Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 7

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Lucindas Albtraum weckt mich. Resigniert lege ich den Unterarm über meine Augen und atme tief durch, warte darauf, dass ihre Schreie abbrechen und endlich die verdiente Stille zurückkommt.

Sieben Sekunden vergehen. Momente, in denen sie um Corells Leben schreit. In denen sie seinen Vater verflucht. Dass mit dem Verschwinden ihrer Kette der Herbst eingeläutet wurde? Dann verwandelt der gellende Schrei sich in ein Schluchzen und schließlich in ein gedämpftes Wimmern. Blinzelnd öffne ich die Augen. Cathrin plustert das Gefieder auf und wirft mir einen Blick zu, als wollte sie sagen: „Na, schon wieder die Ohrstöpsel vergessen?“ Ich verabscheue diesen Vogel.

Stöhnend wälze ich mich auf die andere Seite und sehe in die schwelenden Überreste des Lagerfeuers. Schwarze Reste von Holz strecken sich flehend in meine Richtung, verkohlte Finger, die verzweifelt versuchten, ihrem Schicksal zu entfliehen.

Der Qualm lässt mich die Nase rümpfen, ist zu beißend und zu rau in meinem Hals, ließ mich schon viel zu oft würgen. Manche Äste, die wir über Nacht verbrannten, stanken genug, dass ich mich fragte, wie viele Menschen mit ihnen bereits gepfählt wurden. Oder welcher andere unangenehme Nebeneffekt den bitteren Gestank verursachte.

Cathrin fiept laut und lässt mich die Lippen zusammenpressen. Sechs Stunden am Stück schlafen zu dürfen, ist zu viel verlangt. Entweder die Albträume quälen mich – schemenhafte Erinnerungen, Spencers Tod – oder Lucinda wacht schreiend auf. Wenn die Träume ruhen, taucht irgendwo in der Ferne ein menschenähnliches Wesen auf oder der Vogel hat Hunger. Je zäher sich die Kälte zieht, desto häufiger ertappe ich mich bei dem Wunsch, dass er doch einfach mit seinen Geschwistern gestorben wäre. Durch den Rauch spähe ich zu Lucinda hinüber. Sie hat sich aufgesetzt und starrt an den Horizont, wartet darauf, dass die Sonne aufgeht. Ihr Atem pufft deutlich in der Luft, schützend hat sie die Arme um sich geschlungen.

„Geht es wieder?“, wispere ich. Bei dem Klang meiner Stimme fährt sie zusammen. Hektisch sieht sie sich um. Lucina braucht ein paar Augenblicke, um zu erkennen, dass ich sie durch den brennenden Qualm hindurch mustere. Sie entspannt sich leicht.

„Klar. Ich bin jetzt ja wach.“ Man muss sie nicht gut kennen, um zu wissen, dass sie lügt. Wir leiden alle unter dem Schlafentzug, der Kälte, der Sorge, den nächsten Morgen nicht zu erleben, aber niemand von uns macht Dracula eine ähnliche Konkurrenz wie sie. Die Augen sind dauerhaft gerötet, ebenso die Nase, die dunklen Augenringe sind zu Blutergüssen geworden. Am Unheimlichsten ist, dass keiner dieser Makel sie nur eine Nuance von ihrer umwerfenden Schönheit einbüßen lässt.

„Wieder Corell?“

Ihre Antwort ist ein abgehacktes Schulterzucken. Kurz zögert sie, ehe sie sich auf die Seite legt und ebenso wie ich blinzelnd in die Überreste des nächtlichen Feuers starrt.

Der eisige Wind hat sich gelegt. Seitdem wir die Klinik verlassen haben, ist er erstorben. Stattdessen ist die Kälte noch intensiver geworden. Ohne den Mantel hätte ich die erste Nacht nicht überlebt und selbst mit ihm, zittern und zucken meine Muskeln in nahezu jeder Minute. Käme auch nur die sanfteste Brise auf, vermutlich würden wir auf der Stelle erfrieren.

Vor ein paar Tagen sind wir an dem einst tobenden Meer vorbeigewandert. Die Wellen peitschen nicht mehr gegen die Felsen. Sie sind in der Bewegung erstarrt, bilden eine einzige, glänzende, undurchdringliche Ebene, verwirrt und zerschlagen, die jede Bewegung, die das Meer je gemacht hat, einfängt, bis die Tage wieder wärmer werden und es Organismen möglich gemacht wird, weiter zu leben.

„Ihm geht es gut“, versuche ich Lucinda halbherzig zu beruhigen. Der Vogel hüpft aus Jasons halb geschlossener Hand heraus und verschwindet in meiner Jackentasche. Ich spüre ein sanftes Schütteln an meiner Hüfte, ehe er sich gegen meinen Körper drückt.

„Woher willst du das wissen? Du hast ihn dort zurückgelassen. Vermutlich ist er einfach verbrannt oder erstickt.“ Es würde mich wundern, wenn die Katastrophe der Klinik den Ort erreicht hat, wo sie programmiert wurde. In den Gängen ist Corell vermutlich am sichersten. Der Komplex wird tot sein, alles was über der Erde liegt, aber das Labyrinth aus Korridoren war zu groß und verzweigt, als dass ein Knopfdruck genügen würde, um sie gänzlich zu vernichten.

Wenn Corell in diesem Raum geblieben ist, stirbt er am ehesten an seinem Irrsinn oder Langeweile.

„Er hat mir gefühlt hundert Mal gesagt, dass er zurückkommt. Das hätte er nicht getan, wenn er sich seines Todes so sicher gewesen wäre“, murmle ich.

Lucinda schnaubt abfällig und zieht sich den Schlafsack unter das Kinn. Ihre Lippen sind aufgesprungen, leicht blutig. Ich kann nicht behaupten, dass mein Zustand besser wäre als ihrer.

„Könnt ihr versuchen, etwas leiser zu sein?“, murmelt Jason neben mir. „Der Tag wird so oder so lang.“ Noch im Halbschlaf streckt er die Hand nach mir aus. „Du solltest schlafen.“ Vermutlich.

Er gähnt und rollt sich zu einer Kugel zusammen, schützt Arme und Beine so gut es geht vor den unbarmherzigen Temperaturen. Für eine heiße Dusche würde ich einen Mord begehen.

Nachdenklich betrachte ich Jason. Die Falten haben sich tief in seine Stirn gegraben. Er scheint sich jeden Atemzug über seine eigenen Rätsel den Kopf zu zerbrechen, sagt aber nie, welche Ideen er hin und herwendet. Manchmal frage ich mich, ob seine Persönlichkeit zeitweise durch Jonathans ausgetauscht wird und ich es bloß nicht bemerke.

Hier draußen, ehe wir die Klinik betraten, lernte ich ihn als einen sehr redseligen Menschen kennen. Nun ist er es, der am häufigsten schweigt. Oft betrachtet er still den Vogel, versucht ihn irgendwie mit Nichts und wieder Nichts über Wasser und am Leben zu halten. Es bringt mich um zu sehen, dass er Teile seines dringend benötigten Essens an ein Tier abtritt, das den Winter ohnehin nicht überstehen wird.

Manchmal glaube ich, dass Cathrin ein Symbol der Hoffnung für ihn ist, eine Chance diese eisige Zeit zu überstehen. Wenn dem so ist, sollte er sich eine hoffnungsvolle Alternative suchen, bevor der Vogel stirbt.

Lucinda bleibt wach, genau wie ich, beobachtet die Sonne, wie sie versucht, aus der Welt von Nebel und Schatten emporzusteigen und sich als Königin über sie zu erheben. Wir schweigen beide, geben den beiden Jungen den Schlaf, den sie dringend benötigen. Ronan ist erschöpft genug, damit weder Lucindas Schreie noch unser leises Gespräch ihn geweckt haben. Manche Nächte schläft er so fest und tief, ich war mehr als einmal davon überzeugt, dass er gestorben ist. Als einziger verzichtet er auf einen Schlafsack in der Nacht, trägt nur den Mantel, der im Moment keiner Menschenseele genügen sollte.

Lucinda und Jason machen sich wenig Sorgen um ihn. Seine Fähigkeit hält ihn selbst unter diesen lebensfeindlichen Bedingungen am Leben.

Und ich? Selbst wenn ich Bedenken hätte, gäbe Ronan mir keine Gelegenheit, sie zu äußern. Wir haben kaum ein Wort gewechselt seit der Nacht, in der wir uns so ziemlich alles an den Kopf geworfen haben, über das wir hätten schweigen sollen. Nur im absoluten Notfall spricht er mit mir. Ich kann nicht behaupten, dass mich das in einem übermäßigen Maß stört.

Wir sind zurück in den Fängen der Wolke. Es ist besser, wenn man sein Herz an so wenig wie möglich hängt.

Selbst wenn Jason mir nicht anvertraut hätte, dass er einen Großteil der Zeit nach der Apokalypse in der Klinik verbracht hat, hätte ich es spätestens an seiner Liebe zu dem Vogel bemerkt. Niemand, der bereits zwei Jahre unter der Wolke überlebt hat, würde sein Herz an so etwas Sterbliches, Fragiles wie einen Vogel hängen. Mit etwas Glück ist er Nahrung. In diesem Fall würde der Vogel zumindest einen letzten Nutzen erfüllen.

Würde einer von uns Cathrin anrühren, wäre er tot. Vermutlich mit Recht.

Ein Gutes hat es, dass ich wieder unter freiem Himmel bin: Die Erinnerungen sind in wachen Momenten versiegt. Als hätte ich mit der Tür zu dem Gebäudekomplex auch die zu meiner Vergangenheit geschlossen. Ich kehre zu meiner geliebten Ruhe zurück, kann verarbeiten, was ich gesehen habe in dieser Zeit und mich auf all das konzentrieren, was mir bevorsteht. Was es auch sein mag. Dieser Fokus auf das Heute schärft den Blick fürs Wesentliche. Glaube ich zumindest.

Ein verspätetes Knacken des bereits toten Holzes und Lucinda zuckt zusammen. Sie kaut auf ihrer Lippe, wie so oft. Ihr Zeichen von nagender Nervosität. Für sie ist das alles neu. Man hat ihre Zeit vor dem Kollaps pausiert. Jetzt habe ich wieder auf Play gedrückt und sie wird auf ein Feld gestellt, an dessen heruntergekommenen Zäunen man noch immer die verblichenen Überreste von ganzen Kuhherden erahnen kann.

Als sie die Auswirkungen der Wolke das erste Mal gesehen hat, brach Lucinda in Tränen aus. Inzwischen nimmt sie die Streifzüge der Apokalypse stoisch hin.

Hin und wieder, wenn ich mitten in der Nacht aufwache, kann ich sie beim Beten beobachten. Ihre Lippen formen stille Worte, während ihre Finger fest aneinandergepresst sind.

Jeder hat in diesen Zeiten etwas, an dem er sich festhalten muss. Bei Jason ist es der Vogel, bei mir ist es mein Starrsinn. In Lucindas Fall ihr Glaube. Zu gerne wüsste ich, was es für Ronan ist. Der Wunsch nach Rache?

Keine unmögliche Erwägung. Manchmal dreht er sich zu mir um und die Blicke, die er mir zuwirft, sind so voller Hass, dass ich es für unmöglich hielte, dass er mich jemals geküsst hat, wenn die Erinnerungen daran nicht noch frisch wären.

Cathrin plustert in meiner Tasche wieder das Gefieder auf, drängt sich noch enger an mich. Selbst in meinem Mantel wird sie nicht die Wärme finden, die sie braucht.

Seufzend ziehe ich sie aus der Tasche. Viel zu laut fiept sie in den anbrechenden Tag hinein, breitet Beinchen und Flügel aus, um sich festzukrallen. Ich lasse das nicht zu, ignoriere ihre verzweifelten Versuche, ziehe meinen Schlafsack bis zu meinem Hals und lasse sie hineinspazieren. Den Mantel öffne ich.

Gedämpfte Proteste folgen, das tastende Pieken in alle Richtungen, ehe sie eine Innentasche findet und sich dort niederlässt.

Wieder ein Aufplustern, dann gibt sie endlich Ruhe und ich atme auf.

„Du hast den Vogel lieber, als du zugeben würdest“, stellt Lucinda fest. Ihre Blicke haften auf mir.

Ich zucke die Schultern. „Corell meinte, wenn die Vögel aufhören zu singen, sind wir alle tot. Es ist wohl am besten, wenn man die Lebensversicherung am Körper trägt.“

Sie verzieht abfällig die Lippen. Ein dünnes Blutrinnsal tropft ihr auf das rissige Kinn. „Es ist schrecklich, wie pragmatisch du geworden bist.“ Ihr leises Seufzen gefriert in der Luft. „Nachdem ich das hier aber gesehen habe, kann ich es dir kaum verübeln. Zwei Jahre geht das jetzt schon?“

„Nahezu.“ Ein bisschen weniger, wenn ich mich nicht verzählt habe. Aber diese zwei, drei Monate machen auch keinen Unterschied zum Endresultat. Man findet noch weniger Leben als zu dem Zeitpunkt, als wir die Klinik betraten. Ich bin davon überzeugt, dass diejenigen, die sich hier noch verkriechen, böser sind als alles, was ich bereits habe in den Tod laufen sehen.

„Das Schlimmste ist, dass es kein Grün mehr gibt“, flüstert Lucinda. „Es sieht alles so unglaublich tot aus.“ Das ist es. Die Wesen, die die größte Population bilden, sind hirnlose Monster, die die Ähnlichkeit zu den Menschen, die sie einmal waren, mit jedem Tag ein Stück mehr verlieren. Hat das Virus sie lange genug in seinen Fängen, frisst es ihre Haut und lässt die Überreste in Flocken zu Boden regnen. Die Knochen werden angegriffen, das Gehirn restlos zerstört. Nach und nach tötet das Virus seinen Wirt mit menschlicher Raffinesse.

Es wird erst verschwinden, wenn es kein Leben auf Erden mehr gibt. Wie lange also noch? Ein Jahr? Weniger?

„Warte nur, bis du dem ersten Untoten über den Weg läufst“, murmle ich. „Sie sind das Skurrilste, das du dir ausmalen kannst.“

Sie runzelt die Stirn und schnieft leise. „Dann möchte ich sie gar nicht sehen.“ Aber das wird sie. Es ist ein Wunder, dass wir in den frierenden Ewigkeiten, die wir bereits durch diese Ödnis wandern, während wir versuchen Abstand zu der Klinik zu gewinnen, auf keinen von ihnen gestoßen sind. Auf keines dieser lechzenden Geschenke der Klinik. Ja, wir meiden die Wälder wie die Pest. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem uns das nicht mehr möglich sein wird, und dann Gnade uns Gott. Die Untoten waren bereits ausgehungert, als ich sie das letzte Mal sah. Inzwischen gibt es noch weniger Leben, das sie vernichten können. Sie werden sich auf alles stürzen, das sich auch nur in ihre Nähe begibt.

Die Narbe an meinem Daumen, ein exaktes Abbild eines Gebisses, ist eine Mahnung an mich, es nicht auf ein weiteres Zusammentreffen ankommen zu lassen.

Zwanzig Meter hinab in ein tobendes Meer zu springen, mag verrückt sein. Zehn Meter nach unten auf eine Eisschicht zu stürzen, tödlich.

Ich habe nicht so viel durchgemacht, damit Untote mir die Kehle herausreißen.

„Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Du brauchst den Schlaf.“ Das tue ich tatsächlich.

Ich hebe die Schultern. „Man gewöhnt sich daran.“ Viel zu gern würde ich ihr die Situation zum Vorwurf machen. Dass sie Nacht um Nacht um Corell schreit, aber allein der Gedanke daran, dass ich einen von beiden, Ronan oder Jason, in der Klinik hätte zurücklassen müssen, bringt mich um den Verstand. Was, wenn Corell sich verkalkuliert hat? Ich traue der Klinik zu, dass sie alles dafür tut, damit er sie zu uns führt. Sie würden ihn dafür foltern. Sie würden in seinen Verstand kriechen. Sie würden ihn zerreißen. Die Klinik kennt keine Gnade.

Prüfend sehe ich Lucinda an. Träumt sie davon? Dass die Ärzte Elektroschocks durch ihn hindurch jagen, bis das Blut in seinem Körper kocht und er unter Tränen um Gnade fleht? Sieht sie seine Schmerzen?

„Es ist nur so schwer“, wispert Lucinda. „Ich war mir immer sicher, dass, wenn etwas Schreckliches geschieht, er an meiner Seite steht. Aber hier bin ich und er ist nicht da und ich habe keine Ahnung, was mit ihm gemacht wird.“ Bitter lächle ich. Die Ungewissheit ist ihre Folter. Diese Ungewissheit, die nicht die Klinik ihr aufgelegt hat. Sondern Corell. Aus freien Stücken.

„Du hast auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würdest du an irgendwem hängen.“

Lucinda zuckt zusammen, schnieft wieder leise. „Corell ist ja auch nicht irgendwer. Das zwischen uns war so ähnlich wie bei Jason und dir.“ Kurz schweigt sie. „Das war kein Witz, als Jason mir erzählt hat, dass du dich nicht an das Leben in der Klinik erinnerst, bevor die Wolke aufgezogen ist, oder? Du hast wirklich keine Ahnung.“ Ich verlagere das Gewicht, immer darauf bedacht, den Vogel nicht zu verletzen. Er rührt sich nicht mehr. Entweder er ist tot oder schläft endlich.

„Das, was ich über Ronan und Jason gesagt habe, das war eigentlich ein halber Scherz“, flüstert Lucinda. „Vor allem das über Jason. Klar, er ist so, wie ich es dir beschrieben habe, aber es hat dich nie gestört. Du wärst für ihn durch die Hölle gegangen, ebenso wie er für dich.“

Da irrt sie sich. Bereits vor der Wolke habe ich mit seinem besten Freund rumgeknutscht. Das ist die einzige Aktion, an die ich gern mehr Erinnerungen hätte. Eine Art von Kontext. Aber die Momente werden mir verwehrt. Ronan und Jason sprechen nicht darüber. Sieht ganz so aus, als würde ich nie erfahren, warum ich diesen Keil zwischen die beiden getrieben habe.

„Es ist eh egal“, murmle ich. „Andere Dinge sind wichtiger.“ Lucinda widerspricht nicht.

„Wir müssen bald weiter. Die Sonne geht auf.“ Das Beunruhigende ist, dass mit dem Sonnenaufgang die Temperaturen nicht steigen. Es kommt mir vor, als befände sich eine dichte Glasschicht zwischen der Sonne und uns. Das Glas absorbiert die Hitze und über uns regiert die Eiseskälte.

„Ich will noch nicht gehen“, flüstert Lucinda. Die Sorge steht ihr in die großen, mattblauen Augen geschrieben. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass ich sie nicht verstehe, aber es ist vernünftiger, in Bewegung zu bleiben, als für immer eingekuschelt in dem Schlafsack zu liegen. An diesem Feuer werden die Vorräte nur immer knapper und der Kreislauf kommt auch nicht in Schwung.

Ich ignoriere Lucinda und drehe mich zu Jason um, tippe ihm gegen die Schulter. Seine Augen fliegen auf. Bewegungslos lässt Jason den Blick über sein nahes Umfeld wandern, dann dreht er den Kopf in meine Richtung. Seine Schultern sacken nach unten und er atmet erleichtert aus.

„Was ist los?“ Er blinzelt sich den Schlaf aus den Augen. Wortlos deute ich gen Horizont. Die Sonne ist inzwischen als Ganzes zu erkennen, in einem düsteren Orange gemalt, während sie schwerfällig das Himmelszelt hinaufsteigt.

Seufzend setzt Jason sich auf und erstarrt. „Wo ist Cathrin?“ Er ist schneller auf den Füßen, als ich ihm antworten kann. Panisch geht er ein paar Schritte. Der Schlafsack fällt raschelnd zu Boden. Die Hände fahren in seine Taschen. Ich höre das leise Rascheln von Papier.

„Caressa, hast du sie gesehen? Sie kann nicht weggelaufen sein, sie muss irgendwo hier sein. Kannst du in deinem Schlafsack nachsehen?“

„Sie schläft in meiner Tasche. Ihr ist kalt geworden.“ Jason öffnet den Mund und schließt ihn, ohne einen Ton hervorzubringen.

Lucinda seufzt leise. „Einigt euch doch einfach darauf, wer das Sorgerecht bekommt, dann gibt es diesen Stress nicht mehr.“

Ich werfe ihr einen mörderischen Blick zu. „Sie ist zu mir gekommen. Ich wollte das nicht.“

Lucinda hebt wegwerfend die Schultern und neigt sich zu Ronan. Bei ihm genügt es nicht, ihn einmal anzustupsen. Lucinda schüttelt ihn fünf Mal mit ganzer Kraft, damit er blinzelnd die Augen öffnet und einmal herzhaft gähnt. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Ronans Sinne sind geschärft. Waren geschärft. Ist es möglich, die Fähigkeiten nach und nach einzubüßen?

„Ist es schon wieder hell?“, murmelt er.

„Gibst du mir Cathrin wieder?“, bittet Jason mich leise. „Ich muss sie füttern.“

Mir wird nie begreiflich werden, was Cathrin nun genau für ihn ist, dass Jasons erster und letzter Gedanke ihr gilt, aber ich widerspreche nicht, sondern ziehe den schlafenden Vogel wortlos aus meinem Mantel. Sie hat das Köpfchen unter dem Flügel mit dem orangen Tupfen vergraben und zieht ihn nicht einmal dann hervor, als Jason sie behutsam in seine eigene Innentasche bettet.

„Danke.“

„Keine Ursache.“ Die Spannung zwischen uns ist greifbar. Beim besten Willen, ich kann nicht bestimmen, ob es eine gute oder eine schlechte ist. Mit Jason habe ich einige Worte mehr gewechselt als mit Ronan. Was auch immer das zwischen mir und Jason ist, bleibt zu kompliziert, als dass wir es auf der Flucht vor dem Kältetod klären könnten.

„Komm, steh auf, wir müssen weiter“, wiederholt Lucinda. Ich höre ein leises Schnaufen, als Ronan sich auf seine Füße kämpft. Die Lippen, nein, seine gesamte Haut ist bläulich. Er müsste längst tot sein. Aber der Junge klopft sich sorglos den Staub von der Kleidung und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Na dann, packt mal euer Zeug zusammen.“ Erwartungsvoll sieht er in die Runde, meidet meinen Blick. Ich kann es ihm nicht verübeln.

Die Schlafsäcke werden zusammengerollt und in den Rucksäcken verstaut. Mit einem leisen Zurren werden sie geschlossen. Ich werfe mir meinen über die Schultern und ziehe die Gurte etwas fester, ehe ich mich daran festhalte.

„Bereit für den Aufbruch?“, fragt ausgerechnet Lucinda. Ich sehe zu Jason. Er hat den Blick bereits zum Horizont gerichtet.

„Hoffen wir einfach, dass es heute etwas wärmer wird.“

Ronan quittiert Jasons Aussage mit einem abfälligen Lachen, ehe er sich in Bewegung setzt und vorangeht. Wir folgen ihm, nicht als wüsste er den Weg, sondern als wäre er der einzige, der die Kraft und Motivation hat, ins Ungewisse zu laufen. Nichts ist ermüdender als das Wissen, mit Sicherheit niemals irgendwo anzukommen.

Winter

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