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Annemarie Dorner

Wir liefen bereits zwei Stunden durch die Wälder und Felder und ich war mir nicht sicher, wohin uns dieser Weg führte.

Meine Füße schmerzten höllisch, meine Handgelenke waren bereits aufgescheuert, weil der Strick darum an meiner Haut rieb. Ich hatte Durst, traute mich aber nicht, nach etwas zu trinken zu fragen. Ungefähr eine Stunde nach dem Aufbruch, kam was kommen musste. Major Pattons wollte schließlich wissen, wo genau mein Vater sich versteckte. Mir kam nur Halle in den Sinn. Dort haben wir Vater manchmal besucht. Also hoffte ich ihn dort wiederzufinden. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass er uns von diesen Menschenschindern befreien und diese Unmenschen zur Hölle jagen würde.

Viele Informationen über den möglichen Aufenthaltsort unseres Vaters hatte ich allerdings nicht. Er hat ja zu Hause nicht viel erzählt, nur das was ich durch lauschen erfahren habe, konnte mir jetzt vielleicht nützlich sein. Diese ganze Sache war riskant und ich musste schlau sein, um Pattons dazu zu bringen, uns nicht schon vor Halle tot in einen Graben zu werfen.

Ich starrte auf den die harte Erde unter meinen Füßen und hoffte, dass wir bald eine Pause machen würden. Katharina litt auch, sie wurde immer mal mit dem Seil, das um ihre Hüfte gebunden war, ruckartig nach vorne gezogen, weil sie zu langsam war. Sie dachten gar nicht daran, dass sie doch erst ein zwölfjähriges Mädchen war. Jeder von denen war es gewohnt, über weite Strecken zu laufen.

„Anne“, sagte sie leise zu mir und ich merkte sofort, wie der Mann, der sie am Seil hielt, anstarrte. „Ich habe Durst.“

Ich seufzte. „Ich weiß, …“

„Was hat sie gesagt?“, fragte der Mann mich unfreundlich, weil er kein Deutsch verstand.

„Sie ist durstig“, antwortete ich ihm und hoffte, dass er uns einfach etwas zu trinken geben würde. „Wir sind beide durstig.“

„Sag ihr, sie soll ihren Speichel trinken und warten, bis wir Rast machen.“ Er zog an dem Seil von Katharina, worauf sie wimmerte. „Wir sind doch keine verdammte Bar.“

Weil Katharina ihn nicht verstand, sah sie mich an und in ihren traurigen Augen konnte ich lesen, wie sehr sie etwas zu trinken benötigte. Es schmerzte mich, sie so zu sehen, vor allem weil ich so entsetzlich hilflos war.

„Mein Gott“, sprach eine Stimme hinter uns und ein Mann, ich glaubte mich zu erinnern, dass er James hieß, lief neben mich und öffnete seine blecherne Trinkflasche. „Gib ihnen etwas zu trinken, wenn sie durstig sind, ihr quält sie schon genug.“

Sprachlos sah ich auf die Flasche, die er mir freundlich entgegenhielt. Es war seltsam, dass einer von ihnen so nett zu uns war, während wir von einigen anderen schon zu oft rumgeschubst worden waren.

„Nun trink schon“, sagte er mit warmer Stimme und drückte mir die Flasche in die Hand, sodass ich sie gerade so halten konnte. „Wir haben genug für dich und deine Schwester.“

Mit leiser Stimme bedankte ich mich, nahm die Flasche mit den zusammengebundenen Händen entgegen und übergab sie zuerst Katharina die Flasche, damit sie trinken konnte. Dieser Mann hatte nette Augen und wirkte nicht so verbittert, wie viele von den Kerlen. Natürlich hatten alle diesen gewissen Ausdruck im Gesicht, der signalisierte, was sie alles durchmachten, aber er war nett. Er war einfach nett.

„Bald machen wir eine Pause“, erklärte er uns, während Katharina gierig das Wasser trank. Auf seinem Helm erkannte ich ein rotes Kreuz auf weißen Untergrund, was auf einen Sanitäter hinwies. Vielleicht war er deswegen so fürsorglich. „Es dauert nicht mehr lange und dann könnt ihr euch ausruhen.“

Ich nickte schüchtern lächelnd, um ihm für das Wasser zu danken. Doch er sah starr nach vorne und sein Lächeln gefror.

Der Feldweg, auf dem wir liefen, endete und wir standen plötzlich auf einer großen Wiese. Und erst als ich fast ausrutschte und mich gerade noch so fangen konnte, wandte ich den Blick von Katharina, und der Wasserflasche ab, dem Untergrund, auf dem wir standen, zu.

Ich stand mit meinem Fuß in den Fäkalien einer Leiche.

„Oh Gott“, keuchte ich entsetzt und hob den Kopf.

Was ich als nächstes erblickte, war das Grauenvollste, das ich bis zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben sah. Mehrere halbverweste Leichen. Die Wiese war matschig, die Körper der Menschen lagen schon länger dort. Es musste ein Kampf stattgefunden haben, und diese armen Seelen, waren die Verlierer. Der Geruch, den ein teils verbrannter Kübelwagen ausströmte, mischte sich mit dem Geruch nach Blut, und Tod. Mir wurde kotzübel von dem Anblick und dem Gestank, der über diesem Ort lag. So roch Tod und Verderben. Hass und Krieg. So roch es also.

„Weiterlaufen“, meckerte ein Mann hinter mir und ich wurde nach vorne geschubst, weil ich vor Schreck meine Schritte abgebremst hatte.

Mit einem Mal war die Stimmung, mit der wir durch dieses Feld liefen, erdrückend. Niemand sprach, alle liefen geradeaus, niemand sah sich um oder interessierte sich für die Männer, die tot am Boden lagen. Ich konnte meine Augen nicht davon nehmen, mich entsetzte all dies zu sehr.

„Sieh in den Himmel“, bat ich Katharina zu. „Bitte, sieh in den Himmel.“

In ihren Augenwinkeln hatten sich Tränen angesammelt, aber sie tat was ich ihr empfahl.

Ich wusste zwar, dass das Land, in dem wir lebten, nicht mehr das war, was es einmal für uns gewesen war und ich wusste auch, dass der Krieg viel Furchtbares anrichtete, doch das … das ist schlimmer, als alles, was ich mir in meiner Phantasie hätte vorstellen können. Als wir mit vorsichtig gesetzten Schritten an einem Pferd vorbeiliefen, dass aufgeschlitzt worden war, wurde mir klar, dass wir der Wahrheit des Übels ins Auge schauten. Im Krieg gab es keine Grenzen, kein Benehmen, keine Achtung, keinen Respekt vor der göttlichen Schöpfung.

„Was sind das für Menschen?“, traute ich mich James zu fragen, der angestrengt seinen Kopf oben hielt.

„Deutsche und Amerikaner“, erklärte er sachlich und wagte sich ebenfalls über das Feld zu sehen. Man merkte ihm an, dass er nicht halbwegs so schockiert war, wie ich. „Ob es hier jedoch einen Sieger gab, scheint fraglich zu sein.“

Ich schluckte schwer und der Brechreiz in meinem Magen wurde immer stärker. Noch nie wurde ich mit etwas Derartigen konfrontiert, wie sollte ich so etwas jetzt und zukünftig verkraften? Ich hatte das Gefühl, dass mein Bild von dieser Welt eine Fälschung war. Vater hatte mir nie hiervon erzählt.

Mein Blick saugte sich auf dem Gesicht eines Jungens fest, dessen eine Kopfseite nicht mehr vorhanden war. Einfach weggeschossen. Aber die andere Hälfte zeigte das Antlitz eines jungen Mannes. Nicht viel älter als ich. Und schon tot.

Doch plötzlich griff etwas nach meinem Fußgelenk und ich fiel kreischend nach vorne.

Ein Mann, Deutscher oder Amerikaner, hatte mein Fußgelenk umgriffen, wollte mich festhalten, darauf aufmerksam machen, dass er noch am Leben war. Verzweifelt und fast irre vor Angst, starrte ich ihm in die weit aufgerissenen Augen. Dann ertönte ein Schuss.

James beugte sich herunter, um mich aus dem Griff des Toten zu befreien, und mir wieder auf die Beine zu helfen. Die zusammen gebundenen Hände hinderten mich daran, alleine aufzustehen. Das Letzte was ich sah, bevor James mich weiterzog, war das blutige runde Loch zwischen den Augen des Mannes.

Lieber Gott, wie sollten wir das hier überleben?

„Vorsicht vor den Halbtoten“, sagte John, der seine Handfeuerwaffe nachlud, mit seinen langen Beinen über die Leiche stieg und uns dann folgte. Es war wohl er gewesen, der den Schuss abfeuerte. „Das sind die widerlichsten.“

Ich hatte nichts zu sagen, ich wollte gar nichts darauf sagen. Ich wollte nicht so tun, als wäre das hier normal, denn das war es nicht. Für mich war es normal über eine bunt leuchtende Wiese zu laufen, die mit Blumen bewachsen war und nicht mit toten Leibern belegt. Und ich wollte nicht so tun, als wäre es normal, dass Menschen, die jahrelang mit mir im gleichen Land lebten, Kinder hatten und für ihr tägliches Brot hart arbeiteten, grundlos erschossen wurden. Ich wollte einfach aus diesem Albtraum aufwachen.

Katharina kam, soweit es ihre Fessel zuließ, zu mir gelaufen und umklammerte den Stoff meines Kleides. Die Kleine hatte schreckliche Angst, noch mehr als ich. Sie war doch noch ein Kind und sie sollte so etwas nicht sehen.

„Weiter“, befahl John, der nun vor uns lief, weil wir ziemlich weit von dem allgemeinen Zug zurückgeblieben waren. Er steckte seine Waffe erst gar nicht mehr weg, war immer schussbereit und rechnete womöglich mit weiteren Unterbrechungen.

„Immer mal die Augen auf den Boden richten“, sprach wieder jemand an meiner Seite. Es war der Blonde. „Die zweite der Hauptregeln.“

Mit heftig pochendem Herzen und der schrecklichen Erwartung, dass wieder jemand nach meinem Fuß greifen könnte, frage ich: „Was ist Regel Nummer eins?“

Aber noch bevor er mir antworten konnte, ertönte ein zischendes Geräusch und der Mann, der neben John lief, ruckte plötzlich nach rechts und fiel wortlos zu Boden.

„Runter!“, schrie John, ohne zu zögern und mit einem Mal ließen sich alle einfach ins hohe Gras fallen und drückten sich fest auf die Erde.

Ich wusste nicht wohin, begriff aber schnell, dass jemand aus der Ferne auf uns geschossen hatte. Hektisch sah ich von links nach rechts, suchte Katharina, konnte sie aber nicht erfassen. Noch bevor ich nach ihr rufen konnte, tauchte auch schon John vor mir im Gras auf und zog mich geduckt am Arm, hinter das verbrannte Auto.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Katharina mit James ebenfalls hinter das Auto gekrabbelt kamen und Theo bereits hier war. Die anderen Männer aus der Truppe versteckten sich umherrufend und ich begann zu zittern, während ich den Rahmen der Autotür umfasste, weil ich irgendeinen Halt brauchte.

„Theo“, sagte John zu dem Blonden, der sich auf den Boden legte und seine Waffe vor sich aufstellte, um hindurchzusehen. „Wie viele?“

„Es ist nur einer“, sagte dieser, während John seine Schnellfeuerwaffe von seiner Schulter nahm und vor seine Brust hielt. „Ich bin mir fast sicher.“

Fast? Willst du mich verarschen?“

Theo kniff sein rechtes Auge zu und schwenkte mit seiner Waffe konzentriert hin und her, bis er grinste. „Hab dich, Mistkerl.“ Langsam lud er nach. „Hey, James, glaubst du, ich schaffe es mit einem Schuss?“

James, der Katharina im Arm hielt, um sie in ihrer Starre zu schützen, funkelte ihn böse an. „Tu‘s einfach.“

„Immer so verärgert“, murmelte Theo und peilte wieder genau mit seiner Waffe an. Und drückte ab.

Der Schuss war nicht sonderlich laut, aber ich zuckte trotzdem zusammen, als hätte mich die Kugel getroffen. Ich wollte nicht dabei sein, während andere starben und ich wollte nicht dabei sein, während andere töteten. Es war alles falsch, all das war so unfassbar falsch.

„Pow“, machte Theo leise und sah konzentriert durch sein Visier, bis er sichergehen konnte, dass der Gegner keine Gefahr mehr war. „Für Amerika, du Flachwichser.“

„Alles okay?“, fragte James Katharina, die sich verängstigt in seine Jacke gekrallt hatte. Instinktiv hatte sie gemerkt, dass er einer war, der ihr nichts Böses wollte. Sie nickte als Antwort und er streichelte ihr über den Kopf, wofür ich ihm sehr dankbar war.

Mir wurde immer übler, während ich realisierte, dass solche Situationen Alltag werden könnten. Ich bemerkte, dass in dem Auto, hinter dem wir uns versteckten, noch ein Mensch jemand hinter dem Steuer saß. Der Mann war fast gänzlich verbrannt, aber in seinem Gesicht konnte ich noch die Nase den Mund, ein Stück der Wangen und ein Auge mit Brauen sehen.

Und schließlich überkam es mich. Ich drehte mich um und übergab mich neben dem Auto, weil es einfach zu viel wurde. Ich hatte nie damit gerechnet, ich hatte mit vielem gerechnet, aber mit diesem Grauen nicht. Meine Psyche war zu schwach hierfür. Ich war so unvorbereitet.

John hinter mir stand auf und ich wischte mir beschämt über den Mund, traute mich nicht mal mehr, aufzublicken. Es war mir peinlich, vor diesen fremden Männern.

„Ach, mach dir nichts draus“, munterte Theo mich auf und rappelte sich neben mir auf die Beine. Er hängte sich seine Waffe um die Schulter, als ich reuevoll aufstand. „Das ist mir am Anfang jeden Tag passiert. Frag John, das war eine Kotzorgie.“

„Danach kotzen ist okay“, meinte John und hängte sich die Waffe ebenso um die Schulter. „Mitten drin würde ich es lassen.“

Ich konnte gar nicht sagen, wie unangenehm mir diese Situation war, als die beiden hinter dem Auto hervortraten und ich ihnen mit James und Katharina folgte. Nun ging es mir noch schlechter als vorher.

„Ich habe etwas gegen deine Übelkeit“, sagte James, der während des Laufens das Seil um meine Hände durchschnitt. Blutige Handgelenke kamen zum Vorschein, weswegen er sie mit gerunzelter Stirn betrachtete und drehte. „Und gegen das hier habe ich auch etwas … Ich werde mit Pattons reden. Diese Seile müssen abgeschafft werden.“

Meine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen, als ich erschöpft sagte: „Danke … James.“

Er lächelte mich an und dann gingen wir weiter, vorbei an dem Mann, dem von Theo gerade das Leben genommen wurde.

James kniete sich seufzend neben ihn und öffnete die Brusttasche des Toten, als wäre es schon eine geübte Handlung. Er zog einen Zettel heraus und steckte ihn ein. Dann strich er ihm die Augen zu und flüsterte etwas, das ich aber nicht verstand.

„Hey, Annemarie“, sagte Theo zu mir und sah von dem Toten, der durch einen Kopfschuss starb, zu mir. „Regel Nummer eins ist das“ – Er klopfte sich auf den Helm, den er trug – „Diese Dinger sehen zwar scheußlich aus, sind aber echt nützlich.“

Major Pattons rief nach uns und John wandte sich an uns und legte seine Hand auf die Schulter von James, der noch die Hand des Toten hielt und weiterhin etwas vor sich hin flüsterte. „Komm, wir müssen gehen.“

James nickte nach einem ruhigen Moment und sah den Mann das letzte Mal an. Er machte mit seiner rechten Hand das Kreuz an seinem Kopf und da nn wurde mir klar, war er die ganze Zeit sprach. Er betete für ihn.

*


Während des ganzen Weges zu unserem Rastplatz, gelang es mir nicht, die momentane Situation zu realisieren. Mir fiel es schwer, mich auf den Weg zu konzentrieren, ich war erfüllt von Angst, das Einzige, dass mich beruhigte, war Katharina, die die ganze Zeit meine Hand hielt.

Mein Gehirn weigerte sich zu registrieren, dass wir Zeuge eines Mordes geworden waren und ich konnte nicht begreifen, wie grauenvoll all dies hier wirklich war. Ich wusste, ich würde niemals vergessen, was ich fühlte, als wir über das Schlachtfeld der toten Männer liefen, die für diesen Krieg starben. Der Nebel, der darüber schwebte, war, als würde er all die Seelen repräsentieren, die nun verlorengingen.

War es das, was Krieg wirklich tat? Er zerstörte Seelen, ließ Körper verwest auf dem Boden liegen?

War es das, was der Krieg mit uns anrichten würde?

Wir kamen an einer Wiese, hoch auf einem Berg an, wo sich die Soldaten die Rücksäcke von den Schultern rissen und sie zu Boden fallen ließen. Anscheinend begann hier unsere Rast. Ich hatte entsetzlichen Durst und mein Magen forderte trotz des Gesehenen, etwas zu Essen, außerdem machten meine Beine schlapp. So weite Strecken war ich nicht gewohnt, und die Vorstellung, welch langer Weg noch vor uns lag, ließ meine Kraft noch mehr absacken.

Theo und James, die schon die ganze letzte Zeit neben Katharina und mir liefen, klappten zwei Hocker auf, die sie aus ihren Rucksäcken zogen und stellten sie auf die Wiese. John setzte sich einfach zu Boden, genauso wie die meisten der Anderen.

„Setz dich“, bot James Katharina an, die verunsichert zu ihm aufsah, aber man konnte in ihrem Blick lesen, wie gerne sie das Angebot annehmen wollte. Sie sah zu mir und suchte die Bestätigung, dass es in Ordnung war, sich zu hinzusetzen, deswegen gab ich sie ihr mit einem sachten Nicken. James lächelte und hockte sich neben Katharina, die sich völlig erschöpft auf den Hocker fallen ließ.

Ich stand immer noch auf einem Fleck, schaute mich in der Gegend um, beobachtete, wie die vielen Männer es sich bequem machten, ihre Klappstühle aufbauten, Holz suchten, ihre Waffen nachluden, tranken und ihr Essen zubereiteten. Mein Magen knurrte wie verrückt, doch trotzdem suchten meine Augen stets nach Major Pattons. Über die ganze Strecke war er nicht mehr in meiner oder Katharinas Nähe und das war auch gut. Ich hatte unheimliche Angst vor ihm, weswegen ich hoffte, dass er uns weiterhin aus dem Weg gehen würde.

„Mein Gott, ich habe zwar seit Ewigkeiten nicht mehr so lang geschlafen wie letzte Nacht, aber“ – Theo ließ seinen Rücken knacksen, als er vor seinem Hocker stand – „Irgendwie tat mir das absolut nicht gut.“

Als er sich gerade hinsetzen wollte, unterbrach ihn James im gleichen Atemzug. „Theo, hast du kein Benehmen?“

Theo sieht ihn nur verdutzt an und hält seinen Hintern noch in der Luft.

„Lass Annemarie sitzen, sie ist sehr weit gelaufen.“

Mich überraschte James Aussage, weswegen ich ihn genauso verdutzt ansah.

„Aber ich bin auch weit gelaufen“, protestierte Theo. „Außerdem“ – Er stoppte, weil James ihn finster anstarrte, während er etwas aus seinem Rucksack kramte – „Ist ja schon gut.“ Theo richtete sich schließlich wieder auf und sah von mir zu dem hölzernen, kleinen Hocker…

„Bitteschön.“

„Ich kann stehen“, versuchte ich die Aufmerksamkeit von mir abzulenken, obwohl auch ich unbedingt sitzen wollte. Meine Fußsohlen stachen schrecklich. „Es ist okay für mich.“

„Nein, setz dich ruhig“, meinte Theo und ließ sich zu Boden plumpsen. „Ich wollte sowieso noch ein Nickerchen machen.“

Unsicher sah ich durch die Runde, sah zu Katharina, die einfach traurig zu Boden blickte, dann zu James, der Eier aus einer Box holte und dann zu John, der auf dem Rücken lag und einfach in den tristen Himmel über uns blickte. Ergeben seufzte ich. Ich brauchte diese Erholung einfach.

„Habt ihr Hunger?“, fragte uns James. „Wir haben zwar nicht viele Eier, aber es sollte für alle reichen.“

Katharina und ich nickten stumm und mein Magen knurrte prompt richtig laut. John, der etwas entfernt neben mir lag, richtete sich auf und holte eine Metallbox aus seiner Tasche, schmiss sie James zu, der sie auffing und auf den Boden stellte. Er drehte daran herum und es flammte auf, als er ein Streichholz über das herausströmende Gas hielt.

Als er eine kleine Metallpfanne aus seinem Rucksack holte und dort die Eier aufschlug, wurde mir bewusst, dass das kleine Feuer zum Braten dienen sollte.

„Wie alt seid ihr eigentlich?“, unterbrach James die Stille, während er die Pfanne über die kleine Flamme hielt. Man merkte ihm an, dass er nur Konversation machen wollten, um die Laune nicht auf den direkten Nullpunkt zu bringen. Ab und zu hörte ich Katharina schniefen und ich war mir sicher, ich war nicht die Einzige, die es hörte.

„Katharina, also … Katharina“, erklärte ich leise und spürte alle Blicke auf mir. „Sie ist zwölf. Ich bin Siebzehn.“

„Siebzehn“, wiederholte Theo nickend, als wäre er beeindruckt. „Das war mein bestes Jahr.“ Ich sah ihn an und hoffte, er würde gelassen weiterreden. „Das war das Jahr, bevor die ganze Scheiße hier für uns angefangen hat. Man, ich vermiss das. Das Essen in Amerika fehlt mir. Und die Mädchen. Verdammt nochmal, die Mädchen.“

„Du bist ein schamloser Knecht“, mahnte ihn James. „Wir sind nicht mehr nur unter Männern.“

„Na und?“ Theo zuckte resigniert mit den Achseln. „Ich habe lediglich gesagt, dass mir die Mädchen fehlen, mehr nicht. Nur mit John über meine Sehnsucht zu sprechen, wird auf Dauer echt öde.“

„Weil du nichts zu vermissen hast“, sprach John seit langem wieder ein paar Worte und setzte sich auf, legte seine Unterarme auf seine angezogenen Knie. „Von welchen Mädchen soll die Rede sein? Von der einen, die du mal hattest als du fünfzehn warst?“

James lachte rau und Theo verdrehte die Augen. „Ich hatte nicht nur eine als ich fünfzehn war, klar? Da waren noch viele andere, die ich sehr vermisse.“

„Ach?“

„Ja, Arschloch“, murmelte der vorlaute Blonde, legte sich beleidigt auf den Rücken und verschränkte die Arme. „Wenigstens vermiss ich überhaupt irgendwas.“

John lachte leise vor sich hin und sah auf das Gras, auf dem er saß. „Du armes Schwein.“

„So“, sagte James und nahm die Pfanne von der Flamme. Er schnitt mit einem Messer die Eier auseinander und reichte zuerst Theo die Pfanne, damit er daraus essen konnte. Teller gab es anscheinend nicht, deswegen ließ gewohnheitsmäßig sein Taschenmesser aufschnappen und spießte damit seinen Teil auf, um es in einem Stück in seinem Mund verschwinden zu lassen. James aß währenddessen auch, aber Stück für Stück, seine Portion.

„Jetzt sollte die Pfanne nicht mehr sonderlich heiß sein“, meinte James und übergab Katharina vorsichtig die kleine Pfanne, die diese schnell abnahm und gierig auf das Ei starrte. Er reichte ihr sachte das Messer und passte genau auf, dass sie sich nicht schneiden würde. Seine Sorgsamkeit gefiel mir unglaublich, das brauchte Katharina gerade nämlich am meisten. Ganz langsam wurde mir dieser Mann sympathisch. „Iss langsam, ich weiß nicht, wann es das nächste Mal etwas gibt“, erläuterte James noch, als Katharina die Pfanne auf ihren Schoß legte und bereit war, in das Spiegelei zu stechen.

„Was ist denn das?“, wurde sie von einem Mann unterbrochen, der ihr ohne Frage die Pfanne vom Schoß riss. Es war der, der mich vor unserem Haus gewürgt hatte, sein Gesicht würde ich nie vergessen. Er sah auf das Spiegelei und rotzte auf den Boden neben Katharina, die ängstlich wimmerte, worauf James aufstand.

„Walt, lass sie essen“, sagte er und wollte ihm die Pfanne wegnehmen, doch der besagte Walt hielt sie von ihm weg und drückt die Faust gegen seine Brust.

„Hä, warum denn?“, fragte er gespielt fragwürdig. „Sollten wir nicht zuerst etwas abbekommen? Die beiden haben doch ihr ganzes Leben nichts anderes getan, außer gefressen.“

„Spiel dich nicht auf.“ James wollte erneut nach der Pfanne greifen, doch es war zwecklos, d enn er wollte keinen Streit anzetteln. „Gib ihr die Pfanne wieder und dann verschwinde wieder.“

Ich sah von Walt zu John, der die Situation genau beobachtete. Insgeheim hoffte ich, dass er James unterstützen würde, doch er regte sich nicht. Vor ihm hatte Walt vielleicht etwas mehr Respekt.

„Ziemlich unfaire Scheiße, die hier läuft“, meckerte Walt und griff nach dem Ei, das Katharina essen wollte. Er zerquetschte es in seiner Hand und sagte: „Wenn wir nichts bekommen, bekommen die Weiber hier erst recht nichts, klar?“

James, Theo, John und ich sahen zu, wie Walt die Reste des Eis von seiner Hand schüttelte und dann die Pfanne einfach zu Boden schmiss, genau vor meine Füße, die ich gerade noch so einziehen konnte.

„Pattons wird das nicht gefallen, wenn ich ihm davon erzähle“, warnte Walt und wischte das Eigelb an seiner braunen Jacke ab. „Angebunden sind sie auch nicht. Oh man, ihr seid echt am Arsch, ihr Weicheier.“ Und dann ging er davon, jedoch nicht ohne sich von jedem Mann in dieser Runde einen bösen Blick einzufangen.

„Mann, ich hasse ihn“, sprach Theo als erstes und James setzte sich wieder. „Er stinkt wie‘n Schwein.“

„Mehr haben wir nicht“, sagte James frustriert und stemmte seinen Kopf in seine Hände, sah zu mir. „Es tut mir wirklich leid, Annemarie … Nicht alle denken wie er.“

Ich nickte unglücklich und strich Katharina, die vor Enttäuschung und Hunger weinte, zärtlich über den Kopf, der eine Träne über die Wange lief. „Mir tut es auch leid“, flüsterte ich leise und sprach es zu ihr, aber wahrscheinlich hörte sie mich gar nicht.

Stille breitete sich wieder aus. Wir saßen einfach da, Theo machte zwischenzeitlich ein größeres Feuer, endlich konnte ich etwas trinken und auch wenn unsere Situation wirklich schlimm war, hörte mein Magen einfach nicht auf zu knurren. Katharina litt neben mir und ich konnte ihr nicht helfen, das tat mehr weh, als der schmerzende Magen. Wie lange würde es wohl dauern, bis man uns etwas zu essen gab? Mit jedem Kilometer, den wir zu Fuß zurücklegen mussten, wurden unsere Beine immer weicher, und schwächer.

Als Theo gerade einen Ast ins Feuer warf, landete plötzlich etwas in Stoff eingewickelt vor meinen Füßen und ich blickte in die Richtung, aus der es kam, direkt zu John, der aufstand.

„Teilt es“, sagte er und griff sich seine Handfeuerwaffe, die neben ihm lag. Er sah uns nicht dabei an und sowieso schien es nicht so, als würde er Dank von uns erwarten. „Du und deine Schwester.“ Er steckte die Waffe in seinen Gürtel und drehte sich von uns weg. „Wir können es nicht riskieren, dass irgendwer unterwegs zusammenklappt. James, gib ihnen noch etwas zu trinken und …“ Kurz sah er zu Katharina, dann zu mir, beendete den Blickkontakt aber auch schnell wieder. „Ich spreche mit Pattons.“

Als er sich entfernte, sahen wir ihm alle hinterher und ich konnte nicht in Worte fassen, wie unerwartet diese Tat war. Von ihm hatte ich in dieser Runde am wenigsten mit Beistand gerechnet. Ja, er hatte anfangs vor Katharina und mir gestanden, uns vor Major Pattons beschützt, doch nach unserem Gespräch war ich mir eigentlich sicher, dass er keiner war, der sich um andere kümmerte. Ich dachte er sei einer von Denen die nur ihre eigene Haut retten wollten.

Ich griff nach dem Stoffklumpen und wickelte den Faden darum herum auf, woraufhin sich ein halber leib Brot zeigte. Es war wie ein Geschenk des Himmels.

Theo legte sich wieder auf den Rücken, während ich Katharina etwas von dem Brot abriss. „Damit hätte er auch mal früher rausrücken können“, meinte Theo. „Er versteckt echt alles. Ich will gar nicht wissen, wie viel Proviant er noch in seiner Tasche vor uns verheimlicht, weil er keinen Bock auf Teilen hat.“

„Du weißt, dass er nicht so ist“, sagte James streng und stocherte in dem Feuer herum. „Also sprich nicht so über ihn.“

„Trotzdem ist er ein Eigenbrötler und manches an seinem Verhalten ist sehr fragwürdig, meiner Meinung nach.“

Ich musste Theo irgendwie Recht geben, auch wenn ich mich niemals in das Gespräch eingemischt hätte. Viel mehr war ich mit dem Kauen des trockenen Brotes beschäftigt.

James reichte mir seine Wasserflasche, so wie John befohlen hatten und ich übergab sie Katharina, die hastig trank. „Er ist nicht immer so … ernst“, erklärte James uns zu. „Ich denke, er braucht einfach eine Weile, bis er sich an die Situation gewöhnt hat.“

„Das kann Jahre dauern“, lachte Theo, was mich die Stirn runzeln ließ.

„Wieso?“, fragte ich mit vollem Mund.

„Nun ja“, sagte James nachdenklicher, stützte sich auf seine Knie. „Ich wage zu behaupten, dass ihn die Krankheit des Krieges am meisten erwischt hat.“

Theo verstummte, schürzte nur die Lippen, mich stutzig werden ließ. Die Krankheit des Krieges? Was sollte das bedeuten?

„Er hat sich sehr verändert“, erklärt James weiter, weil er wohl merkte, dass ich mit seiner Aussage nichts anfangen konnte. „Wir alle haben uns verändert, aber bei ihm ist es ziemlich radikal. Dennoch, dafür musste man ihn früher kennen, um das einschätzen zu können.“

Ein Nicken von Theo bestätigte dies. „Manchmal ist es eben besser, noch irgendeine Sehnsucht zu haben. Dieses arme Schwein.“

Niemand sprach daraufhin, sogar Katharina hatte aufgehört zu weinen. James versuchte ab und zu mit ihr zu sprechen, doch es fiel ihm schwer, da sie kaum Englisch sprach und es gleichzeitig dadurch auch wenig verstand. Sie verstand etwas mehr, als sie sprechen konnte, das hatte sie in den wenigen Englischstunden gelernt, die unser Vater uns zu Hause gegeben hatte. Ich mochte es, dass James so nett mit ihr umging, ich hoffte, er konnte mir mit Katharina helfen. Schließlich könnte es Situationen geben, in denen ich nicht bei ihr sein dürfte.

Ich starrte in die Flammen und stellte mir vor, was uns noch alles erwartete. Es waren viele Szenarien in meinem Kopf, mit keinen von ihnen konnte ich mich anfreunden und doch am wenigsten konnte ich mich damit abfinden zu sterben. Ich hing am Leben, und wollte unbedingt mit Katharina diese Tortur überstehen. Irgendwie würde ich das schaffen. Mein Kampfgeist war erwacht. Ich würde alles dafür tun, um mit meiner Schwester weiter auf dieser Welt zu bleiben. Das schwor ich mir in dem Augenblick, als die Flamme der kleinen Feuerstelle erlosch. Ich dachte an meine Mutter und wie wenig Zeit mir blieb, an sie zu denken. Sie wurde erschossen und ich hatte mit Katharina noch nicht darüber gesprochen, geschweige denn selbst viel darüber nachgedacht. Es tat unglaublich weh, mich daran zu erinnern, wie sie ihre Leiche die Treppe von unserer Terrasse runtergezerrt und einfach hinter unser Haus schmissen. Und genau deswegen erlaubte ich mir nicht, mich daran zu erinnern. Zeit zum Trauern hätten wir noch später.

Ich schaute auf mein rotes Haarband, das um meinen Unterarm gewickelt war. Es war eine weitere Erinnerung. Ich durfte es niemals verlieren. Dieses Band war mir schon immer von enormem Wert, doch niemand kannte die Geschichte dazu. Es ist mein Talisman und hilft mir. Nur das ist wichtig.

„Mädchen“, holte mich eine männliche Stimme aus meinen Gedanken. Ein Mann, ich hatte ihn in der Truppe bereits gesehen, sah mich an. Er hielt ein Seil hoch. „Ich muss dich zu Major Pattons bringen, er will dich sehen.“

„Warum?“, sprach James die Frage in meinem Kopf aus und mein Herz klopfte auf Anhieb schneller, weil die Angst meinen Körper einnahm.

„Ich weiß es nicht“, antwortet der Mann packte mich am Handgelenk und zog mich vorsichtig auf die Beine. Er passte dabei auf, dass er nicht an die aufgescheuerten Stellen kam und zog mich am Handgelenk auf die Beine. „Er sagte, er will sie sehen. Um ehrlich zu sein, widerstrebt es mir, ihn nach seinen Beweggründen, weil ich noch ein paar Jahre leben will.“

James und Katharina sahen vom Boden aus zu, wie er mir mit dem Seil die Hände wieder zusammenband. Die frischen, offenen Wunden brannten wie Feuer.

„Tut mir leid, ich muss das tun“, sagte der Mann mitleidig zu mir und sah mir in die Augen. Sie waren dunkel, fast schwarz. Er hatte sich lange Zeit nicht rasiert, seine Haut war schmutzig und eine Narbe war über seiner Oberlippe zu erkennen. Etwas spiegelte sich in seinen Augen, das ihn nett aussehen ließ. Er nahm das Stück Seil, das lose von meinen Händen herunterhing und zog mich in seine Richtung, als wäre ich ein Tier, das abgeführt wird.

Ohne Widerworte folgte ich dem Amerikaner und schaute nochmal zurück zu Katharina, die leise meinen Namen sagte. Ich lächelte ihr beruhigend zu, als Zeichen, dass gleich nichts Schlimmes passieren würde, obwohl ich das selbst nicht einschätzen konnte. In Momenten wie diesen, konnte ich gar nichts einschätzen.

Ich wurde zu einem etwas größeren Zelt geführt, das extra für Major Pattons aufgebaut worden war und der Mann, der das Seil, das um meine Hände gebunden war, hielt, blieb stehen und drehte sich seufzend zu mir um.

„Nicht alle sind wie er“, sagte er leise, anscheinend sollte es niemand hören, denn er drehte sich vorsichtig um, sah dann wieder zu mir. „Ich heiße Javad.“

In der Anspannung, in der ich mich befand, konnte ich nicht einmal sein Lächeln erwidern, stattdessen nickte ich nur, als Danke dafür, dass er sich mir gegenüber so nett verhielt. Namen von diesen Männern zu kennen, machten sie mir vertrauter und ich fühlte mich nicht mehr so, als wäre ich nur unter namenlosen Fremden, denen ich alle Untaten zutraute.

Javad drückte mich sanft zum Zelteingang, lächelte mir ein letztes Mal aufmunternd zu und ich atmete tief ein und aus, bevor ich das Laken zur Seite schob und das Zelt betrat. Ich würde das hier überstehen, ich würde alles ganz bestimmt überstehen.

Major Pattons stand an einem Tisch und John, der weiter in der Ecke des Zeltes stand und die Arme verschränkt hielt. Die Stimmung schien angespannt zu sein, denn ihre Mienen zeigten, dass sie sehr gereizt waren.

„Herkommen“, begrüßte Major Pattons mich unfreundlich und lehnte sich über den Tisch. „Oder glaubst du, du bist hier zum Spaß?“

Zum Spaß war ich hier nicht mal ansatzweise, diese Frage hätte er sich selbst beantworten können. Deswegen versuchte ich meine Furcht zu kontrollieren und ging mit zitternden Schritten in seine Richtung. John beobachtete mich ganz genau und ich war froh, dass er hier war. Ich wusste, er war besser als Major Pattons und würde vielleicht eingreifen, wenn mich der Major zu grob anpacken würde. Aber nur vielleicht, ich war mir nicht hundertprozentig sicher.

Pattons braune Augen musterten mich scharf, als ich vor dem Tisch zum Stehen kam. Es fiel mir schwer, seinem Blick standzuhalten. Ich begriff, dass er mit mir über den weiteren Verlauf des Weges sprechen wollte und in diesen Momenten musste ich Stärke beweisen und versuchen, mich nicht zu verraten.

„Wie war dein bisheriger Weg?“, fragte er mich nach einer Weile unddu seine Stimme war provokant. „Hast du Schmerzen? Tun dir die Füße weh?“

Ich antwortete nicht darauf, sah ihm nur stetig in die Augen. Alles könnte ein Fehler sein.

Major Pattons Kopf neigte sich. „Oder hast du Heimweh? Vermisst du deine Eltern? Deine Mutter?“

Bei dem Gedanken an sie, zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen und deswegen sah ich zu Boden, um den Schmerz nicht in meinen Augen zu spiegeln. Ja, ich hatte Heimweh und ja, ich vermisste meine Eltern. Großer Gott, und wie!

Der Major lachte auf und stellte sich aufrecht hin. „So elendig schwach, es ist immer wieder zum Totlachen. Nicht wahr, Montgomery?“

Ich sah leicht auf, um John anzusehen, der angesprochen wurde. Er sagte nichts darauf, sah Major Pattons nur resigniert an und beobachtete die Situation weiter.

„Wie auch immer.“ Pattons krempelte die Ärmel seines Pullovers hoch und zeigte schließlich auf einen Punkt der Karte, die am Tisch lag. „Hier sind wir. Siehst du das?“

Ich schaute auf die Karte und nickte. Er tat so, als rede er mit einem dummen Kind.

„Aber siehst du noch etwas?“

Ich runzelte die Stirn, verstand nicht, was er meinte.

Pattons kniff die Augen etwas zusammen und strich mit seinem Daumen von einem Punkt zu einem anderen der Karte, dort war es blau. „Sieh genau hin, dummes Mädchen.“

Ich verstand sofort, was er meinte und traute mich leise zu sagen: „Ein Fluss.“

„Richtig, ein Fluss“, widerholte er in gefährlich leisem Ton. „Sagtest du nicht, du kennst den Weg?“

„Ich kenne den Weg“, hauchte ich und mein Puls ging gefährlich schnell, weil er mich so einschüchterte. Vor Nervosität rieb ich meine Gelenke gegeneinander, was einen brennenden Schmerz verursachte durch das Seil darum.

„Das heißt du führst uns mit Absicht zu einem Fluss?“, fragte Major Pattons knurrend. „Ist das so?“

„N-Nein“, sagte ich kleinlaut und ging einen ganz kleinen Schritt zurück, mein Körper tat es instinktiv. „Ich wusste nicht, dass dort ein Fluss ist.“

„Du wusstest nicht, dass dort ein Fluss ist? Wie kannst du das nicht wissen, wo du doch den gottverdammten Weg kennst?“ Er war kurz davor zu schreien.

Seine laute Stimme ließ mich zusammenzucken und ich ballte meine Fäuste. Ich durfte nicht einknicken, ich musste jetzt stark sein. Unauffällig atmete ich tief durch und dann fasste ich neuen Mut. „Ich kenne den Weg“, sagte ich daraufhin mit sicherer Stimme und blickte von der Karte direkt in Major Pattons giftspuckende Augen. „Ich hatte vergessen, dass wir unterwegs einen Fluss kreuzen, es tut mir sehr leid.“

Er schüttelte abschätzig lachend den Kopf. „Du hattest es vergessen. Weißt du überhaupt, was es bedeutet einen Fluss zu kreuzen?“

Ich dachte schnell. „Es bedeutet, dass wir ihn überqueren oder umgehen müssen.“ Unsere Blicke hielten sich fest.

„Du liegst richtig“, sagte Pattons und kaute konzentriert auf irgendetwas herum.

Wahrscheinlich war es eine Angewohnheit, die er unbewusst machte, wenn er gereizt war. „Wir müssten zig Kilometer laufen, um ihn zu umgehen. Glaubst du, das wäre sinnvoll?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Also.“ Er umgriff mit seiner rechten Hand ein Messer, das auf dem Tisch lag und ich versuchte Ruhe zu bewahren. Ich redete mir ein, dass er mir nur Angst machen wollte. „Das bedeutet, wir werden den Fluss überqueren. Der Fluss ist groß, Annemarie.“ Er wusste also meinen Namen. Er ging um den Tisch herum, kam langsam auf mich zu und blieb neben mir stehen, betrachtete mich von oben wie ein Museumsstück. „Es könnte gefährlich werden.“ Mir lief ein Schauer über den Rücken, als er grob nach meinen Handgelenken griff und sie zu sich riss, um mit einem Schnitt die Seile zu durchschneiden.

Mein Körper wollte sich von ihm entfernen, doch er hielt meine Unterarme noch in seinen schmutzigen Händen und blickte darauf.

„Oh“, sagte er, als er meine blutigen Gelenke sah. Ein böses Lächeln verzog seine Lippen und jetzt, wo er mir so nahe war, fielen mir neben der langen Narbe auf seiner Glatze auch Brandnarben auf. Es sah grauenvoll aus. „Du musst Schmerzen haben.“

„Hören Sie auf“, ertönte Johns Stimme im Hintergrund, der seine Arme auseinandernahm und Major Pattons streng er ansah. „Verbrauchen Sie nicht ihre Kraft.“

Er wurde ignoriert. Major Pattons strich mit seinen Fingern über meine offenen

Wunden und es zog ganz leicht, sodass ich aufzuckte. „Es wird deine Schuld sein, wenn meine Männer auf dem Weg sterben“, sprach er und legte sein Messer weg, was mich innerlich aufatmen ließ. „Ich will, dass du das nicht vergisst.“

Ich wollte etwas sagen, klagen, weinen, irgendetwas, traute mich aber nicht.

„Deswegen wirst du die Schuld jetzt schon spüren.“ Und dann drückte Major Pattons mit enormer Kraft seine Daumen auf die offene Haut an meinem Puls.

Ich schrie reflexartig laut auf, wegen des qualvollen Schmerzes. Ich wollte nicht, dass Katharina mich hörte, deswegen versuchte ich die Zähne zusammen zu beißen und dagegen anzukämpfen, es gelang mir nur schwer, vor allem, als der Major fester drückte.

„So fühlt sich Schuld an“, redete er auf mich ein, während ich die Kraft in meinen Knien verlor und mich gerade noch so halten konnte. Ich konnte ihm kaum zuhören, so heftig war der Schmerz. „Fühlt es sich gut an? Hm? Fühlt es sich gut an schuldig zu sein?“ „Hey!“, schrie John, kam einen Schritt auf uns zu, schritt jedoch nicht direkt ein.

Ich sank auf die Knie, als Pattons noch fester zudrückte und es mir langsam die Tränen in die Augen trieb.

„Du wirst noch spüren, was es heißt eine verräterische Deutsche zu sein“, zischte er mir zu und mir wurde klar, dass das hier gerade erst der Anfang war, so schmerzvoll es auch sein mochte. „Miststück.“ Er ließ meine Gelenke los und ich fiel auf mein Gesäß.

Schwer atmend sah ich auf meine wunden Handgelenke, die nun noch mehr bluteten als vorher. Sie pochten heftig, es war kaum zu beschreiben. Das war bisher der schlimmste Schmerz, den ich je erleiden musste. Ich hatte Angst, dass es mehr werden würde.

Ich blickte erst wieder auf, als ich sah, wie John sich vor mich auf den Boden kniete und – ohne meinen Gelenken zu nahe zu kommen – meine Unterarme in die Hand nahm, um sie anzusehen.

„Ich schwöre dir“, sagte Major Pattons, der mich ein letztes Mal warnend von oben betrachtete, „für jedes Mal, wenn einer auf dem Fluss stirbt, wirst du leiden. Auf welche Art und Weise, werde ich mir noch überlegen.“ Er setzte sich auf den Hocker hinter dem Tisch. „Und jetzt bring sie weg.“

Es fiel mir schwer, seinen Worten zu folgen. Ich konnte mich geradeso auf John konzentrieren, der mir auf die Beine half.

Ich wollte mich bei ihm bedanken, aber mein Kreislauf war noch nicht ganz bei der Sache, weswegen ich nach vorne stolperte. Schnell wurde ich von John gestützt, der mich an den Schultern hielt und mich prüfend betrachtete.

„Komm“, sagte er, nachdem er sicherging, dass ich stehen konnte. Er drückte mich zum Ausgang und sah zurück zu Major Pattons, der ihm nur einen vernichtenden Blick zuwarf.

Als ich vor dem Zelt stand und auf meine blutigen Handgelenke sah, musste ich schon wieder würgen, hatte aber sowieso keinen Mageninhalt mehr.

„Geht … „, brachte ich leise heraus, als mir noch einmal schwindelte und und John mich, der gerade hinter mir aus dem Zelt kam, am Unterarm packte. „Es geht schon.“

Ohne auf meine Worte zu hören, zog er meine Arme zu sich und sah auf meine Gelenke. Ich beruhigte mich langsam und war froh, endlich Major Pattons weggeschickt worden zu sein.

„James wird sich das ansehen“, sprach John mit ruhigem Ton und das erste Mal hatte ich das Gefühl, er sprach mit mir wie mit einem normalen Menschen. Er dreht meine Hände, sodass die Innenflächen nach oben zeigten. Dann hob er seinen Kopf und sah mich an. „Du musstest anscheinend noch nie Schmerz aushalten.“

Ich sah nach oben in seine Augen und mir fiel auf, dass sie grün waren. Sie hatten ein paar schwarze Sprenkel darin, doch hauptsächlich waren sie grün. Ich fand nichts, womit ich sie hätte vergleichen können, aber mir gefiel dieses grün. Als Antwort auf seine Aussage schüttelte ich den Kopf, weil ich keinen Ton herausbekam. Die Tatsache, dass er mir half, durchströmte mich mit Erleichterung. Ich wusste nicht, mit der Situation umzugehen. „Kannst du alleine laufen?“, holte mich John aus meiner Starre, in der ich nichts anderes tat, außer seine tiefgrünen Augen zu betrachten.

Ich nickte, ohne zu antworten und dann ließ er mich vorsichtig los, achtete trotzdem darauf, dass er mich hätte halten könnte, falls ich fiel.

Als ich ihm zu James folgte, fragte ich mich, ob ich wirklich so überrascht darüber sein sollte, dass er mir half. Er sprang schon gestern Abend für Katharina und mich ein, als Major Pattons uns erschießen wollte. Dann hat er mir in der Nacht erlaubt zu flüchten, ohne mich zu verraten und dann gab er Katharina und mir sein Brot und nun half mir erneut. Wieso also war ich so überrascht? War es seine allgemeine Erscheinung? Ich konnte es mir nicht erklären.

„Du meine Güte, was ist passiert?“, fragte James sofort, als er mich hinter John sah und wir am Feuer ankamen. Er stand auf und nahm sachte meine Unterarme zwischen seine Finger. „Oh nein, das ist tief.“

„Anne“, hauchte meine Schwester leise und sah auf meine blutigen Handgelenke. Sie wirkte wieder so traurig und das war genau das, was ich nicht wollte. Ich wünschte, sie müsste das hier nicht sehen.

„Es ist okay, mach dir keine Sorgen“, sagte ich und versuchte, für sie stark zu klingen. „Wirklich. Es ist okay.“

John ließ sich auf die Wiese sinken und strich sich mit den Händen durch das Gesicht, als würde ihn etwas frustrieren. „James, es wird Zeit zu beten.“

James zog mich vorsichtig auf einen Hocker und kniete sich vor mich, holte einen kleinen Metallkoffer aus seinem Rucksack. „Wieso gerade jetzt?“, fragte er John, während er ein Tuch in Wasser tunkte.

Ich sah zu John, als er sagte: „Weil wir beten sollten, dass ich ausraste und Pattons noch einen Tag überlebt.“

Theo, der bis eben schlief, richtete sich auf und rieb sich ein Auge. „Was? Dreht John wieder durch?“

„Ich drehe nicht durch“, erwiderte John sofort mit tieferer Stimme. „Dieser Mann ist pures Gift für die ganze Truppe. Unser Platoon wäre besser ohne ihn dran.“

Seufzend tupfte James das Tuch auf meine Wunden, was mich aufzischen ließ. „Du weißt, wie ich darüber denke, John“, sagte er dabei und mit einem Mal wirkte er erschöpfter. „Außerdem sind wir nicht mehr nur unser Platoon, vergiss das nicht.“

John schnaubte auf und sah zum Waldrand hin, der sich am Rand des weiten Feldes entlangzog. Leise murmelte er: „Wären wir, wenn Pepper noch hier wäre.“

Ruckartig hob Theo den Kopf und auch James hielt in seiner Bewegung inne und verkrampfte sich.

„Was hast du gesagt?“, fragte Theo ihn und er klang ungewohnt bitter. Sein Ausdruck war alles andere als gelassen.

John reagierte nicht darauf, weswegen James zu Theo sprach: „Theo. Nicht jetzt.“

„Nicht jetzt?“, zischte Theo und der Blick, den er John zuwarf, konnte einem fast schon Angst einjagen. „Du glaubst, es wäre anders, wenn er noch hier wäre? Du denkst wirklich, du darfst so was aussprechen? Du verdammter …“

„Theo“, unterbrach ihn James harsch und er drückte meinen Arm unbewusst fester. „Was soll das werden? Reiß dich zusammen.“

Dieser Streit verwirrte mich und ich sah von Theo zu John, der Theos Blick auswich und stattdessen angespannt in die Ferne schaute. Irgendetwas schien passiert zu sein, doch ich konnte mir nicht ausmalen, was genau. Es ging mich auch gar nichts an.

„Fickt euch“, keifte Theo und stand wutgeladen auf. Er nahm sich seine Handfeuerwaffe und rempelte John mit seinem Knie an, als er an ihm vorbeiging. „Ich geb‘ mir diesen Mist nicht jeden verdammten Tag.“

Mein Herz pochte wilder, während ich Theo hinterher sah, der sich unter eine kleine Gruppe Männer mischte, die bei Kartenspiel saßen. War denn das? Was hatte diese beiden jungen Männer dazu gebracht, so aufeinander loszugehen?

Nach einer kurzen Stille, in der James Verbände um meine wunden Gelenke wickelte, wendete er sich wieder an John, der immer noch stumm mit angewinkelten Knien im Gras saß und mit zusammengeschobenen Brauen auf einen Fleck starrte. „Du weißt, dass er noch sehr empfindlich ist“, mahnte James ihn. „Provozier es nicht ständig.“

Erneut reagierte John nicht darauf, was mich verwunderte. Ich konnte seine Person nicht einschätzen. Immer wieder stellten ihn andere als jemanden dar, den man irgendwie kontrollieren musste, weil er es selbst nicht schaffte. Dabei kam er mir gleichzeitig aber wie jemand vor, der hilfsbereit und verlässlich war. Er war kein Mann, der viele Gefühle zeigte, das hatte ich schon letzte Nacht bei unserem kurzen Gespräch gemerkt und deshalb fiel es mir schwer, ihn in meinem Kopf als jemanden einzuordnen, dem ich vertrauen konnte, so wie James. Oder sollte ich ihm lieber aus dem Weg gehen?

Ich bemerkte, dass ich ihn wieder zu lange angestarrt hatte, als Katharinas Blick auf mir brannte, die unglücklich meine nun verbunden Gelenke betrachtete. Ich seufzte. „Katharina, schau nicht so. Es ist alles gut.“

Sie jedoch schüttelte den Kopf und nahm widerwillig den Blick von meinen Händen. „Nichts

ist gut.“

„Doch“, versuchte ich es weiter. „Mir geht es gut und das ist das Wichtigste. Du hast da noch Brot liegen. Iss es.“

Natürlich verstand James nicht, was wir sprachen, denn wenn ich mit ihr sprach, dann auf Deutsch. Deswegen fragte er mich unsicher: „Sie macht sich Sorgen um dich, richtig?“

Verzweifelt nickte ich und sah zu Katharina, die ihr Brot aß. „Ja … Sehr. Ich wünschte, ich könnte es ihr ein bisschen leichter machen und ihr die Angst abnehmen.“

James sah zu ihr und rückte ihr näher. „Das will man immer.“

Sanft lächelte ich, auch wenn es wahrscheinlich das traurigste Lächeln war, das je auf meine Lippen gekommen war. James war gut. Seine Hilfe würde ich ihm niemals vergessen.

„Ich, ähm“, sagte ich trotzdem noch und wurde direkt nervöser. „Aber eine Sache gibt es noch.“

James sah mich fragend an und ich fühlte mich unwohl.

„Also ich“, brachte ich unsicher hervor und schluckte. „Es wäre wirklich nett, wenn ich … Also mal irgendwo auf die Toilette könnte.“

James lachte ein bisschen und sogar John hörte ich leise feixen. James stand hilfsbereit auf. „Kein Problem, ich denke, im Wald ist genug Platz. Komm mit.“

Doch ich sah schnell von James zu John, dann wieder zu James. „Aber, ähm, könnte, also – Könnte John mit mir kommen?“

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie John den Kopf hob und auch James wirkte überrascht.

„John?“, fragte er nach und blinzelte. „Ich meine, ähm, klar. Oder, John?“

Ich sah total verunsichert zu John, der mich mit gerunzelter Stirn ansah. „Klar …“, lautete jedoch seine Antwort, auch wenn er selbst noch etwas durcheinander schien. „Warum auch immer.“

Ich wusste genau, warum.

Einer von ihnen

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