, als wolle sie ihn mit sich in den Tod ziehen. Man begegnet sich immer zweimal. Meine Muskulatur beginnt unkontrolliert zu zucken. Im Angesicht der Apokalypse selbst dann, wenn der Tod längst seine Finger im Spiel hat.

Ronan verspannt sich. „Jason, verdammt, wo bist du?“ Seine Stimme hallt tausendfach von der Felswand wider. Noch ein warnender Blick wird mir zugeworfen, dann hastet Jason in Richtung der Blase.

Fluchend greife ich über mich, spüre Haut reißen und das dumpfe Reiben von Stein über ungeschütztem Fleisch. Die Kälte nagt an meinem Körper, während die Panik übernimmt.

Unter mir erklingen Kampfgeräusche, Rufe, Flüche, Schreie. Ich sollte bei ihnen stehen, mit ihnen bluten. Stattdessen bin ich der skrupelloseste Feigling, der sich auf das ausgedorrte Gras hievt und es nicht wagt, sich umzudrehen.

Angstvolle Herzschläge vergehen, während das Murmeln aus Wut und Siegeswillen zu mir dringt. Dann spähe ich hinab.

Sie kriechen aus den Blasen wie Ameisen aus ihrem Bau. Der Riss öffnet die Türen für sie und aus mir unerfindlichen Gründen hat keiner der Kannibalen ein Problem damit, sich zu bewegen. Sie erwachen aus ihrem Schlaf und sind bei vollen Kräften.

Der erste schlägt nach Jason, zielt auf seinen Bauch. Dorthin, wo Cathrin sich versteckt. Jason dreht ihm den Rücken zu, nimmt einen Schlag auf die Wirbelsäule hin, der ihm die Beine unter dem Körper wegzieht.

Zittrig sehe ich auf die Männer. Was soll ich tun? Das Eis unter ihnen in die Luft sprengen? Es würde nicht nur die Kannibalen in den Tod reißen.

Mit einem Ruck schafft Ronan es, Lucinda zurück auf die Eisschicht zu befördern. Schliddernd rutscht sie von dem klaffenden Loch fort, ihr Atem pufft unregelmäßig in die Höhe.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, beißt in meine Haut. Mindestens zehn todgeküsste Gestalten sind es, die auf die drei zulaufen. Sie wären chancenlos unterlegen, sollten die Kannibalen sie erreichen.

Das Eis vibriert leicht in meinen Sinnen. Ich spüre jedes Detail, jede noch so kleine Struktur. Die Teilchen drücken sich in mein Bewusstsein und scheinen darum zu flehen, dass ich sie von ihren Fesseln befreie.

Damit würde ich ihrer aller Leben aufs Spiel setzen. Corells Bitte klingt nach. Pass auf sie auf.

Ich versuche abzuwägen, welchen Tod Corell für seine Freundin gewählt hätte. Soll sie erfrieren oder gefressen werden? Die Antwort ist ernüchternd einfach.

Meine Hände zittern, als ich die Finger auf den Stein presse und das Brüllen ausblende. Eine verräterische Ruhe schärft meine Sinne. Die Schwingungen der Teilchen passen sich meinem Willen an, werden stärker und brechen frei aus den kristallartigen Strukturen, die das Eis zusammenschweißen.

Nebel steigt auf. Mörderisch gefroren. Er nimmt die Sicht.

Angespannt warte ich, hoffe darauf, dass sie die Felswand erklimmen und sich jeden Moment zu mir schwingen. Das Einzige, das ich höre, ist mein rasendes Herz. Die Hände werden mir taub vor Schmerz und Kälte. Der Nacken beginnt überwältigend zu kribbeln.

Erste Sonnenstrahlen drängen sich durch den Nebel, scheinen ihn anzuheben. Dampf, der an Fäden ins Licht geht.

Die Molekülbewegung verstärkt sich, geht tiefer, schlägt sich frei von jedem Zwang und jeder Angst.

Das Krachen des brechenden Eises ist unüberhörbar. Zischendes Werfen von Wellen folgt, die ihren kalten Mantel abstreifen und mit alter Macht gegen die Felsen trommeln wollen.

Sie sind alles, was ich hören kann. Jedes Kampfgeräusch wurde vom Nebel im Keim erstickt. Sollte jemand um meine Hilfe schreien, das Wasser würde es unmöglich machen, denjenigen zu hören.

Hilflosigkeit frisst mich auf. Meine Muskulatur zuckt. Ich hocke in Sicherheit, starre in ein weißes Treiben aus Nebel, unter dem ich das Meer erwachen höre. Bin geblendet von der Sonne und dem betäubenden Krachen.

Steige ich noch einmal hinab, rette ich niemanden. Mein Leben wäre ein Tribut, den niemand mehr zu würdigen wüsste.

Der Fels unter mir erzittert, als die erste Welle gegen ihn donnert.

Winter

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