Читать книгу Einer von ihnen - Celine Ziegler - Страница 4
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ОглавлениеAnnemarie Dorner
„Anne!“, rief meine Mutter nach mir und ich erschrak, wodurch ich meinen Blick von dem dunklen Wald, den ich von unserer Terrasse sehen konnte, losriss. „Wir essen, komm‘ rein, du weißt, dass du nicht alleine rausgehen sollst!“
Ich seufzte schwer.
Schon viele Jahre lebte ich beschützt und sollte von der Welt da draußen und was um uns herum passierte, nichts mitbekommen. Mein Vater und meine Mutter legten viel Wert darauf, dass Katharina und ich eine glückliche Kindheit haben sollten, was bedeutete: Der Krieg existierte nicht in unserer Familie. Wir durften kein Wort darüber verlieren, in die Schule gingen wir natürlich schon lange nicht mehr und Kontakt zu anderen Menschen, außer unserer Familie war strikt verboten. Wir sollten nichts von all dem Leid mitbekommen, um nicht verdorben zu werden, hörte ich Vater und Mutter einmal laut im Flur diskutieren.
Was sie jedoch nicht ahnten, war, dass Katharina und ich durchaus wussten, was sie taten und was in der Welt passierte. Natürlich wussten wir es. Vater meinte immer, dass diese ‚Phase‘ in unserem Land nicht schlimm sei, es könnte passieren, dass wir von anderen Ländern angegriffen werden, alles war okay, nichts zu befürchten, Katharina und ich seien sicher.
Doch sie logen. Und ich wusste, dass sie logen, weil Vater einer dieser Menschen war, die diese ‚Phase‘ unterstützte. Er war schon immer ein hochrangiger General, hatte viel zu sagen und schon mehrere Male habe ich ihn und seine Kollegen bei Gesprächen belauscht. Sie sprachen über Juden, Adolf Hitler und Länder, denen Deutschland demnächst den Krieg erklären würde. Nun bin ich siebzehn Jahre alt und schon lange hatte ich begriffen, dass mein Vater für Mörder arbeitete, und Menschen aus ihren Häusern abholen ließ, um sie ihrem sicheren Tod zuzuführen. Ich war mir nie sicher, wie ich mich ihm gegenüber verhalten und ob ich ihn dafür verurteilen sollte, denn er beschützte unsere Familie und gab alles, damit wir glücklich waren. Und ich liebte ihn. Schließlich war er mein Vater.
„Ich komme!“, rief ich meiner Mutter zurück und stand von dem Stuhl auf, der in einer geschützten Ecke stand.
Ich war oft hier und sah in die Ferne, weil ich wusste, irgendwo dort draußen waren Menschen, die gerade um ihr Leben kämpften. Seien es Deutsche, Amerikaner, vielleicht Briten. Sie waren dort und sie starben. Aber was ich auch wusste war, dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als uns Deutsche niederzuzwingen. Es war ein seltsames Gefühl mit der Tatsache zu leben, dass man in seinem eigenen Land dafür gehasst wurde, was man nun mal war.
Ich betrat unser großes Haus und der Kronleuchter in der Eingangshalle strahlte mir entgegen. Vater legte immer sehr viel Wert darauf, dass wir nobel lebten und es nichts gab, was uns fehlen könnte. Es gefiel mir nicht, doch Katharina, meine kleine Schwester, mochte es sehr. Ich fühlte mich in diesem riesigen Haus, viel zu klein und mickrig.
Katharina, Vater und Mutter saßen schon am gedeckten Tisch, als ich das Esszimmer betrat. Unser Essen wurde von Dienstmädchen serviert und ich setzte mich auf meinen Platz neben Katharina, die mich traurig anlächelte. Schon seit Ewigkeiten lächelten wir nicht mehr, weil wir glücklich waren, sondern einfach, um uns gegenseitig das Gefühl zu geben, dass wir nicht alleine waren. Es durften keine Freundinnen mehr zu uns kommen. Maria, das jüdische Mädchen, mit dem ich meine frühere Schulzeit verbrachte, war nicht mehr da. Vielleicht war sie, … aber diesen Gedanken verbat ich mir stets fertig zu denken.
„Anne, reichst du mir bitte die Bohnen?“, unterbrach mein Vater die Stille und ich nickte sofort und gab Katharina die Schüssel mit den Bohnen, damit sie diese an Vater weiterreichen konnte.
Die Stimmung am Tisch war tagtäglich angespannter. Seit Vater und Mutter wussten, dass Katharina und ich zu alt waren, um uns zu verstehen zu geben, dass das, was da draußen passierte, nicht schlimm war, gingen sie anders mit uns um. Sie wählten ihre Worte sehr genau aus, gingen all unseren Fragen bezüglich des Krieges aus dem Weg und sprachen oft über Belanglosigkeiten, wie das Wetter, das Obst an den Bäumen oder so etwas. Mein Vater war sowieso sehr selten Zuhause, weswegen wir nicht oft die Chance hatten mit ihm zu sprechen. Aber er war im Moment hier, warum, wusste ich nicht. Er wirkte sehr geknickt und Mutter auch. Katharina dachte, jemand aus unserer Familie sei krank und würde bald sterben, doch ich spürte, dass da mehr war. Etwas, das wir wieder einmal nicht wissen durften. Vielleicht etwas, das uns sagen sollte, dass er in nächster Zeit bei uns sein würde, weil er bald nie wieder bei uns sein würde. Das waren Dinge, die ich mir vorstellte, weil ich damit rechnen musste, dass er jeden Moment, in dem er nicht Zuhause war, sterben konnte. Oder umgebracht von unseren Feinden.
„Wie laufen eure Klavierstunden?“, fragte Vater, weil mal wieder keiner den Mund aufmachte, um sich zu unterhalten. Er hatte eine Narbe an seinem Kinn, die frisch war. „Kommt ihr gut voran?“
Katharina und ich nickten nur als Antwort. Es fiel uns oft schwer, so zu tun, als sei alles in Ordnung und ich war mir sicher Vater und Mutter merkten das. Unsere Situation war zu ungeklärt und wir vermissten unser altes, fröhliches Leben, indem wir rausgehen durften und mit Freunden spielten oder sie zu uns kamen. Es war nun mal einsam in diesem großen Haus.
„Anne hat ein neues Stück gelernt“, erzählte meine Mutter und lächelte Vater zu. „Sie beherrscht es perfekt.“
Mein Vater sah stolz zu mir herüber. „Das freut mich sehr, mein Kind. Spiel es mir nach dem Essen vor. Ich muss es unbedingt hören.“
Ich sah auf meinen Teller, während ich in meinen Kartoffeln herumstocherte. „So gut kann ich es noch nicht. Ich verspiele mich oft.“
„Das kann ich gar nicht glauben“, erwiderte mein Vater und versuchte den Eindruck zu erwecken, dass wir eine normale, glückliche Familie seien. „Du und deine Schwester, ihr seid beide Naturtalente.“
„Es wird sowieso nie jemand hören“, murmelte ich leise, worauf Katharina immer tiefer in ihren Stuhl rutsche.
„Wie bitte?“ Vaters Lächeln wirkte eingefroren.
„Ich habe nur etwas Unwichtiges vor mich hingemurmelt.“
Mutter sah mich auch schon unsicher an, denn sie wusste, wie empfindlich mein Vater werden konnte, wenn man unser Familienleben in Frage stellte. Sei es auch nur solch eine unwichtige Aussage.
„Wiederhol‘ es“, sagte er in einem ernsteren, aber dennoch ruhigen Ton.
Ich schüttelte ängstlich den Kopf und eine noch schrecklichere Stille trat ein. Wir hörten die große Uhr über dem Kamin ticken und sahen die Kerzen flackern. Ich wartete auf Vaters Wutausbruch, das kannten wir schon. Vater hielt es nicht lange aus, bevor er platzte.
„Anne, ich möchte, dass du dich wiederholst.“
Ein Druck bildete sich in meinem Hals und ich öffnete langsam den Mund. „Es wird … Es wird nie jemand hören.“
Vater schwieg für ein paar Sekunden und ich spürte seinen starren Blick auf mir. Es dauerte nicht mehr lange, dann wurde er auch schon lauter brüllte, dass ich gefälligst nicht so denken sollte und ich nicht verstand, wie gut wir es hier hatten. Die Welt da draußen sei schlecht und hier sind wir sicher, sagte er immer. Er bot uns alles und wir würden es nicht schätzen. Aber ich wusste, dass es die Wahrheit war, wenn ich sagte, dass mich nie jemand anders Klavier spielen hören würde, denn bevor das möglich sein würde, wären wir entweder alle tot oder auf ewig hier eingesperrt. Mein Vater würde niemals jemanden an uns ranlassen.
Noch bevor er etwas sagen konnte, hörten wir ein komisches Geräusch und alle schwangen ihre Köpfe zur Eingangstür. Es hörte sich an, als würde etwas oder jemand über unseren hölzernen Terrassenbelag laufen.
Niemand lief so spät abends über unsere Veranda, auch niemand, der uns besuchen wollen würde.
„Geht auf eure Zimmer“, befahl Vater und stand mit dem Blick zur Tür auf. Weil wir alle wie festgenagelt auf den Stühlen saßen, wurde er lauter. „Los, sofort auf eure Zimmer!“
Mutter stand auf und unsere Dienstmädchen kamen ängstlich angelaufen, als Mutter mit uns zu den Treppen huschte. „Habt keine Angst“, flüsterte Mutter uns zu, als Katharina schon die Treppen hochging und sie zur Haustür schaute. „Ihr wisst, was ihr tun müsst, ja?“
Ich nickte und folgte Katharina die Treppen nach oben. Ohne Worte ging sie in ihr Zimmer und ich in mein Zimmer. Ich nahm mir mein liebstes Haarband vom Nachtisch und öffnete meine Schranktür, um mich hineinzusetzen. Verstecken und abwarten, was passierte, so hieß es, wenn Geräusche zu hören waren, die wir nicht zuordnen konnten. Auf keinen Fall herauskommen und sich zu erkennen geben, das war wichtig. Noch nie ist etwas passiert, weswegen meine Angst mit jeder Sekunde weniger wurde, während ich mein dunkelrotes Haarband um meinen blonden Dutt band.
Doch dann kam sie wie eine Flutwelle, als ich Schüsse und lautes Geschrei hörte.
Ich kreischte vor Schreck leise auf und presste mich gegen die Rückwand des Schranks, drückte meine Knie enger an meine Brust. Es war klar, dass mehrere Leute in unser Haus gestürmt kamen. Ich konnte nicht ausmachen, wie viele es waren, aber es klangen etliche Stimmen zu mir herauf.
Sachen zerbrachen. Türen wurden auf- und zugeschmissen. Unsere Dienstmädchen kreischten.
Die Eindringlinge schrien auf Englisch, aber in meinem Schrank sitzend, konnte ich die Worte nicht verstehen.
Mein Herz pochte so wild wie noch nie, ich hörte ein lautes Rauschen in meinen Ohren, es übertönte beinahe die Stimmen von unten. Mein Atem ging schnell, als Schritte die Treppe hochrannten. Ich dachte daran, was gleich passieren würde und malte mir schon die schlimmsten Szenarien aus, als sie oben ankamen.
Und dann dachte ich an Katharina. Sie saß genauso wie ich in ihrem Zimmer und versteckte sich im Schrank. Sie musste eine unheimliche Angst haben und ich konnte nicht für sie da sein. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zu ihr gerannt, doch das war uns strengstens verboten. Ich war wie versteinert und betete leise, dass sie uns nicht fänden.
Ich zuckte zusammen, kniff die Augen zu, als meine Zimmertür mit einem lauten Knall aufgeschmissen wurde. Sie sollten uns nichts tun, sie sollten uns nichts tun, bitte …
„Hier ist auch niemand!“, rief eine männliche Stimme und ich hörte, dass zwei weitere Personen mein Zimmer betraten. Sie waren Amerikaner, ich konnte es an ihrer Aussprache hören.
Schritte liefen langsam durch mein Zimmer. „Typisch deutsches Mädchenzimmer. Sieh dir die vielen Bücher an.“
„Ja“, sagte einer und ich hörte, wie mein Bücherregal aggressiv ausgeleert wurde. „So ein Dreck gehört verbrannt. Wenn ich diese Sprache schon sehe, wird mir ganz schlecht.“
Vom anderen Zimmer rief jemand, weswegen zwei Leute fluchend aus dem Raum gingen.
Weil ich spürte, wie ich vor Panik begann zu wimmern, hielt ich mir die Hand vor den Mund und betete immer weiter, als ich wieder langsame, schwere Schritte in meinem Zimmer hörte. Sie stoppten vor meinem Bücherregal und dann an meinem Schreibtisch.
Ich verbat mir zu denken, dass Mutter und Vater tot sein könnten.
Die Schritte kamen meinem Schrank immer näher und mit jedem Schritt raste mein Herz wilder.
Noch ein Schritt.
Noch einer …
Dann stand dieser Jemand genau vor meinem Versteck und ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange rang.
Bitte, er sollte einfach weggehen. Ich betete so innig wie noch nie.
Aber meine Hoffnung starb, als die Schranktür aufgezogen wurde.
Mit angehaltenem Atem und schmerzhafter Furcht in der Brust hielt ich meinen Kopf nach unten und presste zitternd meine Beine enger an mich, um mich kleiner zu machen. Ich wollte unsichtbar werden, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war. Er würde mich sehen und er würde mir wehtun.
Es vergingen ein paar Sekunden, in denen nichts passierte. Er starrte mich nur an. Ich roch Rauch.
Doch dann hörte ich, wie er sich bewegte und etwas nach mir ausstreckte. Ich kniff weiterhin die Augen zusammen und zuckte zusammen, als ich etwas Kaltes, Metallisches an meinem Kinn spürte. Mein Gesicht wurde langsam angehoben und ich spürte, wie tränennass meine Wangen waren. Ich hatte solche Angst, es war unmöglich es zu beschreiben, als mir klar wurde, dass dieses kalte Etwas eine Schusswaffe war, als ich die Augen langsam öffnete.
Ich sah an der Jacke des Mannes nach oben in sein Gesicht und er blickte direkt in meines. Durch die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Brauen bildete, erkannte ich, dass er überlegte, ob er mich erschießen sollte.
Es waren meine letzten Sekunden, ich fühlte es.
Es war auf einmal so still, dass ich seinen Atem hörte.
Wieso tat er es nicht einfach? Er könnte mich sofort erschießen, wieso zögerte er? Es war eine Qual, auf den Tod zu warten. Wollte er mich leiden sehen?
Langsam nahm er die Waffe von meinem Kinn und schob sie nachdenklich in die Revolvertasche an seiner Hüfte.
Er ließ mich am Leben? Ich konnte mich nicht einmal darüber freuen, denn ich musste abwarten, was als Nächstes passieren würde. Seine Meinung konnte er schnell ändern, noch war der totbringende Moment nicht vorbei. Überlebt. Deshalb blieb ich zusammengekauert sitzen und sah ihn ängstlich von unten an.
Unser Vater hat uns von klein auf schon Englisch beigebracht. Ich sprach diese Sprache vielleicht nicht ganz so fließend wie meine Muttersprache, aber die folgenden Worte, die plötzlich aus seinem Mund kamen, waren für mich gut zu verstehen: „Ich habe jemanden gefunden!“
Ich war so überfordert mit der Situation, dass ich nicht mal reagieren konnte, als er nach meinem Arm griff und mich brutal nach oben zog. „Los, raus da.“
Stolpernd kam ich inmitten des Zimmers zum Stehen und er schmiss krachend die Schranktür zu. Nicht wissend, was nun auf mich zukam, betrachtete ich ihn mit einer Mischung aus Angst und Trotz und wischte mir die Tränen hastig von den Wangen.
„Wir haben auch ein kleines Exemplar gefunden“, kam eine Stimme vom Flur und ich sah einen weiteren kurzhaarigen Mann, der Katharina unbarmherzig am Haarschopf gepackt hatte. Sie weinte und versuchte sich zu wehren.
„Nicht!“, stieß ich aus und wollte sofort zu meiner kleinen, hilflosen Schwester. Ich wurde am Kragen meines Kleides zurückgehalten, wodurch ich stolperte und gegen den Mann prallte, der mich eben noch erschießen wollte. „Lasst sie los“, wimmerte ich, wusste aber, es hatte keinen Zweck. Ich war fest im Griff dieses Kerls und konnte nichts dagegen tun. „Bitte!“
„Was sagt Pattons?“, fragte der Mann hinter mir den anderen.
„Runterbringen“, antwortete der andere. „Er dreht gerade vollkommen am Rad, deswegen erst mal runterbringen.“
Als wäre ich irgendein Tier, stieß der Mann mich vor sich her, worauf ich gezwungen war zu laufen. Ich hatte das Gefühl sein Griff in meinem Nacken wurde mit jedem Schritt fester, es tat höllisch weh, doch ich versuchte es zu ignorieren und konzentrierte mich auf Katharina, die unsanft von dem Anderen die Treppe hinuntergezogen wurde.
Mir stockte der Atem, als ich einen toten Körper auf dem Boden vor uns im Eingangsbereich liegen sah.
„Mama!“, kreischte Katharina, als auch sie unsere tote Mutter entdeckte. Sie versuchte sich los zu reißen, um zu ihr zu gelangen, aber noch bevor ich etwas zu ihr sagen konnte, holte der Mann aus und klatschte ihr mit heftigem Schwung die Rückhand auf die Wange.
Sie flog zu Boden und ich schrie weinend auf. Ich wollte sie halten und an mich pressen, trösten, sie beschützen, aber ich hatte keine Chance gegen den Grobian hinter mir. Dieser griff noch fester zu und ich bekam vor Schmerz kaum Luft. Er fluchte etwas, was ich nicht verstand, da mein ganzer Körper sich auf Katharina konzentrierte. Die Leiche unserer Mutter, wollte ich nicht sehen. Es schnitt mir mit einer Schärfe ins Herz, die kaum zu ertragen war. Katharina wurde erneut grob am Haarschopf auf die Beine gezogen wurde und hielt sich schluchzend die Wange.
„Mann, haltet einfach eure verdammten Fressen, dann wäre doch fast alles gut!“, meckerte der Mann, der eben noch meine Schwester schlug. Er zog sie aggressiv durch die Ausgangstür und sie stolperte die zwei Stufen, auf den Vorgartenweg hinunter. „Verflixte Weiber!“
Vor unserem Haus hatten sich mehrere Männer in amerikanischen Uniformen versammelt. Ich schätzte, es waren ungefähr dreißig, die wild umherredeten und wütend zusahen, wie Katharina und ich inmitten von ihnen auf den Boden geschubst wurden.
Der Mann, der mich festhielt, stellte sich zu den anderen Männern, die sich um uns herumstellten und uns abschätzig betrachteten, wie Zirkustiere.
Sofort rappelte ich mich etwas auf, um Katharina in den Arm zu nehmen. Sie schmiss sich an mich und ich drückte ihren Kopf beschützend an meine Brust. Sie weinte und jammerte, doch es blieb mir nichts anderes übrig, außer ihr über den Kopf zu streicheln.
„Ich will nicht sterben“, schluchzte sie in den Stoff meines Kleides. „M-Mama … Sie war …“
„Psscht“, machte ich zitternd und versuchte gleichzeitig mich selbst unter Kontrolle zu bringen. „Alles wird gut.“
Allerdings war gar nichts gut. Wir knieten inmitten dutzender Männer, die uns begafften und sich noch nicht schlüssig waren, ob wir ab Leben bleiben sollten, oder sie uns einfach wie unsere Eltern, in den Tod schicken würden. Ich fragte mich, wo mein Vater war. Er war nirgends zu sehen. Nicht lebendig, aber auch nicht tot. Wo war er nur?
„Na sieh mal einer an“, sagte einer aus der Runde und kam auf uns zu. „Was für ein hübsches Täubchen.“ Er hielt mir seine Waffe ans Kinn, um mein Gesicht zu ihm zu drehen und ich leistete vor lauter Angst keinen Widerstand. „Wenn der Major sagt, wir sollen sie killen, nehme ich sie aber vorher nochmal mit in eine stille Ecke.“
Ich schloss schluckend die Augen und dachte nur, dass das Gott verhüten möge.
Nun glitt er mit seiner Waffe von meinem Gesicht über meine Seite zu dem Saum meines Kleides, um es nach oben zu ziehen. „Seht euch dieses …“
„Nein, bitte“, wehrte ich mich und robbte mit Katharina im Arm von ihm weg. Er sah mich vernichtend an. „I-Ich will das nicht …“
Plötzlich lachten alle Männer laut auf, während ich Katharina ganz festhielt, um meine eigene Angst zu mildern.
„Sie will das nicht“, lachte der Mann spottend, der seinen Spaß mit mir trieb. Mit einem Mal griff er nach meiner Kehle und zog mich grob auf die Beine. Er starrte mir mit so einem Hass in die Augen, dass mir fast entging, wie er aus dem linken Ohr blutete. „Weißt du, was ich nicht will, du dummes deutsches Mädchen? Auf Dreck wie dich hören. Jetzt bist du gar nichts mehr, also …“
„Pete“, unterbrach ihn einer der Männer und kam auf ihn zu. Er legte seine Hand auf dessen Schulter. Er hatte kurze, braune Haare. „Lass sie los. Pattons soll das klären.“
Der sogenannte Pete starrte mich weiterhin vernichtend an und noch immer kämpfte ich damit, Luft zu bekommen und seine kräftigen Hände von meinem Hals zu lösen.
„Tu, was James sagt“, ertönte eine weitere Stimme und mir fiel auf, dass es der Mann war, der mich mit festem Griff bis hierhergebracht hatte. Er setzte sich auf die Treppen unserer Terrasse und ließ den Blick schweifen. „Wo ist Pattons?“
Ich wurde widerwillig losgelassen und fiel unsanft zu Boden, weil meine Knie zu schwach waren, um mich zu halten. Augenblicklich krabbelte Katharina wieder auf mich zu und ich hielt ihre Hand fest in meiner und hoffte so in der Lage zu sein, ihr ein bisschen Beistand zu geben. Hals kratzte und schmerzte, doch das war jetzt nicht wichtig.
Pete, der mich gewürgt hatte, warf mir einen letzten verachtenden Blick zu, dann gesellte er sich zu den anderen Männern, die uns weiterhin anstarrten.
„Wie konnte das passieren?“, schrie mit einem Mal eine laute, tiefe Stimme und ein Mann im mittleren Alter, kam aus unserem Haus gestürmt. Er kam schnurstracks auf Katharina und mich zugelaufen und richtete eine Waffe auf uns. „Sagt mir, wie das passieren konnte! Wo ist Dorner?“
Ich war so schockiert von alledem, dass ich nichts sagen konnte. Ich verstand nicht, was er meinte, ich verstand gar nichts mehr, deshalb konnte ich ihn nur sprachlos ansehen.
„LOS!“, brüllte er wutentbrannt und drückte mir seine Waffe diesmal direkt an die Stirn, worauf meine Angst riesengroß wurde. Er sah aus wie von Sinnen und die lange, tiefe Narbe auf seiner Glatze, ließ sein Gesicht noch gefährlicher aussehen. Ich wusste, er würde nicht zögern, uns abzuknallen. „Wo ist euer beschissener Vater?“
„I-Ich weiß es nicht“, war das Einzige, das ich darauf antworten konnte, denn ich wusste es wirklich nicht. Ich hatte angenommen, sie hätten ihn, genauso wie Mutter, erschossen, doch anscheinend war dem nicht so.
„Gott verdammt!“ Der ältere Mann schoss vor Wut in die Wiese direkt neben mich und ich presste mich enger an Katharina. Die Waffe wurde wieder auf uns gerichtet und wir zitterten unaufhaltsam. „Ihr wisst es, ihr Drecksplagen! Ihr wisst es oder“ – Er griff Katharina grob am Haar und zog sie gewaltsam aus meinen Armen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Nun hielt er ihr die Waffe an den Kopf und starrte mich hasserfüllt an. „Oder ich schieße deiner kleinen Schwester ihren beschissenen Schädel weg. Und du“ – Er beugt sich warnend zu Katharina, die verängstigt ihren Kopf von seinem weghielt und wimmerte – „Du wirst mir sagen, wo er ist oder ich schieße deiner großen Schwester den Kopf weg.“
Vor lauter Verzweiflung kniete ich mich hin und bettelte ihn vergeblich an. „Bitte … Wir wissen nicht, wo er ist, Gott, bitte …!“ Mir flossen die Tränen wie Bäche über die Wangen und ich beugte mich nach vorne auf den Boden, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen und Unterwürfigkeit zu zeigen. Ich würde alles tun, um Katharina zu schützen. „Bitte …“
Es war kein Laut mehr zu hören, außer dem kalten Märzwind, der durch die kahlen Bäume strich. Katharinas stockender Atem durchbrach ab und zu die Stille. Es war Folter nicht zu wissen, ob man den nächsten Moment überleben würde. Doch ich wusste, wenn sie Katharina töten würden, würde ich sie anbetteln, mir auch das Leben zu nehmen.
„Steh auf.“ Der ältere Mann stieß Katharina harsch in meine Richtung und ich fing sie auf, damit sie sich nicht die Beine aufschlug. „Ich sagte, steh auf!“
Ich reagierte, ohne nachzudenken und tat sofort, was er sagte, stellte mich kerzengerade hin, strich schnell mein verschmutztes Kleid glatt und sah ihm direkt in die Augen. Was kam nun?
Sein rechtes Auge war etwas zugekniffen und ich bemerkte, dass er dunkelbraune Augen hatte. Er kam mir drohend gefährlich einen Schritt näher, hielt seine Waffe zu Boden. „Nun“, sagte er ruhig, „dann gibt es nur eine Möglichkeit.“ Ein bitteres Lächeln spiegelte sich auf seinen Lippen und dann sah er nach links. „Leutnant Theodore. Herkommen.“
Ein blonder, schmaler junger Mann kam aus der Masse getreten und sah unwissend zwischen dem Mann und mir hin und her. Er sah zu nett aus, um einer von ihnen, diesem barbarischen Haufen zu sein.
„Hier her“, befahl der Mann unfreundlich und zeigte mit seinem Finger zwischen Pete, diesem Grobian, und mir hin und her. „Los, Bewegung!“
Der junge Mann tat wie ihm befohlen und stellte sich zwischen den älteren und mich. Noch bevor ich diesen Soldaten überhaupt in die Augen sehen konnte, wurde ihm von dem älteren die Waffe in die Hand gedrückt und auf mich gerichtet.
Ich schluckte schwer und ich schwor, der Junge tat es mir gleich, als er mir nun das erste Mal in die Augen sah.
Doch sein Befehlshaber hielt weiterhin seine Hand in die Höhe, direkt in meine Richtung und raunte ihm zu: „Erschießen ist die einzige Möglichkeit. Nicht wahr, Leutnant?“
Mein Herz raste schneller und mir blieb nichts anderes übrig, außer in die Augen des blonden Jungens zu sehen und zu beten, dass er es nicht tun würde. Ich wollte nicht sterben, nicht so, nicht hier, nicht vor Katharina.
„Major“, traute sich der junge Mann zu sagen, nahm aber nicht seinen Blick von mir, „sie ist – sie hat damit doch nichts zu tun.“
Sein Major sah mir nun auch ins Gesicht und sein rechter Mundwinkel hob sich, als ich leise „Bitte“ hauchte. „Du hast Recht, Junge. Ich habe eine viel bessere Idee.“
Nun wurde die Waffe auf meine kleine Schwester gerichtet, die stocksteif neben mir stand und nach meiner Hand griff.
„Erschieß sie“, raunte der böse, alte Mann und brachte meinen Herzschlag zum Stolpern.
Was? Sie sollte erschossen werden? Himmel, bitte, das durfte nicht passieren. Nicht Katharina, nicht meine kleine Schwester. Ich zog sie enger an mich heran und sie vergriff sich in meinem Kleid. Mehr blieb uns nicht übrig.
Die Spannung war entsetzlich.
„Sie ist noch ein Kind“, sagte der Blonde mit zitternder Stimme und man sah ihm an, wie sehr er litt. „Ein Kind.“
Doch sein Major wollte die angestaute Wut, die die Flucht meines Vaters in ihm hinterlassen hatte, an uns auslassen. Deshalb verlangte er brüllend: „Verdammt, erschieß sie, oder ich lasse dich hier verrotten! Sie sind deutscher Abschaum!“ Als der junge Mann sich immer noch nicht regte, riss ihm sein Befehlshaber die Waffe aus der Hand. „Dann mach ich es eben selbst!“
Er schubste ihn zur Seite und ich drückte Katharinas Kopf hastig an meine Brust und drehte ihm den Rücken zu, damit ihr nichts geschah. Ich kniff meine Augen zu und wartete auf den Tod.
Der Schuss ertönte gemischt mit einem Schrei.
Für einen kurzen Moment dachte ich, es wäre vorbei, doch es war noch lange nicht vorbei.
Ich öffnete meine Augen wieder, drehte mich aber nicht um, als ich eine feste Stimme hörte. Diese gehörte jedoch nicht dem Major.
„Gott verdammt, Schluss damit!“, rief jemand wütend, was mich dazu brachte, mich langsam umzudrehen, damit ich sehen konnte, wie der Mann, der mich im Schrank fand, die Hand des Majors zu Boden drückte, damit er nicht auf uns schießen konnte. Er riss ihm die Waffe aus der Hand und ging einen Schritt zurück in unsere Richtung. „Der Plan war Dorner zu finden und nicht seine Töchter zu erschießen! Das hier ist Bullshit!“
Ich kam nicht mal auf den Gedanken Katharina loszulassen, stattdessen starrte ich nur den breiten Rücken des Mannes an, der sich vor uns stellte und den Major anschrie.
Der Major starrte den Mann mit den Zähnen knirschend und mit tödlichen Blicken an und spannte sich komplett an. „Du verdammter, kleiner Bastard“, presste er hervor. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich das Sagen habe und nicht du?“
„Das ist mir vollkommen egal“, antwortete dieser mutig. „Wir sollten lieber Dorner suchen und nicht unsere Zeit derart verschwenden!“
„John“, mischte sich der Kurzhaarige ein, der vorhin James genannt worden war. Er hob beruhigend die Hände. „Mach dich nicht unglücklich und stell dich zur Seite.“
„Deine große Fresse, geht mir dermaßen auf die Nerven“, meckerte der Major und zeigte auf zwei seiner Männer. „Los, schafft ihn mir aus dem Weg, wir müssen endlich weiterkommen.“
Die zwei Männer gingen nur mit Widerwillen auf den Mann namens John zu und wollten ihn ergreifen, doch dieser wehrte sich und versuchte seine Arme zu entreißen, was ihm aber misslang.
„Verdammt, das hier ist reine Zeitverschwendung!“, fluchte John und ihm wurde gleichzeitig die Waffe entrissen und dem Major zugeworfen. „Dorner kann bereits in alle Himmelsrichtungen verschwunden sein, denkt ihr nicht nach?“
Der Major ließ sich nicht von dem Tumult aus der Ruhe bringen, sondern zielte mit der Waffe seelenruhig auf uns. „Es wird Zeit den Dreck zu beseitigen“, sagte er. „Sieh genau hin, Montgomery.“
„Ich weiß, wo unser Vater ist!“
Der Major hielt inne und sofort kehrte wieder Ruhe ein, sogar der Mann, der uns beschützte, war still, sah mich nur perplex an.
Mit zitterndem Atem sah ich eingeschüchtert zu dem Monster, das uns erschießen wollte und hoffte, dass das hier kein Fehler sein sollte. „I-Ich weiß, wo er ist“, wiederholte ich leise und hielt Katharina fest in meinen Armen.
„Wo?“, fragte der Major gefährlich leise und hob die Waffe an. „Sag mir wo.“
„I-Ich kann euch hinbringen.“
Er kniff die Augen skeptisch zu. „Wieso sollte ich dir das wohl jetzt glauben? Du lügst mir was vor, um am Leben zu bleiben.“
Der Kloß in meinem Hals nahm langsam ab und ich versuchte meiner Stimme einen ehrlichen und festen Klang zu geben, auch wenn es in mir drinnen ganz anders aussah. „Tötet uns, wenn ich mich irre.“ Wir hatten sowieso nichts mehr zu verlieren. Mutter war tot, Vater war fort. Was hätte ich sonst tun sollen, um unser Leben zu retten?
Konzentriert ließ der Major den Revolver sinken, sah mir forschend in die Augen. „Du wirst uns also zu ihm bringen.“
Ich nickte und hoffte, dass er mir diese Lüge glaubte, denn es war ab sofort unsere einzige Möglichkeit.
Er ließ seinen Blick über die um uns herumstehenden Kerle gleiten und steckte seine Waffe weg. „Männer. Wir haben ab sofort weibliche Gäste.“
Zu meinem Entsetzen jubelte die Menge lauthals los, als hätte ihr Anführer ihnen ein Geschenk gemacht. Mir wurde klar, dass die nächsten Tage, Wochen oder vielleicht sogar Monate die schlimmsten meines Lebens werden würden. Ich hatte keine Ahnung, wo ich sie hinführen sollte, denn ich wusste nicht, wo Vater war, ich wusste nur, dass ich meines und Katharinas Leben retten wollte.
Katharina und ich sahen uns verunsichert um, als die Gruppe sich auflöste und die Männer sich in lockerer Stimmung verteilten. Was würde bloß auf uns zukommen?
„Wir schlagen hier unser Lager für kommende Nacht auf, holt alles her was wir brauchen. Dann verbringen wir erst mal die Nacht hier“, befahl der Major mit zur Schau gestellter guter Laune. „Los, hopp, hopp, ich habe Hunger!“
Katharina sah mich an und flüsterte zu mir hinauf und flüsterte: „Anne, was hast du getan?“
Ich traute mich nicht, sie anzusehen. „Ich weiß es nicht.“