Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 12
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Als ich zurück zu dem Sofa gehe, um die von mir im Schrecken zur Seite geworfenen Decken aus der erloschenen Feuerstelle zu fischen, bleibt Spencer zurück. Ihre Begeisterung trifft mich unerwartet. Ich hätte nicht erwartet, sie jemals euphorisch zu sehen. Tatsächlich braucht es nur ein eisiges Geschenk des Himmels und sie erliegt der tödlichen Verführung. Wird Spencer das Haus verlassen? Das Fenster hat sie geschlossen und eisige Blumen ranken sich über den Rahmen. Falls dem so sein sollte, holt Spencer ihren Tod zeitnah nach.
Die Kohlen glühen matt. Mein Atem dampft in der Luft.
Wenn sie gestern nicht vom Eis begraben worden wären, wäre es der neuerliche Temperatursturz gewesen, der uns alle zu Grunde gerichtet hätte. Schaudernd schlinge ich die Arme um mich und versinke in den Decken. Der Winter hält die einzige Grausamkeit bereit, die die Apokalypse nicht längst gegen mich ausgespielt hat.
„Warum siehst du dir das nicht länger an?“, ruft Spencer. „Es ist der Wahnsinn! Hast du je zuvor Schnee gesehen?“ Jason sagte, ich hätte es als kleines Kind. An dem Tag, als ich die Lampe wieder zum Glühen bringen wollte. Wie gern würde ich mich daran erinnern. Wie gern hätte ich einen Moment, an dem ich mich festhalten könnte.
Mein Kopf dreht sich. Was hat Doktor Warren mir geboten, damit ich auf ihren kranken Vorschlag eingegangen bin? Und warum, um alles in der Welt, habe ich es getan? Welchen Grund hatte ich, Jason das gläserne Herz aus der Brust zu reißen, nur um es fallen zu lassen?
Wenn Spencer mich nicht geweckt hätte, womöglich stände mir die Antwort klar vor Augen.
„Hallo, Erde an Caressa, schon einmal Schnee gesehen oder eher nicht?“
Ich räuspere mich. „Jason meinte, ja. Ich war damals wohl ziemlich begeistert.“
„Na, dann komm doch her und sieh es dir an.“ Sie winkt mich aufgeregt zu sich. Wie ein kleines Kind. Warum erinnert die weiße Decke Spencer nicht daran, dass ihr Bruder unter so einer Schicht begraben liegt?
Selbst wenn der kleine Vogel fliehen konnte, wäre er inzwischen erfroren. Bestimmt hat Jason darauf gezählt, dass ich solange warte, bis er zu mir geflattert kommt. Jasons Hoffnungen haben ihn zu jeder Zeit betrogen. Seine Hoffnung, dass wir Seite an Seite gegen die Klinik bestehen könnten. Sein Glauben, dass ich ihm gegenüber ehrlich bin.
Was für ein Narr muss man sein, diese Liebe wegzuwerfen. Wie kann es sein, dass meine Gefühle ihm gegenüber negativ belegt sind? Ein weiterer Streich der Klinik, um uns zu schwächen?
Jason und ich schienen ein gutes Team zu sein, eines das sich ohne Worte versteht. Ein unangenehmes Sandkorn im Laufwerk der Klinik. Sie benötigen keinen Aufstand von Kindern mit übermenschlichen Fähigkeiten. Gehorsam hätte uns wohl alle retten können.
Nur waren wir das beide nicht.
„Komm, Caressa, ich hatte bis gerade eben richtig gute Laune. Verdirb sie mir nicht und komm her. Es ist wirklich schön.“ Und eiskalt.
Anstatt mich zu ihr zu gesellen, öffne ich meinen Rucksack, ziehe eine Packung Kekse und das Märchenbuch hervor. Mindestens einmal die Woche nehme ich den schweren Einband in die Hände, betrachte die Gänge und die Zeichnungen und versuche dem Ganzen einen tieferen Sinn zu entlocken.
Der Sinn hinter den meisten Krakeleien bleibt mir verborgen. Rapunzel wurde geschwärzt. Dieses Detail erklärte Jason mir. Untote. Aber um herauszufinden, was sich hinter den anderen Hinweisen verbirgt, müsste ich zurück in die Gänge, diese Türen öffnen, hinter denen die farbigen Punkte eingezeichnet wurden.
Es bräuchte meine Erinnerungen, um sie allein und ohne tödliche Gefahr zu entschlüsseln. Meine Erinnerungen sind fort. Ich habe diese Schlacht verloren, bevor die Apokalypse mir das erste Mal ins Gesicht lachte. Nichts aus diesem Märchenbuch sollte mich noch kümmern. Die Klinik ist tot und die Ärzte sollen in ihrem eigenen Tunnelsystem verrotten.
Es lässt mir keine Ruhe. Als würde ich den Schlüssel übersehen, die ganze Zeit über schon. Von dem Moment an, als er mir das Buch in die Hände gedrückt hat.
„Okay, ich sehe schon, Schnee ist nicht so deins.“ Schwungvoll lässt sich Spencer neben mich fallen und beugt sich über das Buch. Abfällig verzieht sie das Gesicht. „Was ist denn damit passiert? Hast du das einem Kleinkind gegeben?“
Besser wäre es. „Ja“, lüge ich. „Ein anderes habe ich nicht gefunden.“
Spencer seufzt schwer. „Du bist hoffnungslos, weißt du das? Jeder andere würde seinen Rucksack mit Lebensmitteln und Kleidung vollstopfen und du? Du schleppst ein zerstörtes Märchenbuch mit dir rum.“
Es ist verbessert, nicht kaputt. Sinnierend fahre ich über die Seiten, suche nach einer Lösung, blättere von Märchen zu Märchen.
Spencer legt urplötzlich eine Hand auf die raschelnden Seiten. „Wie lustig, guck mal, hier ist sogar ein Bild verschont geblieben.“ Lachend deutet sie auf die Illustration eines Kindes, dem schwarze Federn wachsen. Ebene 13, EFG, SW. Die Linien wirken scharf und bewusster gezogen, die Buchstaben und Zahlen wurden in geschwungener Schrift neben den einzelnen Absätzen platziert.
„Das erinnert mich an die Rabenkinder, von denen du im Traum gebrabbelt hast“, sagt Spencer. „Du sprichst im Schlaf, weißt du? Und als du auf dem Rückweg von unserer Shoppingtour weggenickt bist, hast du so viel Stuss über die geredet, dass ich überlegt habe, dich einliefern zu lassen.“ Sie rollt die Augen. „Jetzt weiß ich wenigstens, woher du den Piep im Kopf hast. Schon unheimlich so ein Bild, oder? Stell dir nur mal vor, dass deine Hände plötzlich keine Finger mehr haben, sondern Federn.“ Kichernd blättert sie weiter. Meine Gedanken steigen in ein Kettenkarussell, vergessen sich anzuschnallen und werden zersprengt. Mir gegenüber wurden nie Rabenkinder erwähnt. Einordnen? Kann ich sie nicht.
Mit Spencer an meiner Seite durch diese Karte zu blättern, fühlt sich seltsam an. Und aufschlussreich. Spencer betrachtet das Märchenbuch mit den Augen eines Menschen, der krampfhaft versucht, einen unberührten Fleck zu finden. Die Perfektion wieder herzustellen.
Es braucht einige Märchen, bis Spencer wieder auf ein Bild deutet. „Hier, das Mädchen ohne Hände durfte auch weiterleben.“ Sie lacht über ihren eigenen, schlechten Scherz. Beim Anblick der Abbildung läuft mir ein eisiger Schauer die Schultern hinab. Abwesend beiße ich in einen Keks, begreife nicht ganz, warum der Müller der Tochter die nun mehr am Boden liegenden Hände abschlug. Das Märchen lesen? Kaum möglich. Zahlreiche Linien ziehen sich durch den Text.
Spencer rümpft die Nase. „Das ist schon ziemlich makaber, oder? Und so etwas setzt man Kindern vor.“ Ja, was hat die Klinik sich nur dabei gedacht? „Ist das die komplette Märchensammlung?“, fragt sie mich. „Das würde erklären, warum es so dick ist.“ Ich zucke die Achseln. Seufzend rollt Spencer die Augen. „Gut, dann nicht.“ Die Seiten rascheln leise. „Offenbar mochte das Kind alle kranken Darstellungen. Rotkäppchen wird übermalt, Dornröschen, aber eine Nixe, die über einen Berg von spitzen Gegenständen hinter zwei kleinen Kindern herklettert? Kein Problem, die bleibt ganz.“ Sie schnaubt abfällig.
Ich beiße mir auf die Lippe. Kranke Kreaturen, das scheint doch das Markenzeichen der Klinik zu sein. Einige der Figuren änderte mein jüngeres Ich halbherzig ab. Andere blieben heil. Weil sie den Schrecken bereits perfekt widerspiegelten?
„Das Totenhemdchen“, murmelt Spencer. „Unheimlich.“ Das helle Bild eines kleinen Kindes mit einem Kranz auf dem Kopf und in einem weißen Totenhemd wirkt mehr als gespenstisch. „Die perfekte Lektüre für eine postapokalyptische Welt.“ Ich streite das nicht ab. Ohne zu fragen, nimmt sich Spencer einen meiner Kekse und beißt hinein. Krümel regnen auf das Buch, während sie weiterblättert, auf die nächste Seite stößt, hinter der man die Botschaft mühsam suchen muss.
„Das wird ja immer gruseliger.“ Die drei schwarzen Prinzessinnen. Eine Illustration eines jungen Mannes, der ihnen Wachs in das Gesicht tropft. Im Schmerz reißen sie die Hände in die Luft, versuchen ihre Haut zu schützen. Jason oder mein früheres Ich malten ihnen Flammen unter die nackten Füße. Die zuckenden Zungen scheinen die schwarzen Kleider zu verzehren wie das Wachs die dunkle Haut.
Erst auf den letzten vier Seiten stoßen wir auf weitere Notizen. Spencer schnaubt abfällig. „War ja klar. Der arme Junge im Grab.“ Sie dreht das Buch leicht und runzelt die Stirn. „Winter? Kannst du mir das erklären?“
Irritiert sehe ich sie an und lehne mich ebenfalls dicht über die Abbildung. Sie hat das Wort in einem in der Ferne verschwommenen Brautkleid entdeckt. Weiß auf weiß. Meine Vermutung, das Bild könnte unberührt sein, ist falsch. Man hat nur mit mehr Liebe und Feingefühl die Illustration manipuliert. In dem Kleid steht das Wort und aus der Brust des Jungen sickert das Blut, als wäre es von Anfang an da gewesen.
„Nicht wirklich“, antworte ich langsam.
Spencer sieht mich schief an. „Und unwirklich? Ich habe das Gefühl, dass in deinem Kopf die Rädchen rattern, als gäbe es kein Morgen mehr.“ Ich streite das nicht ab. Ratlos betrachte ich Spencer.
Spencer war dem Tod so nah, meinetwegen. Auf meinem Gewissen lastet das Verderben ihres Bruders und sie weiß es. Falls sie mir Böses will, kann ich das längst nicht mehr verurteilen. Alle Karten liegen offen. Alle Karten, von denen ich weiß. Was habe ich schon zu verlieren?
„Warst du jemals im Keller der Klinik? In diesem gigantischen Gängesystem?“
Die Neugierde verschwindet aus Spencers Gesicht. Mit verschränkten Armen lehnt sie sich zurück. „Warum willst du das wissen?“
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Dieses Rätsel will gelöst werden und Spencer ist die Einzige, die mir dabei helfen kann. Wie sollte sich diese Situation noch verschlimmern? Sollte Spencer mich vor die Tür stoßen, gehe ich ohne Mantel. Keine Minute würde vergehen, ehe mir das Blut in den Adern gefröre. Im Tod wäre ich frei.
„Das hier ist eine Karte.“ Ich halte Spencer das Buch entgegen. „Wenn Jason mich nicht belogen hat, zeichne ich sie seit Jahren auf und er hat sie in den Monaten nach der Wolke vervollständigt. Jedes Bild steht für einen neuen Versuch der Klinik.“ Ich blättere zu dem Mädchen ohne Hände und deute auf den beigen Punkt hinter einer Sackgasse. „Was auch immer die Illustration bedeutet, man findet sie dahinter. Es ist wie ein Plan, der die Tretminen dokumentiert, weißt du? Man verirrt sich nicht mehr. Und wir wissen, was hinter den verschlossenen Türen lauert.“
„Und das wäre?“
Achselzuckend sehe ich Spencer an. „Ich erinnere mich nicht. Inzwischen ist es egal“, rufe ich uns beiden ins Gedächtnis. „Die Klinik ist Geschichte. Der Herbst ist angebrochen. Es gibt nichts mehr zu retten und nichts mehr zu erforschen. Ich würde das Buch einfach gerne verstehen.“
Spencer schweigt und blättert durch die Seiten. „Was bedeuten die Zahlen?“
„Das sind die Ebenen. Die Buchstaben meinen die Sektoren und diese Angaben“, ich deute in die rechte Ecke, „bezeichnen die Himmelsrichtung, auch wenn ich nicht genau weiß, warum ich das eingezeichnet habe.“ Spencer presst die Lippen fest aufeinander. Das erste Mal wirkt es auf mich, als würde Spencer gezielt nach einem Detail suchen. Ebene sieben, Ebene fünf. Bei Ebene drei verharrt sie und lässt den Finger durch die Gänge schweifen. Tippt schließlich auf einen Raum, hinter dem jemand ein blaues Kreuz eingezeichnet hat. Jason oder ich. Einer von uns.
„Darin war ich für mindestens zwei Tage eingesperrt. Als Strafe. Es waren die schrecklichsten zwei Tage meines Lebens. Sie kamen mir vor wie Jahre und die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, nicht richtig atmen zu können.“
Überrascht sehe ich Spencer an. „Du wurdest da drin eingesperrt?“
Sie hebt steif eine Schulter. „Wir beide waren beste Freundinnen, Caressa. Das bedeutet auch, dass man der anderen hin und wieder den Rücken freihält, wenn es sein muss.“ Ich weiß nicht was mich mehr trifft. Dieses Geständnis oder dieser undeutbare Ausdruck in ihren klaren Augen.
„Wusste ich davon?“
Sie lächelt mich schmal an. „Ohne dich wäre ich da vermutlich nie wieder rausgekommen. Das hier erklärt mir wenigstens, wie du mich finden konntest.“
Ich schüttle leicht den Kopf. Das ergibt keinen Sinn. „Warum sollten sie versuchen, dich in einem dieser Räume festzuhalten? Und warum haben sie dich da nicht wieder reingesteckt?“
Spencer lacht freudlos auf, nimmt mir das Märchenbuch aus der Hand und schiebt es zurück in meinen Rucksack. „Weil du Mist gebaut hast und ich für dich in die Bresche gesprungen bin.“
„Habe ich zugegeben, dass ich es war oder …“
„Dann säßest du jetzt nicht hier“, unterbricht Spencer mich. „Sie haben mich nur nicht wieder da reingesteckt, weil Ronan mein Bruder ist und er die sicherste und lukrativste Einnahmequelle der Klinik war.“ Stirnrunzelnd sehe ich sie an. Spencer seufzt theatralisch und wirft die Hände in die Luft. „Er war Model, verdammt. Dazu noch ein unglaublich gefragtes. Wie viele Jungs, schätzt du, gibt es mit dieser Ausstrahlung und vor allem diesen Augen? Die Marken haben sich um ihn gerissen und der Klinik und ihm Unsummen bezahlt, damit er mit ihrem Parfüm in der Hand posiert.“
„Und er hat sich geweigert weiter zu machen, wenn sie dich nicht in Frieden lassen.“
Sie klatscht in die Hände. „Sehr schön kombiniert. Ich sehe schon, dein Intellekt erwacht aus seinem ewigen Dornröschenschlaf.“ Ihre bissigen Worte perlen von mir ab.
„Was genau habe ich getan?“
Sie stöhnt theatralisch und legt sich eine Hand auf die Stirn. „Nichts, was so toll war, dass man es wiederholen muss. Du warst einfach schon immer zu neugierig. Es ist ein Wunder, dass diese Eigenschaft dich noch nicht ins Grab gebracht hat.“ Ich hasse es, ihr zustimmen zu müssen. „Was mir ein klitzekleines, doch sehr großes Rätsel ist: Du weißt, dass die Klinik Geschichte ist“, sagt Spencer gedehnt. „Warum also befasst du dich damit? Was nutzt es dir, etwas in Erfahrung zu bringen, womit du eh nichts mehr anfangen kannst?“ Sicherheit. Die Sicherheit, dass man mir mit meinen Erinnerungen keine elementar überlebenswichtigen Fakten geraubt hat. Ich erwarte nicht, dass Spencer das verstehen würde. Sanft streichle ich über die Ecke des Märchenbuchs, die aus dem Rucksack späht. Diese Karte ist ein Schlüssel. Vielleicht kann sie mir erklären, warum mir meine Erinnerungen genommen wurden, warum ich mich Hals über Kopf in Ronan verliebte und warum sich der Schmerz, von ihm getrennt zu sein, in Grenzen hält. Während ich in Gedanken an Jasons Vogel in Tränen ausbrechen möchte.
Ich rede mir ein, dass, wenn ich das Geheimnis dieser Gänge entschlüsselt habe, dann komme ich auch hinter meine eigenen Rätsel. Dann ergibt plötzlich alles Sinn und vielleicht finde ich sogar eine Möglichkeit, diese Apokalypse zu beenden.
Die Klinik wusste davon. Sie sah die Apokalypse kommen. Niemand kann mir sagen, dass die Ärzte nicht nach einem Gegenmittel gesucht haben, um die Wolke wie eine lächerliche Krankheit zu behandeln. Sie wollten die Wolke verschwinden lassen, wie sie es mit allem tun. Und was nicht geheilt werden kann, das wird vernichtet.
„Ich habe einfach das Gefühl, dass es am besten wäre, wenn ich dahinterkomme“, sage ich.
Spencer schnaubt abfällig. „Oder glaubst du einfach nur, dass Jason das gewollt hätte?“
Dass ich diesem Labyrinth auf den Grund gehe? Abschätzig verziehe ich den Mund. Ich bezweifle, dass Jason noch Erwartungen an mich hatte. Wir haben Abstand zueinander gehalten. Die Umarmung, direkt nachdem ich aus dem Komplex stürzte, war alles, wozu Jason noch fähig war. Mehr ging nie. Dabei hätte ich Jason in dem ein oder anderen Moment mehr gebraucht, als ich mir eingestehen möchte. Wann immer ich aus dem nächsten Albtraum erwacht bin. Jason hat meine Unruhe meist bemerkt, mich nachdenklich betrachtet, als wäre ich eine fremde Spezies, die er erforschen muss. Einmal, als ich bitterlich weinte, hat er die Hand nach mir ausgestreckt und die Tränen von meinen Wangen gewischt. Danach ist er für eine viel zu lange Weile verschwunden. Verpufft in den Klauen der Apokalypse. Für einige Stunden fürchtete ich, dass er nicht zurückkommt.
„Die Beziehung zwischen mir und Jason war keine, in der man noch Forderungen gestellt hätte. Wir haben akzeptiert, dass der andere existiert, und das war es auch.“ Meine Stimme klingt rau.
Spencer schnaubt abfällig und zieht eine der Decken von meinem Berg, um sich selbst darin einzuwickeln. Der Atem dampft in hellen Wölkchen über ihr. Sähe ich nicht die halbherzige Verkleidung über uns, man könnte beinahe meinen, wir säßen in diesem Schneetreiben. Vor den halbherzig zugenagelten Fenstern peitscht ein mörderischer Sturm. Ich höre das Pfeifen des Windes und das dumpfe Schlagen der Flocken gegen die alten, schmutzigen Scheiben.
Scheint so, als hätte die Flaute sich gelegt.
„Komm schon, du müsstest ziemlich etwas ausgefressen haben, um ihn genug vor den Kopf zu stoßen, damit er dich in Ruhe lässt.“ Die Fehler von vor der Wolke zu wiederholen, war genug. Fehler, die nicht den Anstand hatten, sich falsch anzufühlen. Als ich Jason begegnete, fürchtete ich ihn. Als Ronan vor mir stand, wiegte ich mich in Sicherheit.
Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass meine Gefühle nicht nur manipuliert, sondern in der Luft zerrissen wurden, und sich willkürlich neu zusammensetzten. Keine Ahnung. Vielleicht könnte mir die Klinik meine Fragen beantworten. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ärzte den Herbst überlebt haben. Sie aufzusuchen, wäre ein selbstmörderisches Unterfangen. Ich glaube nicht, dass ich ein weiteres Betreten der Klinik überleben würde.
„Caressa, wenn du immer nur die Klappe hältst, dann ist das wirklich langweilig. Eigentlich sogar noch die Steigerung davon. Ich habe dir heute schon viel anvertraut, okay? Aber du, du sagst gar nichts. Du hast dich mit Jason gestritten, von mir aus. Ja, ich gebe zu, ihn dann so zu verlieren ist bitter. Trotzdem muss es doch weitergehen. Willst du wirklich aufgeben, nachdem du so viel durchgestanden hast?“ Das habe ich doch schon. Die weiße Flagge ist gehisst, nur scheint niemand sie zu sehen. Sie flattert im Wind, seitdem ich mit dem Rucksack über den Schultern im Regen erwachte, die Apokalypse gackernd über mir.
„Ich weiß nicht mehr weiter.“ Das ist die wohl größte Wahrheit von allen. Ich sehe Spencer fest in die Augen. „Wir hatten alle ohnehin keine Ahnung, was wir tun sollen. Wir sind umhergewandert und ins Nichts gelaufen. Es gibt nichts mehr, verstehst du das? Wofür soll ich noch kämpfen? Dafür?“ Ich deute aus dem Fenster. Auf die im Frost versinkende Welt. „Diese Wolke wird uns alle umbringen. Je schneller wir das akzeptieren, desto besser.“
Ungläubig schüttelt Spencer den Kopf und steht auf, die Decke weiter fest um ihren schmalen Körper gewickelt. „Wenn du das so siehst, wird sich nichts ändern, da hast du Recht. Aber es gibt eine Lösung. Ich bin fest davon überzeugt, dass man auch so eine Wolke abziehen lassen kann. Die Klinik hatte ein Ass im Ärmel und ich frage mich von Tag zu Tag mehr, ob nicht du das warst.“
Ich lehne mich resigniert zurück. „Eine Wolke abziehen lassen? Weißt du wie schwierig es ist, diese Moleküle zu greifen? Das ist fast unmöglich.“
„Himmel, Caressa, du hast ein Meer aufreißen und wieder zufrieren lassen. Gestern hast du Gott gespielt und ja, zugegeben, dich ziemlich verzockt. Was du getan hast, war trotzdem unglaublich. Du hast Nebel erschaffen. Du allein.“
„Ich habe nur die Teilchen in Schwingung gebracht.“
„Genau. Das ist der Anfang. Aber versuch beim nächsten Mal mehr zu tun, als nur das.“ Nur?
„Spencer, das sind meine Fähigkeiten. Ich kann aus dem, was mir gegeben ist, ein paar andere Dinge basteln. Aber erstens beherrsche ich nichts davon wirklich und zweitens hilft uns das nicht weiter. Der Staub bleibt Staub, die atomare Strahlung bleibt atomare Strahlung. Da ist es egal, ob das alles als Wolke über uns hängt oder als Stuhl in irgendeiner Ecke steht.“
Spencer verdreht abfällig die Augen. „Ich kann nicht glauben, dass ich dir deine eigenen Fähigkeiten erklären muss“, faucht sie. „Du und mein Bruder, ihr habt an einer Lösung gearbeitet. Wenn man Teilchen zu schnell bewegt, dann implodieren sie. Sie sind einfach weg.“ Erwartungsvoll sieht sie mich an. Ich kann nicht ganz deuten, was Spencer von mir verlangt.
Genervt wirft Spencer die Hände in die Luft. „Mit etwas Übung könntest du sie verschwinden lassen. Deswegen hat Doktor Warren auf dich gezählt. Deswegen hat sie dir fast jede Dummheit durchgehen lassen. Wenn dir jemand beibringen könnte, wie das funktioniert, dann …“ „So jemanden gibt es nicht“, unterbreche ich Spencer. „Und selbst wenn, dann hält sich diese Person in den unterirdischen Gängen der Klinik auf und die werde ich nie wieder betreten.“
Sie spitzt die Lippen. „Tatsächlich? Warum studierst du dann deine kranke Märchenkarte?“ Spencer lehnt sich zu mir, ein gefährliches Funkeln in den Augen. „Du willst da wieder rein, Caressa. Du willst das hier alles verstehen und vor allem willst du den Menschen, die noch am Leben sind, helfen.“
Ich presse die Zähne fest aufeinander und dränge ihre hoffnungsvollen Worte aus meinem Kopf. Das ist das verzweifelte Wunschdenken einer Person, die dieser Welt schon viel zu lange ausgesetzt ist. Ich kann keine Wolken auflösen. Es gibt niemanden, der es mir beibringen kann, und am allerwenigsten besteht auch nur der Hauch einer Chance, dass ich in diese Klinik zurückkehre. Damit ich sie verlassen kann, hat fremdes Blut den Zoll gezahlt.
„Menschen ändern sich“, sage ich matt. „Du solltest dich daran gewöhnen, dass ich nicht mehr das Mädchen bin, das nur das Beste für alles und jeden will.“
Spencer zuckt die Schultern. „Und ich habe aufgehört die neueste Mode zu studieren. Schon vor der Wolke. Das heißt aber nicht, dass ich es nicht vermisse.“ Spencer setzt sich zurück neben mich. Die roten Locken umrahmen ihr blasses, schönes Gesicht. „Du musst dich eine einzige Sache fragen: Könntest du damit leben, wenn du irgendwann erfährst, dass du all diesen Menschen, die es noch gibt, hättest helfen können, und es nicht getan hast?“
„Dazu wird es nicht kommen. Ich bin nicht Gott.“
Verärgert schnalzt Spencer mit der Zunge. „Nein, das bist du tatsächlich nicht. Aber Gott hat auch nicht diesen Vulkan ausbrechen und die Atomkraftwerke hochfliegen lassen. Den Typen gibt es nämlich nicht. Wenn er existieren würde, warum hat er nicht längst schon etwas getan? Wir müssen das selbst in die Hand nehmen. Und du kannst das.“
Ich schüttle erschöpft den Kopf. Es gibt Dinge, die sind unmöglich genug, dass man sie nicht versuchen muss. Von vornherein ist klar, wie es enden wird.
Spencer stößt einen kleinen, frustrierten Schrei aus. „Komm schon, hör auf damit, dich selbst zu bemitleiden. Kopf hoch und auf geht´s. Denkst du, ich gebe mir so eine Mühe mit dir, damit du depressiv in der Ecke hockst und Jason hinterhertrauerst und dir Vorwürfe für etwas machst, wogegen du schlichtweg nichts tun konntest?“
Sie fährt sich in die wallende Mähne und funkelt mich in Grund und Boden. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass es mich kümmert. Ich bemitleide mich nicht selbst. Spencer versteht mich nicht. Spencer sieht nicht die Ausweglosigkeit der Situation. Wir können nicht einmal einen Schritt vor die Tür wagen, ohne zu erfrieren!
„Gut. Das nehme ich als ein: Morgen gehen wir los.“ Sie schnauft schwer. „Heute lasse ich dich noch ein bisschen rumheulen, aber auch nur, weil ich alles noch einmal durchdenken und planen muss. Du scheinst mir da keine große Hilfe zu sein.“
Ich lache lustlos auf. „Komm, Spencer, was gibt es da schon zu planen? Wir versuchen, nicht zu erfrieren, und rennen die Tore der Klinik ein, hoffen, dass uns in den Gängen niemand umbringt, und suchen das Unmögliche, das wir ohnehin nicht finden werden, weil sie uns vorher eines ihrer Kuscheltiere auf den Hals hetzen.“ Kühl lege ich den Kopf in den Nacken und starre an die Decke. Dünne Eiskristalle ziehen sich von der Wand in die Mitte. „Du solltest endlich akzeptieren, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Der Winter ist da und er wird kein Leben zurücklassen. Egal was wir tun.“
„Ich kann nicht einfach hier sitzen, auf den Tod warten und Trübsal blasen“, faucht sie. „Wir müssen etwas tun.“
Ausdruckslos sehe ich Spencer an. „Die Vögel singen nicht mehr.“