Читать книгу Einer von ihnen - Celine Ziegler - Страница 5
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ОглавлениеJohn Montgomery
Ich entriss mich Walt und Pete, die mich laut Befehl von Pattons noch festhielten und konnte meinen Augen nicht trauen, als ich zusah, wie er gelassen Dorners Terrasse hinauflief und im Haus verschwand. Einige Männer folgten ihm, wahrscheinlich in der Hoffnung gutes Essen zu finden und vielleicht auch die ein oder andere Schnapsflasche. Ich presste, vor Wut so abgekanzelt worden zu sein, den Kiefer aufeinander.
Es machte mich verrückt so elendig machtlos zu sein. Für mich machte es keinen Sinn die Dorners Töchter mit uns nehmen, da es für mich offensichtlich war, dass die Ältere log. Sie wusste ganz und gar nicht, wohin ihr Vater geflohen war. Was wollte Pattons mit ihnen anfangen? Sie waren Last, die wir nicht gebrauchen konnten, doch ich war nur ein Rekrut, was sollte ich schon sagen?
„Flipp nicht aus“, unterbrach James meine Hasstiraden im Kopf, während ich meinen Mitsoldaten nachsah, die Pattons aufs Wort gehorchten, als hätten sie keinen eigenen Kopf zum Denken. James schien meinen Groll zu spüren und kam einen Schritt auf mich zu. „Du weißt doch, Wut hat selten etwas besser gemacht.“
Mir blieb nichts anderes übrig, außer meine rechte Faust noch mehr zu ballen, bevor ich explodierte. „Ich bringe ihn um“, presste ich durch meine Zähne. „Wenn er denkt, dass er …“
„Jonathan.“ James legte seine Hand ruhig auf meine Schulter und ich sah ihn böse an. Sein Ausdruck war sanft, so wie immer, wenn er mir helfen wollte, mich nicht in den Zorn hineinzusteigern. „Er ist nicht Pepper. Beruhige dich.“
Ich entriss ihm unsanft meine Schulter und ging hinter das Haus, wo wir unser Marschgepäck abgelegt hatten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die zwei Mädchen in das Haus gebracht wurden. Sie weinten, aber es war klar, dass sie sich selbst in diese vertrackte Lage gebracht hatten. Sie hätten einfach nur ihren Mund halten sollen, dann wären sie mit Sicherheit davongekommen. Nun würden beide erfahren, was sie davon hatten.
„Komm schon“, mischte sich nun auch Theo ein, der mir genauso wie James gefolgt war, doch ich ignorierte alle beide, während ich mir meine MG und meine Tasche schnappte. „Was ist das Problem? Es sind nur irgendwelche Mädchen und außerdem ist ein bisschen Abwechslung in unserem Haufen, auch nicht schlecht.“
„Gott, Theo, nimm dich zurück“, mahnte ihn James in seiner typischen Art und ich ging an beiden vorbei, nicht ohne Theo absichtlich anzurempeln, um meinen Standpunkt klarzumachen. Ich war wütend und das musste raus. Egal was meine Freunde davon hielten.
„Führ dich nicht so auf“, rief mir James hinterher. „Sie werden ja nicht ewig bei uns bleiben und dann läuft alles sowieso wieder wie geplant.“
Ruckartig drehte ich mich um und trat James einen Schritt entgegen, worauf er und Theo stehenbleiben mussten. „Wie geplant?“, knurrte ich. „Absolut gar nichts läuft wie geplant.“ Ich zeigte auf das große Haus, aus dem schon das Gegröle der Männer kam, die sich amüsierten. „Dieser Kerl da drin, der war nicht Teil des Plans.“ Ich kam James noch einen Schritt näher und versuchte nicht mal ruhiger zu werden. „Er sagt uns nicht, was wir hier suchen oder was wir von Dorner wollen. Er sagt uns ausschließlich, was wir tun sollen und benimmt sich wie das letzte Arschloch. Und jetzt? Jetzt sollen wir für ihn springen, damit er was? Damit er … Ich will mir gar nicht ausmalen, was die Männer mit ihnen anstellen!“ Schnaubend drehte ich mich weg und lief die Treppen der Veranda nach oben. „Er hätte sie einfach erschießen sollen, das wäre das leichtere Übel für sie gewesen.“
„Dann sollten wir auf sie aufpassen“, sagte James während er mir ins Haus folgt.
Ich lief durch die große Eingangshalle, in der mir ein Kronleuchter in die Augen blendete und sah links in einem großen Raum, wie sich alle um den Major versammelten. Sie lachten und rauften sich beinahe um die Essensvorräte in der Küche. Sie benahmen sich wie eine Horde Wilder, die tagelang nichts Gescheites zu essen bekommen haben. Es war absurd hierzubleiben, aber ich hielt meinen Mund. Es hatte keinen Zweck mit Pattons zu diskutieren.
Ich ging den Flur weiter nach hinten in Haus, öffnete die Tür irgendeines Zimmers, in dem man das Gegröle der Mannschaft nicht so deutlich hörte und sah, dass sich Walt und einer der Javad hieß, es sich gerade bequem machen wollten, doch ich machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. „Raus. Das Zimmer ist für mich reserviert.“ Mein Ton musste die Drohung, die sich dahinter verbarg, ganz deutlich machen, denn Javad ging einfach ohne große Worte hinaus. Ihm war es egal, er würde irgendwo anders in diesem großen Haus einen Schlafplatz finden.
Walt, der sich gerade sein Unterhemd ausziehen wollte, blitzte mich sauer an. „Was? Angekratztes Ego, nur weil dich der Major dumm dastehen lassen hat?“
Ich atmete gestresst durch. „Walt, verpiss dich.“
Walt holte Luft, um mir etwas zu entgegnen, aber als er den Zorn in meinen Augen sah, wollte er lieber doch den drohenden Streit vermeiden, nahm, vor sich hin murrend, seine Jacke vom Stuhl, blieb aber nochmal stehen. „Übrigens sind wir glücklich darüber, dass uns Pattons weibliche Gesellschaft verschafft hat. Halt dich also zurück, ansonsten hast du nicht mehr nur Pattons als Feind, klar?“
Ich ignorierte sein Geschwätz und wand mich endlich aus meiner Jacke. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Walt mir noch einen verachtenden Blick zuwarf und dann verschwand. Er und ich hatten schon oft Meinungsverschiedenheiten, denn auch er war in Peppers Platoon, doch wir versuchten uns aus dem Weg zu gehen. Zumindest meistens.
„Die haben echt eine noble Hütte“, stellte Theo fest, während er sich im Zimmer umsah. „Dorner ist war wohl ein gut betuchter Mann.“
„Natürlich, schließlich ist er einige Ränge über uns. Im deutschen Offiziersrang“, meinte James und schloss die Tür hinter sich, weil die Lautstärke im Haus immer penetranter wurde. „Schade nur, dass immer die Falschen den Reichtum bekommen. Es sei ihm gegönnt, wenn er den Menschen helfen würde. Wenn er zum Beispiel Arzt geworden wäre.“
Als ich mich aufs Bett setzte, merkte ich sofort, dass es ungewohnt war, auf solch einem weichen Untergrund zu sein. Seit Monaten schlief ich auf der Erde oder in Feldbetten, aber diese Nacht könnte königlich werden. Ich griff mir meinen Revolver, um ihn zu säubern und nachzuladen. „Nur, weil jemand Arzt ist, heißt es nicht, dass ihm alles gegönnt ist“, antwortete ich James und legte die Waffe auf das Nachtschränkchen neben dem Bett. „Auch Ärzte können Bastarde sein. Jeder kann es.“
Mein Freund stellte sich ans Fenster und sah hinaus. „Es sei ihnen gegönnt, wenn sie Leben retten und sich alles in allem um die Menschen sorgen.“ Er sprach mit ernster Tonlage, wie immer, wenn es um solch ein Thema ging. Er selbst war Sanitäter in unserem Platoon und mit seinem starken Glauben, kam Pessimismus bei ihm nicht zum Zug. Niemand war wirklich böse, niemand war wirklich gut, so seine Meinung. Zumindest redete er es sich ein.
„Was glaubt ihr, machen sie mit den Mädchen?“, fragte Theo nach einer stillen Weile.
James verzog sein Gesicht. „Ich will es gar nicht so genau nicht wissen. Aber wenn sie heute noch verschont werden, dann sind sie sicher morgen oder in den nächsten Tagen nicht mehr sicher vor diesen Unholden.“
Ich starrte auf meinen Revolver und versuchte nicht darauf zu antworten. Themen wie diese, hasste ich abgrundtief. Es war mittlerweile nichts Neues mehr, dass die Männer in unserem Zug schlecht mit dem weiblichen Geschlecht umgingen. Die Frauen, die wir unterwegs trafen, behandelten sie wie Frischfleisch, dass es zu unterwerfen galt. Mich interessierte nicht mehr, was sie mit irgendwelchen Mädchen taten. Ob sie sie nun zwangen mit ihnen zu schlafen oder ihnen unterwegs die Kleider vom Leib rissen, es war zwecklos, etwas dagegen zu unternehmen, das lernte ich schon vor langer Zeit. Ich war heil froh, dass Theo und James sich größtenteils raushielten. Theo hatte zwar in den letzten Jahren viele Frauenbekanntschaften, aber nicht, weil er sie zwang, sondern weil er die Frauen umgarnte und sie ihn einfach liebten. James lebte stets stetig enthaltsam, da er in den Staaten seine Verlobte hatte und diese junge Frau so sehr liebte, dass er sie niemals betrügen.
Theo stemmte seinen Kopf in die rechte Hand an der Stuhllehne, spielte mit einem Faden an seiner Hose. „John. Glaubst du wirklich, es wäre besser gewesen, sie direkt zu erschießen?“
Ich war in Gedanken, und hörte nur mit einem halben Ohr hin. „Was?“
„Du meintest vorhin, es wäre weniger übel, wenn man sie direkt erschossen hätte, weil sie jetzt mit diesem Haufen mitlaufen sollen.“ Wiederholte Theo. Nachdenklich schürzte er die Lippen. „Und ich habe es nicht getan, weil ich ein Feigling bin.“
„Das habe ich aus Wut gesagt“, versuchte ich Theo zu beruhigen, weil ich wusste, wie sensibel er war, seitdem Major Pepper tot war. Ich legte mich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter meinem Kopf, sah an die weiße, hohe Decke. „Es war gut, dass du sie nicht erschossen hast.“
„Ich dachte nur …“ Theo seufzte und stand auf. „Ach, egal.“ Er sah zu James. „Wir sollten unsere Sachen ins Haus bringen, bevor irgendein Drecksack sich daran vergreift.“
James nickte und stand ebenfalls auf, während Theo schon das Zimmer verließ. Er ging zur Tür und dreht sich nochmal zu mir um, während ich weiter bewegungslos an die Decke sah und dabei daran dachte, wie abscheulich es sein konnte, in einem Haus zu sein, in dem der Feind lebte, dessen Frau von uns ermordet wurde und dessen Töchter einem ungehobelten Haufen Amerikaner ausgeliefert wurden. „Soll ich ein Gebet sprechen?“, fragte James, bevor er ging.
„Heute nicht“, antwortete ich abwesend und spürte einen tiefen Kopfschmerz. „Ich brauche Ruhe.“
„Ich werde mit Theo zu den anderen gehen und vergiss nicht deine Verletzung zu säubern. Eine Blutvergiftung kann sich schlimm entwickeln.“
Ich sagte nichts darauf, weil er mir solche Sachen täglich erklärte, doch ich beschwerte mich nicht. James war ein fürsorglicher Mensch, er kümmerte sich um jeden, das wollte ich ihm einfach lassen. Er war viel zu weich für das Leben als Soldat, und deshalb suchte er sich Aufgaben, denen er gewachsen war und wo er seine Menschenliebe einsetzen konnte. Er hatte er es verdient, wenigstens einmal am Tag der zu sein, der er damals mal war. Und zwar dann, wenn er sich um mich oder Theo oder irgendwen sorgte, wenn das Land still war.
Ich schlief schnell ein, wachte aber alle paar Minuten auf, weil ein Geräusch mich aufschrecken ließ oder die Umgebung zu ungewohnt war. Erst viel später wurde es komplett ruhig im Haus und nachdem ich schon gefühlte zwei Stunden aus dem Fenster schaute und den Vollmond betrachtete, stand ich auf, um mir ein wenig die Füße zu vertreten. Schlaf war eine Seltenheit geworden, man gewöhnte sich jedoch schnell daran und deshalb war mein Körper schnell wieder auf den Beinen.
Ich ging aus dem Zimmer, durch den langen Flur bis zur Terrasse. Leise schloss ich die Tür hinter mir, um niemanden auf mich aufmerksam zu machen, denn ich wollte nur allein sein und mit niemandem reden.
Doch kurz nachdem ich aus der Tür in die Nacht heraustrat, sah ich das ältere der zwei Mädchen eingekauert auf der Treppe sitzen.
Sie zitterte und lehnte sich nach vorne über ihre Beine. Sie reagierte gar nicht, auf die Geräusche, die ich verursachte, und drehte sich nicht zu mir um, derweil ich mich an die Treppe neben sie stellte und in die Dunkelheit sah. Ich blickte zu ihr hinab, als ich merkte wie sie von mir wegrückte und sich gegen den einen Pfosten presste. Ihre Furcht verstand ich, aber ich konnte kein Mitgefühl für sie aufbringen, das hatte ich schon lange abgeschafft.
„Wo ist deine Schwester?“, fragte ich sie und beobachtete ein kaum erkennbares Reh, das auf den weiten Feldern vor dem Waldrand ein paar Grashalme suchte.
„Sie schläft“, antwortete das Mädchen mit zitterndem Atem, traute sich aber noch immer nicht zu mir aufzusehen.
„Wo?“ Ich sah mich um, ich konnte ihre kleine Schwester nirgends sehen.
„Drinnen …“
Meine Stirn runzelte sich. „Du lässt sie alleine im Haus?“
Das Mädchen hob ihren Kopf etwas an und drehte ihn mir so zu, dass ihre blonden Haare das erste Mal nicht ihr Gesicht verdeckten. „Ich muss die Nacht draußen verbringen … Sie haben mir verboten, bei ihr zu bleiben.“
Ich setzte mich ebenfalls auf die Treppe, hielt aber genügend Abstand von ihr, da sie sichtlich Angst vor mir hatte und sich noch mehr gegen den Pfosten drückte. Sie spielte nervös mit ihrem Haar und strich es immer wieder nervös nach hinten. Um ihr Handgelenk war ein rotes Tuch gebunden, das vorhin noch um ihren Pferdeschwanz zusammenhing. Die Umgebung wurde vom Mond beleuchtet und ich wusste jetzt schon, dass heute Nacht nicht mehr an Schlaf zu denken war. Vollmond brachte mir die schlaflosesten Nächte.
Es fiel kein Wort zwischen uns, während ich über eine noch halbwegs frische Narbe unterhalb meines Daumens rieb. Ich bekam sie, als Pepper starb und nun ist sie die einzige Erinnerung an dessen Tod. Es ist nicht so, als würde mich sein Ableben sonderlich schockieren, Es war ganz klar, dass er nicht ewig leben würde, er stellte sich immer vor seine Männer gegen den Feind, und da lebte es sich nun einmal sehr gefährlich. Dennoch würde ich abertausende Peppers gegen Pattons eintauschen. Major Pattons würde noch für viele Probleme sorgen und da spielte die Tatsache, dass er ein junges Mädchen bei diesen kalten Temperaturen nachts alleine vor ihrem eigenen Haus die Nacht verbringen ließ, nur die kleinste Rolle.
„Es war ein Fehler“, sagte ich nach einer Weile zu dem Mädchen und ließ die Hand locker über mein Knie hängen.
Sie versuchte mich unauffällig anzuschauen, aber ich spürte es trotzdem.
„Bei uns zu bleiben. Es war ein ziemlicher Fehler.“
Sie atmete tiefer ein und aus, umfasste ihre Beine und machte sich kleiner. „Ich weiß, …
Leutnant.“
Ich sah sie an. „Was? Wie hast du mich genannt?“
„Ä-Äh, ich dachte …“ Sie ging meinem Blick aus dem Weg. „Major Pattons meinte, ich solle jeden mit dem Dienstgrad ansprechen. Als Zeichen des …“
„Als Zeichen des Respekts“, vollendete ich ungläubig ihren Satz und lachte bitter, sah wieder in die Ferne. Das Reh hatte sich schon in der Dunkelheit des Waldes in Sicherheit gebracht. „Gott.“ Ich spürte, dass all das nicht gut ausgehen würde. Für ihn und für mich nicht.
„Ja“, hauchte das Mädchen leise und strich unsicher mit ihrem Finger über den Saum ihres schmutzigen, hellbraunen Kleides. „Aber … Ich … Du kannst Annemarie zu mir sagen.“
Ich konnte noch keinen Sinn hinter diesem Gespräch ausmachen, deswegen sagte ich nichts darauf, sondern stützte meine Ellen auf die Knie. Hier zu sitzen und mit ihr zu sprechen, war genauso sinnlos, wie der Fakt, dass sie und ihre kleine Schwester nun einen Teil unseres Zuges darstellen sollten. Sie würden keine vierundzwanzig Stunden mit uns überleben.
Als sie wieder zu zittern begann und ihr Kinn auf ihre Knie legte, betrachtete ich sie. Sie war nicht sonderlich alt, war aber auch kein Kind mehr. Ich schätzte sie auf siebzehn, vielleicht auch schon achtzehn, auch wenn ihr langes blondes Haar sie jünger wirken ließen. Eine typische Deutsche, so würde man sie in unseren Worten beschreiben, doch diesmal tat ich es nicht. Irgendetwas an ihr war anders.
Ich sah hinter uns zum Haus und ging sicher, dass niemand wach war und uns nun auch niemand hören konnte. Alles war still, ich hörte keine Schritte, keine Stimmen, Licht brannte auch nicht. Deswegen drehte ich mich wieder nach vorne und sagte: „Du kannst gehen.“
Ich sah mich zum Haus um. Pattons hatte ein paar von den Jungs als Nachtwache abgestellt. Natürlich hatten ihre Kameraden ihnen auch von den Getränken etwas nach draußen gereicht, damit sie nicht zu kurz kamen. Die Wachen liefen durch die helle Nacht, deutlich erkennbar, um die Hausecke in den dahinter liegenden Garten. Zu diesem Zeitpunkt waren wir von ihnen nicht zu sehen, also sagte ich leise zu Annemarie: „Du kannst gehen.“
Erst war sie still, dann hob sie verwundert ihren Kopf. „Wie bitte?“, fragte sie mit leiser Stimme nach.
Ich orientierte mich schnell in der Umgebung und suchte den besten Weg, um möglichst unauffällig von hier verschwinden zu können. „Geh links herum um das Haus und dann verschwinde. Ich werde wegsehen.“
Nun sah sie mich direkt an und ich sah sie an. Ihre Augen waren, trotzdem das Mondlicht die einzige Lichtquelle war, unmenschlich hell, ich hatte noch nie so tiefblaue selten solche blauen Augen gesehen. „Du lässt mich einfach … gehen?“
„Ich gebe dir eine Chance, ja. Pattons ist ein Idiot, wenn er ausschließt, dass du abhaust, obwohl er dich alleine hier draußen lässt. Aber tu es schnell.“
Sie schwieg für ein paar Momente, in denen ich ihren Blick auf meinem Profil spürte, dann sah sie ebenfalls nach vorne, spielte mit ihren schlanken Fingern. „Nein.“
Eigentlich überraschte mich ihre Antwort nicht. „Nein?“, fragte ich trotzdem und wandte mich ihr wieder zu.
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich lasse Katharina nicht allein. Lieber erfriere ich hier draußen.“
Ich schaute von ihrem Gesicht zu ihren Händen, dann wieder zu ihrem Gesicht. Gut möglich, dass ich genau das Gleiche entschieden hätte, wenn ich in ihrer Situation gewesen wäre. Wenn ich an Lisbeth und George dachte und mir vorstellte, sie wären in diesem Haus gefangen und ich säße hier draußen und hätte die Chance zu flüchten, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass ich es tun würde sehr gering.
Deswegen vermutete ich: „Anscheinend weiß Pattons das.“
Sie nickte wortlos.
„Dennoch. Ich gebe dir keine zweite Chance“, bot ich es ihr das letzte Mal an und stand auf. „Und ich kann dir nicht versichern, dass du es nicht bereuen wirst.“
Als Antwort umklammerte sie nur ihre Beine und legte ihren Kopf auf ihre Knie. Sie würde nicht gehen, das stand fest. Ich wusste nicht, was Pattons und die anderen Männer mit ihr und ihrer kleinen Schwester bereits angestellt hatten und ganz bestimmt würden sie auch in Zukunft nicht zimperlich mit ihnen umgehen. Aber mir war das zu diesem Zeitpunkt einfach egal.
Deswegen öffnete ich die Haustür und sah von dem Blutstreifen, der vom Flur über die Veranda, die Treppen herunter, zu ihr, die direkt daneben saß. Ich nahm an, dass es das Blut ihrer Mutter war, dessen Leiche nach draußen geschliffen wurde. Scheiße, dieses Mädchen musste hier draußen verdammt leiden.
„Annemarie“, nannte ich sie das erste Mal beim Namen. Sie wandte sich nicht zu mir, aber ich bemerkte ihre Aufmerksamkeit. „Die Kissen auf dem Stuhl.“
Sie hob wieder etwas ihren Kopf und sah nach rechts zu dem Stuhl, der dort stand. „Was?“
Ich trat durch den Türrahmen. „Wahrscheinlich wird es für lange Zeit die letzte Nacht sein, in der du Schlaf bekommen kannst. Niemand wird dir morgen die Chance geben, dich auszuruhen.“ Und dann lief ich durch den Flur zurück in das Zimmer, das ich mir als Quartier für diese Nacht ausgewählt hatte. Ich hörte durch das gekippte Fenster ihre leisen Schritte und wie sie die Kissen von dem Stuhl nahm.
*
Ich lud meine Thomson mit Munition, um mich für den heutigen Tag vorzubereiten. Die Nacht war sehr kurz, ich schätzte, wir hatten vielleicht sechs Uhr früh am Morgen. Es war noch dunkel, aber die ersten Amseln machten durch lautes Singen schon auf sich aufmerksam. Die Männer hatten in der vergangenen Nacht die Alkoholvorräte im Keller des Hauses entdeckt und dem Wein, Likör und Schnaps ziemlich gut zugesprochen. Man sah den meisten den dicken Kopf an, den sie sicher auch spürten. Der Krieg machte das. Väter, die nie Alkohol anrührten, versuchten damit das Gehirn zu vernebeln. Sie hofften, die Brutalität und Unmenschlichkeit, wie natürlich auch die Verletzten und Toten irgendwie ertragen zu können, ohne wahnsinnig zu werden.
„Es wird nicht verheilen, wenn du es jedes Mal wieder aufkratzt“, mahnte James Theo, dessen Wunde am Hinterkopf er untersuchte. Diese hatte, die er sich während unseres letzten Hinterhalts zugezogen hatte. „Versuch weniger Mützen zu tragen, damit Luft darankommt, das habe ich dir schon etliche Male gesagt.“
„Man, du sagst mir ständig irgendwelche Sachen“, murrte Theo. „Kleb es doch einfach zu und dann hat sich das erledigt.“
Ich saß neben den beiden auf der Treppe und sortierte die Sachen in meinem Rucksack.
„Damit ist es nicht getan und das weißt du. Jonathan!“
Ich brummte auf, als ich mir das Taschenmesser, das mir mein Vater einmal zum Geburtstag schenkte, wegsteckte. „Es wird ihn nicht umbringen. Der Kopf ist ja noch dran.“
„Hast du deine Verletzung gestern Abend noch behandelt?“, ging James nicht auf meine Aussage ein.
„Ja.“
„Hast du nicht.“ James legte seine Utensilien weg und rief mir noch zu, während er die Treppe runter hinter Theo, herlief. „Ich will nicht, dass du an einer Blutvergiftung stirbst, nur weil du dich nicht darum kümmerst. Normalerweise sollte ich es nähen, das weißt du.“
Ich verdrehte die Augen, konzentrierte mich aber weiter auf meine Arbeit. „Ich hatte schon schlimmere Verletzungen und nie bin ich dran gestorben. Habe ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass ich alles überlebe?“
James schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist nicht lustig. Ein Messerstich ist nicht lustig. Lass mich wenigstens nachsehen.“
„Du führst dich wieder auf wie seine Mutter“, spottete Theo und lehnt sich feixend zurück um, uns zuzusehen. „Komm mal runter, wer weiß, ob er den heutigen Tag überhaupt überleben wird und dann juckt ihn diese blöde Wunde sowieso nicht mehr.“
Theo und ich lachten leise und James verschränkte, absolut nicht amüsiert, die Arme und ging zu weiteren Männern, die Hilfe brauchten. Er murmelte „Verdammte Besserwisser“ vor sich hin und verschwand.
„Ich habe letzte Nacht einen Brief geschrieben“, sagte Theo, als James nicht mehr zu sehen war und zog einen Zettel aus seiner Brusttasche.
Ich warf einen Blick darauf und zog mir meine braune Jacke an, richtete den Kragen. „Wieso?“
Er sah nachdenklich auf den Brief und reichte ihn mir schließlich. „Ich will, dass du ihn meinen Eltern gibst, wenn du wieder in Amerika bist.“
Meine Augenbrauen schoben sich zusammen und ich sah von dem Brief, den er mir entgegenhielt zu ihm. „Ist das dein Ernst? Ein Abschiedsbrief?“
„Ja, ich weiß, wie du darüber denkst, aber tu es einfach, für mich.“ Er faltete den Bogen klein zusammen und schob ihn mir Brief in die Brusttasche meiner Jacke. „Ich habe ziemlich viel nachgedacht, seitdem Pepper tot ist und deswegen habe ich ihn geschrieben. Außerdem wirst du diesen Dreck hier überleben, da bin ich ganz sicher, und deshalb gebe ich ihn dir.“
Ich band mir meine Schuhe fester zu und konnte nicht glauben, was er da von sich gab. Theo drehte immer mehr am Rad. „Gott, du bist so unerträglich sentimental geworden.“
Unsere Aufmerksamkeit wurde von Gelächter gefangen genommen und wir sahen nach rechts in den Hof des Hauses, in dem das Mädchen, Annemarie, so hieß sie, gerade die Hände vor dem Oberkörper zusammengebunden bekam. Man machte sich über sie lustig, während ihre kleine Schwester unglücklich danebenstand und bereits ein Seil um die Hüfte gebunden hatte, was von Walt gehalten wurde. Es war ein so jämmerlicher Ausblick.
„Jetzt werden sie schon behandelt wie Tiere“, brummte Theo neben mir. „Oder wie Sklaven. Das ist gegen jede Soldatenehre.“
Ich machte die Schnallen an dem Rucksack zu und sah rüber zu Annemarie. Diese stand mit müden Augen, gebundenen Händen mitten im Hof und es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.
„Gewöhn dich dran. Erinnerst du dich noch an Emma?“
Er nickte und verzog sein Gesicht. „Natürlich. Wie könnte ich das vergessen?“
Emma war ein deutsches Mädchen von vielleicht neunzehn Jahren, das es genau zwei Tage bei uns ausgehalten hatte. Sie war nicht aus Zweckgründen, bei uns, sondern einfach, weil jemand sie aufgegabelt hatte und seinen Spaß wollte. Mindestens fünf Kerle von uns hatten sie misshandelt, bis sie starb. Und dass sich dieses Rudel weibstoller Männer, die nur ganz selten ihren natürlichen Trieb befriedigen konnten, nicht an Annemarie oder gar an der kleinen Schwester vergreifen würden, war auszuschließen.
„Komm, es geht los“, unterbrach ich Theos sorgenvollen Blick zu unseren Gefangenen und erhob mich. „Bereit ein paar Deutsche zu tyrannisieren?“
Er seufzte und stand ebenfalls auf. „Vierundzwanzig Stunden am Tag.“