Читать книгу Winter - Celina Weithaas - Страница 11

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Es muss kurz vor Sonnenaufgang sein, als ich wegdämmere. Spencer ist bei mir geblieben, auf der Couch gegenüber, hat das Feuer gehütet, bis ihre Augen schwer wurden. Für einige Stunden hoffte ich, ich könnte diese Nacht ohne Schlaf überstehen.

Ihr gleichmäßiger Atem hat mich den Kampf verlieren lassen. Wie das Rauschen des Meeres kam er, ging er. Erinnerte mich nicht nur vage an das eisige Ungetüm, das meine Weggefährten verschlungen hat, sondern auch an den See der Klinik. Sonnige, angenehme Tage und ruhige Zweisamkeit. Ich vermisse diese Momente mit Ronan. Wenn die Zeit mit Jason ähnlich intensiv war, warum erinnere ich mich dann nicht? Warum fische ich noch immer in trüben Gewässern?

Mein Traum gibt mir keine Antwort auf diese Frage.

Ich lehne an der Eiche und beobachte das Spiel der schillernden Fische im Teich. Das leise Singen des Wassers verzaubert mich.

„Genießt du die Sonne?“ Grinsend lege ich den Kopf in den Nacken und blinzle in Jasons Richtung.

„Nicht so richtig. Heute ist sie noch heller als sonst.“ Lachend setzt er sich neben mich. Einige Strähnen fallen ihm in die Stirn.

„Du musst dringend zum Friseur“, necke ich ihn. Augenrollend schenkt er mir einen süßen Kuss. Ich lehne mich gegen ihn, genieße seine Wärme und Sicherheit.

„Warum schneidest du mir nicht die Haare?“, murmelt Jason. „So viel kann man da nicht falsch machen.“ Da wäre ich mir nicht so sicher.

„Du weißt doch, ich habe einer von Lucindas Puppen eine neue Frisur verpasst und sie sieht aus wie ein zu hübsch gekleideter Punker.“ Kein Geräusch auf der Welt ist so schön wie Jasons Glucksen, nicht einmal das des Teiches. Jason mag klingen, als würde er sich verschlucken, aber alles in allem bleibt dieser Laut so voll Aufrichtigkeit, dass mir warm im Herzen wird.

„Damals warst du auch erst fünf.“

„Sag ich doch. Das ist noch gar nicht so lange her.“ „Elf Jahre.“ Empört sehe ich ihn an.

„Zwölf! Weißt du nicht, wie alt ich bin?“

„Ich dachte immer, Frauen wollen, dass Mann das vergisst.“

„Erst nach dem dreißigsten Lebensjahr oder wenn sie sich hässlich vorkommen.“ Noch ein leises Lachen.

Jason vergräbt das Gesicht an meinen Nacken und haucht mir einen federleichten Kuss auf die Haut.

„Dann werde ich diesen Fehler mit Sicherheit nie wieder machen“, murmelt er. Seufzend lehne ich mich gegen ihn und schließe die Augen. Die Sonne wärmt mein Gesicht, Jasons Gegenwart lässt mein Herz erblühen.

„Ich dachte, du wärst noch länger bei Doktor Warren.“ Sanft streicht er mir die Haare über die Schulter.

„War so geplant, ja, aber sie hatte zu tun.“

Er verharrt mit den Lippen über meinem Schulterblatt. „Was genau?“

Ich zucke die Achseln. „Ist das wirklich wichtig?“ Die Anspannung der letzten Stunden kehrt zurück. Plötzlich scheint die Sonne schrecklich weit entfernt, Jasons Berührungen wurde die Sanftheit geraubt. Doktor Warrens Bitte ist ungeheuerlicher als die, über alles Wichtige ihm gegenüber zu schweigen. Das, was sie nun von mir verlangt, kann ich ihr nicht geben und ich hasse sie dafür, dass sie tatsächlich hoffte, ich würde einwilligen. Dass Doktor Warren es gewagt hat, mich stundenlang damit unter Druck zu setzen, obwohl sie meine Antwort von Anfang an gekannt haben muss.

„Ja, ist es.“ Behutsam fährt Jason den Muskel neben meinem Schulterblatt nach. „Weil der hier war bis gerade eben noch nicht zum Zerreißen gespannt und der hier“, er streicht über meinem T- Shirt an der Wirbelsäule entlang, „auch nicht.“ Einen letzten Kuss haucht er mir in den Nacken, dann sieht er mir ins Gesicht. „Du bist von dir aus gegangen, oder?“ Wenn man einen theatralischen Abgang mit Rumschreien und Türenknallen so nennen will, ja. Mit zusammengezogenen Brauen sieht Jason mir direkt in die Seele. Selbst wenn ich versuchen würde, ihn zu belügen, wüsste Jason es.

„Ja, sie hat wirres Zeug erzählt. Das bringt keinen weiter.“

„Zum Beispiel?“ Zum Beispiel, dass ich etwas mit deinem besten Freund anfangen soll, damit sie ihn genauer unter die Lupe nehmen kann. Allein der Gedanke daran jemand anderen als Jason zu küssen, bereitet mir Übelkeit. Dabei noch Ronan? Ich bin nicht das einzige Mädchen in der ganzen, verdammten Klinik. Vielleicht wird es schwer werden, eine zu finden, mit der Ronan noch nichts hatte, aber bestimmt nicht unmöglich. Ich bin nicht Doktor Warrens kleine Schlampe, die mit jedem Typen ins Bett geht, den sie ihr nennt.

Ich zwinge mir ein gequältes Lächeln auf die Lippen und schlinge die Arme um Jasons Hals. „Lass uns über etwas anderes reden, ja? An die Sache von Doktor Warren werde ich früh genug wieder denken müssen.“ Spätestens wenn sie mich morgen nach meiner Entscheidung fragt. Sie steht fest, wirklich. Ich werde ablehnen und ihr noch einmal sagen, was ich von solchen Plänen halte. Hier steht nicht nur meine Selbstachtung auf dem Spiel, sondern auch meine Beziehung und Jasons Herz. Warum sollte ich es brechen? Nur um Teil eines makabren Plans zu sein, der ohnehin nicht funktionieren wird?

Ich werde nicht zusagen. Das wäre das Dümmste auf der Welt. Was wenn Doktor Warren mich dennoch von diesem schwachsinnigen Unterfangen überzeugt? Was würde es brauchen, um mich zu meinem eigenen Albtraum zu machen? Wie sollte ich Jason diese Aktion begreiflich machen?

Natürlich, Doktor Warren hat betont, dass nicht groß etwas zwischen Ronan und mir laufen muss. Nur ein paar Küsse. Fürs Erste. Aber was, wenn sie länger brauchen als geplant? Wenn Doktor Warrens dämlicher Plan nicht aufgeht? Diese Küsse würden genug Schaden anrichten.

Allein bei der Idee, dass Jason Spencer küsst, würde ich am liebsten auf irgendetwas einschlagen.

„Ich hasse es, wenn du mir nicht alles erzählst.“ Jede Leichtigkeit ist dahin. Ich trauere ihr nach.

Kopfschüttelnd drücke ich mein Gesicht gegen seine Schulter. „Ich werde es dir erzählen“, schwöre ich Jason. „Irgendwann. Aber noch nicht heute.“ Was, wenn ich es nicht schaffe, Nein zu sagen? Wenn sie mir einen Grund geben kann, für den es sich lohnen würde, zehn Jahre Vertrauen in Flammen aufgehen zu lassen?

„Caressa…“

„Nein“, unterbreche ich ihn harsch. „Bitte, lass uns über etwas anderes sprechen. Was habt ihr beide heute gemacht? Wart ihr surfen, schwimmen, im Kino?“ Ich bin mir sicher, Jason hat mir heute Früh gesagt, was er und Ronan vorhatten, aber Doktor Warrens plötzlich so dringender Wunsch mich zu sehen, hat mich bereits vor ihrem schwachsinnigen Plan aus dem Konzept gebracht gehabt. Einmal alle paar Monate schlafe ich nicht bei Jason und Jason nicht bei mir. Genau diesen Tag hat sie abgepasst und mich aus dem Schlaf gerissen. Zuerst hielt ich sie für einen bösen Traum, ohne zu ahnen, dass die Bitte, die sie mir unterbreitet, viel schlimmer ist als alles, was ich mir ausmalen konnte.

Jason mit jemandem betrügen? Schlimm genug. Aber mit seinem eigenen Freund? Was für ein Miststück müsste ich dafür sein.

„Wir waren bei einem Basketballspiel“, erinnert Jason mich leise. Seine Fingerspitzen wandern über mein Gesicht. „Unsere Mannschaft hat verloren, was soll´s.“ Unsere Mannschaft meint die Typen, mit denen Jason und Ronan mitgefiebert haben. Irgendwelche Jungs in einem orangenen Tigertrikot. „Du hättest mitkommen sollen.“

Ich lehne meine Wange in seine Hand und sehe ihm in diese wunderschönen, außergewöhnlichen Augen. „Das wollte ich auch“, seufze ich. Wie sehr habe ich mich darauf gefreut. Auf diesen Tumult außerhalb der Klinik, darauf, dass wir vielleicht früher verschwinden und uns eine dunkle Ecke zum Rumknutschen suchen, bevor wieder die wachsamen Augen der Ärzte auf uns liegen. Es ist zermürbend, sich nachts im Garten oder außerhalb des Geländes treffen zu müssen, um von den Ärzten nicht über jedes Detail unseres Liebeslebens gelöchert zu werden.

„Aber Doktor Warren kam dazwischen“, sagt Jason. Seine Stimme klingt selten hart.

Ich nicke und schlinge beide Arme um ihn, bette den Kopf auf seiner Brust und lausche dem regelmäßigen, kräftigen Herzschlag. Wie oft war er meine Einschlafmusik, meine Gute-Nacht-Geschichte.

Wenn ich zustimmen sollte, aus welchem Grund auch immer, wird das der letzte Tag sein, den ich an Jasons Seite verbringen kann ohne Schuldgefühle zu empfinden. Und das für eine sehr, sehr lange Zeit.

„Was auch immer sie dir gesagt hat, am liebsten würde ich ihr den Kopf abreißen“, murmelt Jason mir ins Ohr.

„Wie kommst du darauf, dass es etwas Schlimmes war?“

Seufzend fährt er mir mit dem Daumen die Wirbelsäule entlang. „Du bist verspannt und stehst mehr neben dir, als ich es je zuvor erlebt habe.“

Ich rümpfe die Nase. „Ich stehe nicht neben mir.“ Doch, genau das tue ich. Als ich ihn groß ansehe, wird mir endlich klar, warum Jason heute früh noch so konsterniert war. Es ging nicht nur darum, dass ich ihn nicht zum Spiel begleite. Stöhnend drücke ich den Kopf fester gegen seinen Oberkörper.

„Okay, sorry, ich bin eine Idiotin.“ Mit einem bemüht heiteren Lächeln sehe ich zu Jason auf. „Herzlichen Glückwunsch zum achtzehnten Geburtstag. Möge alles Glück der Welt mit dir sein.“

Schnaubend küsst er mich. „Das hast du schön auswendig gelernt.“

„Bist du sauer?“

Kurz zögert er. Dann ein Kopfschütteln. „Nicht auf dich, nein. Ich frage mich nur, was sie dir erzählt hat. Oder was sie von dir verlangt.“ Dass ich mit deinem besten Freund rumknutsche, damit er mir jedes noch so dunkle Geheimnis verrät. Dabei gibt es nur ein Problem. Ronan sieht vielleicht aus wie ein hohles Model, aber er ist nicht dumm. Nie im Leben rückt er mit der Sprache raus, bevor wir verheiratet sind und zwei Kinder haben.

So weit werde ich es unter keinen Umständen kommen lassen. Nach maximal vier Wochen ist Schluss, Ende. Außerdem schlage ich den Vorschlag ohnehin aus. Soll sie sich doch irgendwen anderes suchen. Es gibt viele Mädchen, die würden ihr linkes Bein dafür geben, an Ronan ranzukommen. Die gleichen, die über seine schönen Augen und den muskulösen Körper und die perfekt gestylten Haare schwärmen wie verliebte Teenager.

Keine von denen würde auch nur eines seiner Worte hinterfragen. Deswegen will Doktor Warren mich haben. Weil ich Ronans Charme nicht blind erlegen bin.

„Ich werde es dir erklären“, schwöre ich Jason. Allerspätestens, wenn Ronan ihm die Sache unter die Nase reibt. Beim besten Willen, ich habe noch nie verstanden, warum zwei so unterschiedliche Charaktere so höllisch eng befreundet sind. Die Beziehung zwischen Ronan und Jason erinnert mich teilweise fast an eine dieser klischeehaften Frauenfreundschaften, die nur dem Zweck dient, dass die eine die andere glänzen lässt. Unabsichtlich. Das Problem ist nur, dass Jason Ronan in nichts nachsteht. Er ist ebenso muskulös, fast genauso groß, meiner Meinung nach sogar attraktiver als Ronan. Nicht auf diese kantige, sexy Art und Weise, sondern auf eine, die viel tiefer geht und mir viel mehr von einem Menschen offenbart, dessen Herz der reinste Ort von allen ist.

Möglicherweise hält Ronan sich Jason so nah, um Jason klein zu halten. Keine Ahnung. Ich muss Männer nicht verstehen.

„Warum nicht jetzt?“, wispert Jason und sieht mich aus großen Augen an.

„Weil ich dir nicht wehtun will.“

„Und wenn du es mir morgen sagst oder nächste Woche oder nächsten Monat, ändert das dann etwas daran?“ Nächsten Monat wäre es bestenfalls vorbei.

„Vielleicht?“ Niemand würde mir diese Lüge abkaufen. Er seufzt schwer und vergräbt das Gesicht an meinem Hals. Mir steigen die Tränen in die Augen. Ich bin so ein verräterisches Miststück, dass ich es auch nur in Erwägung ziehe, Doktor Warren diesen Gefallen zu erweisen. Sie hat meine größte Schwäche erkannt: meine Neugierde. Und verwendet sie rücksichtslos gegen mich. So wie es jeder von diesen gottlosen Ärzten täte.

„Dann lass es uns für heute vergessen“, sagt Jason leise. Seine Lippen wandern über meinen Kiefer. „Was würdest du heute gerne noch machen?“

„Das müsste ich dich eigentlich fragen, oder?“ Ich lehne mich ein Stück zurück und suche seinen Blick.

Jason versucht sich an einem Lächeln und scheitert kläglich. „Was hältst du davon, wenn wir uns rausschleichen und so lange wegbleiben wie möglich?“, fragt er mich rau. Ich verneine diesen Vorschlag immer. Mache ihn darauf aufmerksam, wie gefährlich diese Ausflüge sind und wie hart die Strafen, wenn sie auffliegen. Aber sollte ich mit Doktor Warren in dieser Hinsicht zusammenarbeiten, dann würde sie mir mehr schulden als nur einen Kaffee. Das Mindeste wäre es, unseren kleinen Ausflug nicht auffliegen zu lassen.

„Dann lass uns verschwinden“, wispere ich. „Ist es draußen warm genug, damit wir keine Jacke brauchen?“

Ungläubig zieht er die Brauen zusammen. „Ist das dein Ernst?“

Ich springe auf die Füße und biete ihm meine Hand an. Er lässt sich von mir auf die Beine helfen.

„Absolut. Man wird nur einmal achtzehn.“

Misstrauisch werden seine Augen schmal. „Hast du irgendwie heute den Pakt mit dem Teufel geschlossen?“

Ich zucke die Schultern und nehme Jasons Gesicht in beide Hände. Wie oft wird er mich noch so ansehen? So bewundernd, so liebend, als gäbe es nichts Kostbareres auf dieser Welt?

„Selbst wenn es so wäre, sollten wir die Zeit, die uns bleibt, dann nicht genießen?“

Eine steile Falte erscheint auf seiner Stirn. „Wenn uns das in Schwierigkeiten bringt und du sowieso schon …“

„Ich will mit dir heute da rausgehen“, sage ich. „Ich möchte endlich mal wieder aus diesen Mauern kommen und unter normale Menschen gehen, die mir nicht erzählen, dass meine Fähigkeiten total abgefahren sind. Oder unter Menschen, die mich begrüßen, anstatt eine weitere Blutprobe zu verlangen.“ Langsam entspannt Jason sich. „Lass uns heute für den restlichen Tag abhauen“, bitte ich, flehe ihn schon beinahe an. „Lass uns die Stunden genießen.“

„Das hört sich fast an, als würdest du mich morgen verlassen wollen.“

Ich werde diesem Wunsch nicht nachkommen. Ich schüttle den Kopf. „Du weißt, dass ich das nie könnte.“

Er holt Luft, ist kurz angespannt, dann lässt er sie zischend aus seinen Lungen entweichen. „Dann lass uns verschwinden“, flüstert er. „Irgendwohin, wo uns niemand findet. Wir müssten nie wieder zurückkommen. Lass uns untertauchen, wie zwei komplett durchgeknallte Teenager.“

Ich lache leise. Das ist der schönste Traum, den wir je hatten. Einfach verschwinden, dieser kranken Verantwortung entfliehen. Wenn sich nur eines der Colleges melden würde, alles wäre anders. Wir hätten eine Karte nach draußen. Dann müssten sie uns gehen lassen. Sie könnten uns noch immer überwachen, aber zu nichts mehr zwingen. Wir wären irgendwie frei.

Ich will nie wiederkommen. In diesem Augenblick bin ich davon überzeugt, dass wir uns da draußen durchschlagen könnten. Wir würden jobben, in irgendwelchen Notunterkünften wohnen. Das würde schon werden.

Und irgendwann würde die Klinik uns finden und die Strafe wäre schrecklich. Ich habe Gemunkel gehört über einen Jungen, der abhauen wollte. Sie haben ihm bei lebendigem Leibe das Hirn geröstet.

Als ich Doktor Warren darauf ansprach, hat sie das Gerücht nicht abgestritten.

„Ein paar Stunden sind doch schon ein guter Anfang“, sagt Jason.

Ich lasse zu, dass er mich mit sich über die Wiese zieht. Mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten wir tatsächlich die Erlaubnis den Komplex zu verlassen, gehen wir durch die Tür.

Dahinter fängt die echte Welt an. Direkt vor uns braust ein Auto viel zu schnell über die Straße. Der Gestank von Abgasen beißt mir in die Nase. Grinsend dreht sich Jason zu mir um.

„Was darf es sein? Eine Coke und dann mit der Bahn fahren?“

Meine Augen beginnen zu leuchten. „Was hältst du davon, wenn wir einfach über diese Brücken gehen, dann in dem U-Bahntunnel verschwinden und zu dem Stadion fahren. Ich weiß, es ist leer, aber du kannst mir erzählen, wie das Spiel gelaufen ist. Und du kannst es mir zeigen.“ Eine schwachsinnige Idee. Sie holt den verlorenen Vormittag nicht zurück, aber Jason grinst mich ebenso wahnsinnig an wie ich ihn.

„Das hört sich doch nach einem Plan an.“

Der Fahrer des nächsten Wagens hupt empört, als wir ohne richtig zu gucken über die Straße laufen. Diese Verrückten aus der Klinik, wird er sich sagen. Es hat schon einen Grund, dass man sie eingewiesen hat. Aber heute ist es mir das erste Mal egal. Es ist mir gleich, was die Menschen denken, wenn sie das Emblem auf meiner Brust entdecken und was sie über mein Staunen sagen.

Was kümmern sie mich schon? Wenn ich verrückt bin, zerstöre ich mir morgen mein schönes, heiles Leben. Wer weiß, vielleicht ist das vorläufig mein letzter Ausflug nach draußen und der letzte an Jasons Seite.

Ich sehe zu ihm auf, liebe dieses strahlende Lächeln, das er mir schenkt.

Seite an Seite hasten wir die Treppen hinab. Jason sorgt sich um die Karten. Die Bahn steht bereits im Gleis.

„Beeil dich!“, rufe ich ihm zu. Seine Antwort ist ein übermütiges Lachen.

Gerade als sich die Türen piepend schließen, drängen wir hinein in das Getümmel der Stadt. Pikiertes Schimpfen zu stark geschminkter Frauen und wütendes Gemurmel von Männern in Anzügen folgt, als wir uns durch die eng stehende Menge bis zu einem Fenster drängen, das keinem Sprayer zum Opfer gefallen ist. Die Hände fest gegen die Scheibe gepresst, sehe ich nach draußen. Warte darauf, dass die schwarzen, öden Wände der gigantischen, belebten Stadt weichen. Hoch in den Himmel strebende Gebäude, bis die Wolken ihre Spitzen fressen.

Menschen, die von A nach B hasten, Taschen über den Schultern.

Sie tragen die verschiedenste Kleidung, haben unterschiedliche Hautfarben. Ich sehe eine dunkelhäutige Frau in einem pinken Minikleid und grünen Schuhen. Als ich Jason aufgeregt auf sie aufmerksam mache, lacht er, deutet auf einen kleinen Jungen, dessen T-Shirt mit Ketchup verschmiert ist. Ebenso wie der Mund des Kindes.

Wir kommen viel zu früh am Ziel an.

Die Straße vor dem Stadion ist wie leergefegt, die Tore verschlossen.

„Wer zuerst drüben ist?“, wispere ich. Einen Moment zögert Jason, dann schenkt er mir sein übermütigstes Grinsen. Nie im Leben hätte er das unter normalen Umständen getan. Wir hätten uns eine andere Möglichkeit gesucht, um unsere Zeit zu verbringen. Hier gibt es so viel. Riesige Einkaufscenter, Parks, Kinos, Museen, Theater, Straßenstände. Es ist ein gigantisches, buntes Paradies.

Dass er über diesen Zaun klettert, beweist ein weiteres Mal wie gut er mich kennt. Dass er nur zu gut weiß, dass nicht alles gut ist. Mir zu liebe genießt er diesen Tag, gibt vor, es wäre alles in bester Ordnung. Dafür liebe ich ihn noch mehr, als ich es ohnehin schon tue.

Das Metall des Zaunes scheppert noch, als wir durch einen Seiteneingang huschen. Auf dem Boden liegen leere Popcorntüten und Becher. Ich kicke sie beiseite.

„Es war voll heute, oder?“, frage ich.

Einen Arm um meine Schulter schüttelt Jason den Kopf. „Voll ist die Untertreibung des Jahrtausends. Jeder Platz war besetzt.“

Er führt mich die metallenen Stufen hinauf, deutet auf unzählige leere Plätze. „Wo darf es sein?“

„Wo saßen denn du und Ronan?“

Sein Lächeln wird noch ein winziges Bisschen breiter. „Komm mit.“ Wir laufen die Treppen nach oben, machen einen schrecklichen Krach dabei. Es könnte uns kaum gleichgültiger sein.

Ich bin leicht außer Atem, als wir direkt unter dem Dach ankommen. Leise pfeife ich durch die Zähne. Der Ausblick ist gigantisch. Überall türmen sich Sitzreihen, eine um die andere, unzählige, fließen hinab bis zu einem winzig wirkenden, orangenen Feld in der Mitte.

„Ich wusste gar nicht, dass ich uns so coole Plätze besorgt habe.“

Er zieht mich fest an sich und macht ein zustimmendes Geräusch, ehe er mich durch die Reihe schiebt. Ungefähr auf halber Höhe drückt er mich in den einst weißen Plastiksitz und deutet in die Mitte. „Wir haben auf den rechten Korb gespielt. Also, dahin sollten wir spielen, aber irgendwie haben die Jungs immer nur den linken im Visier gehabt. Kannst du das glauben? Manchmal habe ich mich echt gefragt, wozu die bezahlt werden.“ Kichernd lege ich den Kopf auf seine Schulter.

„Vielleicht sind die anderen einfach viel zu nachdrücklich nach links gelaufen. Sie sind dem Herdentrieb erlegen.“

Lachend drückt er mir einen Kuss ins Haar. „Ich habe noch nie gehört, dass so viele Menschen auf einmal eine Mannschaft ausgebuht haben“, sagt er lachend.

Kichernd sehe ich auf das winzige Spielfeld, lausche Jasons Ausführungen, lache viel zu oft und an den unlustigsten Stellen, aber das ist mir egal.

Die staubige Luft gleitet in meine Lungen und das erste Mal seit Ewigkeiten fühle ich mich frei.

Es ist dunkel, als wir das Stadion verlassen. Tausend Lichter strahlen. Nicht vom Himmel, vom Boden.

„Danke für diesen Tag.“ Ich lächle Jason an. Die Ampel in der Nähe wirft grüne Schatten auf sein Gesicht.

„Immer wieder.“ Er lehnt sich zu mir, um mich zu küssen.

Eine Hand berührt meine Schulter. Erschrocken fahre ich herum und sehe in Spencers Augen. Was tut sie hier?

„Das musst du dir ansehen!“ Alles in meinem Bauch krampft sich zusammen. Sofort bin ich auf den Beinen, stolpere über eine am Boden liegende Decke und laufe Spencer nach, greife dabei nach meinem Mantel und dem Rucksack, mache mich bereit zur Flucht.

Aber sie führt mich nur zum Fenster und deutet nach draußen. „Siehst du das? Das ist Schnee, kannst du das glauben? Es schneit.“ Atemlos sehe ich sie an, noch halb in Jasons Armen auf einer belebten Straße, während die Straßenbeleuchtung seltsame Schatten auf uns wirft.

„Ich dachte, wir werden überrannt.“

Spencer rollt die Augen. „Muss denn alles, was hier geschieht, gleich schrecklich sein? Ein bisschen optimistischer bitte.“ Ich schweige. Warum? Weil sie mich aus einem Traum gerissen hat, der viel mehr war als eine Erinnerung?

Winter

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